2. Der große Gegenspieler: Die
Lust und das Glücksempfinden
Wenn wir von Lust sprechen, merken wir sehr schnell, wie komplex dieser Begriff ist und wie breit der Übergang zu stiller Freude ist: von tiefer freundschaftlicher Verbundenheit bis zu ekstatischer sexueller Lust, vom Getrieben-Sein nach immer stärkeren Erlebnissen im Bereich sportlicher Erfahrungen (z. B. Sky-diver) bis zur ruhigen Beschaulichkeit, wenn wir z. B. das Aufwachsen von Kindern oder Enkelkindern sehen und begleiten. Auch die Lust, die durch Lernprozesse wie z. B. Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen oder auch Fußball-Spielen entsteht, fügt sich hier ein.
Lust ist das zentrale beherrschende Thema in unserer modernen Gesellschaft, auf das viele Aktivitäten abzielen, sobald die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind. Und so gibt es kaum einen Bereich, kaum eine Form von Lust, die hier nicht zu finden wäre.
Wie also eine Ordnung in diese verwirrende Vielheit bringen? Eine Möglichkeit ist, die Lust ohne (oder sehr geringem) Risiko von der Lust mit hohem Risiko zu unterscheiden. Oder eine ähnliche Einteilung vom Faktor der inneren Erregung, die Lust mit geringer innerer Erregung (beschauliche Lust) von der mit hoher Erregung (ekstatische Lust) zu trennen.
Doch schauen wir uns zunächst mal an, was in unserem Gehirn und Nervensystem passiert, wenn Gefühle der Lust bzw. Glücksempfinden auftauchen.
2.1. Neuropsychologische Aspekte der Lust
Hirnphysiologisch lassen sich verschiedene Formen der Lust unterscheiden. Bianca Wittmann vom University College London konnte 2008 zeigen, dass alle Formen der Lust, die mit Risiko verknüpft sind, sehr stark von einem entwicklungsgeschichtlich alten, tiefliegenden Hirnbereich, dem Striatum gesteuert werden. Allerdings zeigten sich hier bei den Probanden große Unterschiede, in welchem Maß sich das Striatum durchsetzen konnte. Dies hatte zum einen mit der Ausprägung der Verknüpfung des Striatum mit den diversen Belohnungssystemen im Gehirn zu tun, zum anderen, in wieweit die verschiedenen Bereiche des Frontalhirns, eine evolutionär eher junge Region seinen Einfluss geltend machen konnte. Diese Unterschiede haben wohl wieder mit sehr frühen Prägungen zu tun. Wenn also sehr früh und sehr stark lustvolle Erfahrungen tabuisiert bzw. bestraft werden, bekommen diese Kontrollzentren mehr Gewicht und können lustvolle Erfahrungen schneller und gründlicher unterbinden. Bestimmte Zentren des Frontalhirns haben dann unter anderem eine verstärkte Aufpasserfunktion und wägen alle Entscheidungen nochmals ab. So z. B. der dorsolaterale und orbitale Präfrontalkortex. Das bedeutet, dass Lust nicht einfach „da ist“, sondern in vielen Fällen und bei verschiedenen Menschen einen komplexen Prozess zu durchlaufen hat. Spontaneität bzw. spontane Lust wird bei stark geprägten Kontrollzentren immer schwieriger. Dabei werden die unterschiedlichsten Gründe und Erfahrungen abgewogen, bevor es zu einer Entscheidung kommen kann. Dies bleibt allerdings überwiegend vorbewusst und in den meisten Fällen unbewusst.
2.2. Sind neurophysiologisch gesehen Angst und Lust
wirklich so starke Gegensätze?
Wir können des weiteren davon ausgehen, dass der Lust-Transmitter schlechthin, das Dopamin, eine zentrale Rolle spielt, wenn wir in irgendeiner Form mit Lust in Kontakt kommen. Doch nach Untersuchungen der University of Michigan (2008) muss man mit dieser Aussage vorsichtig sein, denn es scheint auch Situationen zu geben, in denen Dopamin anders, ja zum Teil gegensätzlich wirkt. Das scheint abhängig von dem Einfluss anderer Transmitter wie z. B. DNQX (Dinitroquinoxalin) im Bereich des Nucleus accumbens zu sein. Das aber bedeutet, dass Angst und Lust neurophysiologisch sehr eng bei einander liegen und zum Teil von gleichen Neurotransmittern in unterschiedlicher Verknüpfung initiiert werden. Dopamin scheint eine Gewichtung mancher Signalquellen im Zusammenspiel mit anderen Neurotransmittern vornehmen zu können. Wenn z. B. frühe Bestrafungen auf lustvolle Erfahrungen zu einer Konstanten im Gehirn wurden, kann Lust kaum spontan entstehen oder sehr leicht in beängstigende Gefühle umschlagen.
Interessant ist dies im Bereich sexueller Störungen, sowie dem gesamten Suchtbereich, denn Alkohol und auch andere Drogen können die Kontrollzentren außer Kraft setzen.
Aber gleichzeitig bleiben noch viele Fragezeichen, wieso es in ähnlichen Fallsituationen individuell doch zu unterschiedlichen Reaktionen kommt.
Relativ neu (2016) ist eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München an Mäusen: Hier zeigt sich, dass das Neurohormon Urocortin-3 (Ucn3) in der Amygdala einen wesentlichen Einfluss auf das Sozialverhalten der Tiere hat. Ob sie sich eher zurückziehen und wenn überhaupt nur Kontakt zu bekannten Tieren aufnehmen oder ob sie aktiv, lustvoll oder sogar aggressiv auf andere, unbekannte Tiere zugehen, hängt davon ab, wie stark Ucn3 im Bereich der Amygdala aktiv ist, was wiederum heißt, dass es sich aktiv an das Rezeptorprotein Crfr2 bindet. Hier gibt es noch einiges zu erforschen, warum und in welchen Zusammenhängen neue Wirkmechanismen entstehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Komplexität der wechselseitigen Einflussnahme selbst kleinster Mengen von Neurotransmittern klare eindeutige Aussagen über die hormonelle Beeinflussung von Gefühlen nicht möglich macht. Die individuelle Prägung durch Gene, Epigenetik und Erfahrung lässt nur in einem groben Maß gültige Aussagen zu und zeigt, dass kein Mensch mit einem anderen vergleichbar ist, wenn man sich auf dieser differenzierten Ebene befindet.
Nach diesem kleinen (für einige eher nicht so leicht lesbaren) Ausflug in die Hirnphysiologie geht es nun wieder zurück in das praktische Erleben.
2.3. Abenteuer- bzw. Angst-Lust und Impulsivität
Hier kommt nun die Kategorie Impulsivität ins Spiel: auch hier sind die wissenschaftlichen Aussagen sehr weit gefächert und zum Teil gegensätzlich. Schon Eysenck begann 1964 Impulsivität in seine 2-Faktoren-Theorie einzuordnen. Später (1993) unterschied er zwischen Impulsivität im engeren Sinne und „Venturesomeness“ – also Abenteuerlust. Ohne auf diese seit damals anhaltende und sich immer mehr ausdifferenzierende Diskussion genauer einzugehen, kann man davon ausgehen, dass jene Formen der Abenteuerlust, die ein hohes Risiko in sich bergen, eher mit starker Impulsivität einhergehen. So unterscheidet Dickman (1990) zwischen funktionaler und dysfunktionaler Impulsivität, was man genauso für die diversen Formen der Abenteuerlust sagen kann.
Mir erscheint es auf Grund dieser Faktenlage sinnvoll, den Begriff der Lust den Zuständen mit hoher neurophysiologischer Erregung zuzuordnen und die Bereiche von Glück und Zufriedenheit mit niedrigerer physiologischer Erregung zu verknüpfen. Wobei es wichtig ist zu sehen, dass es einen breiten Bereich des Übergangs zwischen diesen beiden Bereichen gibt, in dem es schwierig ist, klar zu benennen, ob es sich um Glück und/oder Lust oder sogar um Angst-Lust handelt. Man könnte in diesen Übergangsbereichen auch von „Wagnislust“ und „Glückslust“ sprechen, um die Tendenz klarer zu machen.
Damit wird deutlich, dass Lust ein sehr aufgeladenes, aktives und damit eher instabiles Verhaltens- und Erlebnismoment ist, während Glück zwar ebenfalls ein energetisch starker, aber trotzdem mehr ruhender und damit stabilerer Zustand ist.
2.4. Glücks-Lust, was ist das eigentlich?
Wenn wir den großen Bereich von Glück und Lust betrachten, sind die Untersuchungen und Hypothesen des ungarisch-amerikanischen Glücksforschers M. Czikszentmihalyi ein wichtiger Gegenstand der Betrachtung: in seiner Flow-Theorie vertritt er die Meinung, dass wir alle nach Glück (Glücks-Erleben) suchen. Er beschreibt den Flow als einen Zustand höchster Zufriedenheit und Ausgeglichenheit sowie in der Folge eine stabile, selbstsichere Persönlichkeitsempfindung. Nach der bisherigen Diskussion muss man den „Flow“ mehr dem Bereich des Glücks zuordnen, wenngleich manche Zustände, die Czikszentmihalyi beschreibt, schon in Richtung (ruhiger) Lust tendieren. In Diskussionen mit buddhistischen Mönchen hat er zugestimmt, den Flow in der Nähe von meditativen Erfahrungen zu sehen.
Interessant sind in diesem Zusammenhang Berichte von Männern die sich intensiv auf Tantra-Übungen eingelassen haben. Tantra ist eine alte indische Yoga-Praxis, die sich speziell der Sexualität zuwendet – die sexuelle Energie wird als möglicher Weg zur Erleuchtung gesehen. Ein Ziel im Tantra für Männer ist es, den Orgasmus (und damit den Samenerguss) – also die pure hoch erregte Lust solange hinaus zu zögern, bis er nicht mehr stattfindet, aber es statt dessen zu einem stark meditativen, beglückenden und damit ruhigerem Erleben kommt, also quasi die...