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E-Book

Das ist doch gar nicht dein Vater!

Eine europäische Spurensuche

AutorJack-Peter Kurbjuweit
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783752863611
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
1945 im Flüchtlingslager Watenstedt-Salzgitter geboren, erfährt Jack-Peter Kurbjuweit im Alter von 13 Jahren, dass sein leiblicher Vater Pietro Dolcetti heißt und ein Grieche mit italienischen Wurzeln ist. Erst 1996, im Alter von 50 Jahren, beginnt er, nach diesem Mann zu suchen, und kommt so in Kontakt mit seiner in Athen lebenden Familie. Er trifft seinen Vater, der bald darauf stirbt. Von seinem Onkel Takis erfährt er viel über seine Vorfahren und das Schicksal der Brüder Pietro, Nikos und Takis als NS-Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs im Sudetenland. Persönliches Schicksal und Zeitgeschichte verbinden sich zu einem spannenden Bericht. Zahlreiche Fotos dokumentieren die Spurensuche nach der eigenen Herkunft.

Jack-Peter Kurbjuweit, Jahrgang 1945, aufgewachsen in einem Flüchtlingslager in Niedersachsen, ausgebildeter Starkstromelektriker, hat nach gewerkschaftlichem Studium als Gewerkschaftssekretär gearbeitet, er war und ist immer noch politisch aktiv. 1996 begann er, etwas über seinen leiblichen Vater herauszu?nden. Das Ergebnis seiner Suche dokumentiert er in diesem Buch.

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Leseprobe

Kapitel 1
Meine Kindheit im Lager Watenstedt-Salzgitter


Das Lagergelände

Ich wurde im Oktober 1945 in Watenstedt-Salzgitter geboren. Meine ersten zwölf Jahre habe ich im dortigen Flüchtlingslager verbracht. Das Lager bestand bis in die sechziger Jahre. Es wurde Zug um Zug aufgelöst und durch Neubaugebiete in anderen Stadtteilen ersetzt. Als Kind nahm ich dieses Lager wahr als eine riesengroße Stadt, die aus lauter Holz- und Steinbaracken bestand. Das Zentrum bildete die sogenannte Feierabendhalle, die für Veranstaltungen genutzt wurde und auch eine Gaststätte, eine Kegelbahn und ein Kino beherbergte.

Luftaufnahme des Barackenlagers Watenstedt-Salzgitter

Angegliedert waren ein Kindergarten und eine Schule, die zunächst ebenfalls in Baracken untergebracht waren. Es gab einen Bäcker, diverse Läden und größere Freiflächen für Aufmärsche. 1945 lebten in diesem ehemaligen Zwangsarbeitslager circa 15.000 Flüchtlinge.

Zwischen dem Barackenlager und dem alten Dorf Watenstedt-Salzgitter lag der sogenannte Gummibahnhof. Uns kleinen Steppken kam dieses asphaltierte Areal riesig vor. Hier gab es circa zehn Haltestellen für parallel haltende Busse, mit denen man fast alle 28 Stadtteile der Großstadt Watenstedt-Salzgitter erreichen konnte. Beim Gummibahnhof befand sich eine Baracke mit Gaststätte, Lebensmittelgeschäft und einem Zeitungs-Lotto-Schnaps-Laden.

Im Zuge der Kriegsvorbereitungen wurden 1937 in der Nähe von Braunschweig die „Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring“ gegründet. Dort sollten aus den Eisenerzen der Region Rüstungsgüter hergestellt werden. Innerhalb von zwei Jahren bauten zehntausende Arbeiter aus dem In- und Ausland diesen modernsten und größten Rüstungsbetrieb Nazi-Deutschlands auf. Sie waren in provisorischen Barackenlagern untergebracht, in denen nach Kriegsbeginn die Kriegsgefangenen und Deportierten einquartiert wurden, die in der Rüstungsproduktion Zwangsarbeit verrichten mussten. Ab 1942 entstanden im Gebiet Salzgitter zusätzlich drei Außenlager des KZ Neuengamme. „Vernichtung durch Arbeit“ war der von Goebbels geprägte Begriff für diese Form extremer Ausbeutung. Im Gebiet von Salzgitter befreiten die Alliierten im April 1945 ca. 40.000 Menschen (Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter), sie bildeten mehr als die Hälfte der Gesamtbelegschaft der Reichswerke. Die Barackenstadt wurde bis in die 1960er Jahre weiter als Flüchtlingslager für aus den Ostgebieten geflüchtete Deutsche genutzt.

An den Rändern des Barackenlagers, das in einzelne Sektoren unterteilt war, befanden sich weitläufige, teilweise gesprengte Bunkeranlagen. Auf der südlichen Seite wurde das Lager von den Linke-Hoffmann-Waggonwerken und einer großen Kiesgrube begrenzt, in der die Schlacken aus den Hochöfen der Hüttenwerke über Gleisanlagen entsorgt wurden. Auf der Nordseite war die Hauptverwaltung Drütte untergebracht und links davon, in westlicher Richtung, befand sich die Werksanlage der Hütte, der ehemaligen „Reichswerke Hermann Göring“.

1952 im Lager

Kurz nach der Geburt 18. Oktober 1945

Wohnverhältnisse

Unsere Familie, meine Mutter, mein vermeintlicher Vater, zwei jüngere Geschwister und ich, wohnten in einer Steinbaracke. Diese Unterkünfte waren komfortabler als die Holzbaracken. In jedem dieser Gebäude gab es eine Wohnung am Kopfende und durch vier seitliche Eingänge gelangte man in vier weitere Wohnungen.

In unsere Wohnung gelangten wir durch einen winzigen Flur. Rechts führte eine Tür zu einer kleinen Abstellkammer mit Doppelhochbett. Durch die andere Tür betrat man das Wohnzimmer, von dort aus ging es weiter in die Küche und ins Schlafzimmer. Im Wohnzimmer stand ein sogenannter Sägespäne-Ofen, der aussah wie ein großes Metallfass. In der Küche gab es einen gemauerten Herd mit Backofen, der mit Briketts und Eierkohle betrieben wurde, sowie ein Waschbecken mit Wasseranschluss. Jeden Samstag wurde eine kleine Zinkwanne in der Küche aufgestellt. Das Badewasser wurde auf dem Küchenofen erhitzt und mit kaltem Wasser in der Wanne vermischt. Erst setzte sich Mutter in die Wanne, dann kamen wir Kinder an die Reihe. Nach dem Haarewaschen mussten wir aufstehen und wurden mit Wasser begossen, um den Schaum abzuspülen.

Danach gab es Abendbrot und dann durften wir im Fernsehen die aktuelle Schaubude mit ansehen. Für jeden machte meine Mutter einen Teller mit einzelnen Schokoladenstückchen und Keksen zurecht. Süßigkeitenentzug war eine der Strafen. Das führte einmal dazu, dass wir Kinder, allein Zuhause, Bonbons selbst herstellen wollten. In einem Topf haben wir Butter zerlassen, Zucker zugefügt, gerührt, die klebrige Masse in kaltes Wasser gekippt und abgekühlt – und fertig waren unsere wunderbaren Karamellbonbons. Aber dafür, für die eigene Arbeit, gab es Schimpfe, denn Topf, Herd und Kochlöffel hatten wir hinterher natürlich nicht sauber bekommen.

Die Latrine

Mehrere Baracken teilten sich eine Latrinenanlage, die etwa 50 Meter entfernt war, ein langer Schuppen mit zehn Eingängen auf jeder Seite. Die etwas älteren Kinder wurden angehalten, diese Latrine zu benutzen. Sie hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Latrine war für mich das Schlimmste überhaupt im Lager. Allein der Gang dorthin löste Horrorfantasien aus: Falle ich da mal rein? Zieht mich da mal einer runter? Es war einfach nur schrecklich. Sobald man die Latrinentür geöffnet hatte, musste man in das große Donnerbalken-Öffnungsloch schauen. Kaum saß ich auf dem Balken, durchlief mich ein schauerliches Gefühl: Was da unten wohl alles drinnen ist? Was da drunten wohl lebt? Es gab keine Klodeckel, keine Wasserspülung, stattdessen penetranter Chlorgestank, der mich veranlasste, diesen schrecklichen Ort ganz, ganz schnell wieder zu verlassen. Die Hose konnte ich mir ja auch vor der Tür wieder hochziehen.

Schule und Freizeit

In Watenstedt-Salzgitter wurde 1952, dem Jahr meiner Einschulung, außerhalb des Lagers eine neue Schule eröffnet. Von dem neuen riesigen Gebäude gelangten wir durch einen Verbindungsbau zur angeschlossenen Sporthalle. Der Sportunterricht wurde damals sehr wichtig genommen, diese Stunden wurden immer gehalten. Im Verbindungsbau befanden sich moderne Umkleideräume und Duschanlagen. Es war herrlich, nach dem Sport dort mit warmem Wasser zu duschen. Für uns Kinder war es die einzige Duschmöglichkeit im gesamten Lager.

Wir hatten einige recht strenge Lehrer, meist ehemalige Soldaten. Sie benutzten teilweise noch den Rohrstock. Und Zuhause hatten wir meist strenge Eltern. Mein Vater arbeitete im Dreischichtbetrieb im Kraftwerk, war also kaum daheim, auch am Wochenende nicht. Meine Mutter arbeitete als Sekretärin. Sie ging morgens zur Arbeit und kam erst am späten Nachmittag zurück. Wir Kinder waren ab Mittag wieder Zuhause, eine Nachbarin kochte uns das Mittagessen, danach waren wir uns selbst überlassen. So taten wir uns an den langen Nachmittagen ohne elterliche Aufsicht in Jugendcliquen zusammen.

Schnee und Sonnenstrahlen im Lager

Weihnachten mit Eltern und Großeltern

In jedem Lagerbereich gab es Jugendbanden, die hierarchisch gegliedert waren und jeweils einen Häuptling hatten. Hier galten eigene Regeln. Unsere Nachmittage waren spannend, wir hatten sehr viel Spaß. Die kleineren Verletzungen und Abschürfungen, die bei unseren Raufereien entstanden, nahmen wir in Kauf. Wir klauten um die Wette die besten Bonbons im Lebensmittelgeschäft. Anschließend wurden die Süßigkeiten genau gezählt und gleichmäßig auf alle verteilt. Wir klauten Schrott beim Schrotthändler und brachten, was wir erbeutet hatten, durch das Eingangstor auf der anderen Seite des Platzes zum selben Schrotthändler zurück. Er wog es auf seiner Schrott-Waage und wir kassierten ein paar Groschen dafür. Wir spielten Cowboy und Indianer gegen jeweils andere Banden, machten Streifzüge durch die alten Bunkeranlagen und Tunnelsysteme, suchten nach Waffen und Munition, die überall zu finden waren, und hatten in den Sommermonaten eine gute Zeit in den alten Kiesgruben.

Besonders beliebt bei allen Jugendbanden war der eigene Tabakanbau, oder wir vermischten den Tabak aus den überall aufgesammelten Kippen zu neuen Mischungen, die wir in Papier drehten oder in Indianerpfeifen rauchten. Das Rauchen gehörte in allen Cliquen immer dazu, erst dann war man ein ordentliches Mitglied. Auf der kleinen Gartenfläche, die zu den Baracken gehörte, wurde auch Mohn angebaut und wir waren darauf spezialisiert, die fremden Mohnkapseln zu ergattern, obwohl die Pflanzen streng bewacht wurden. Für mich waren dies die schmackhaftesten Beutestücke und ein bestimmter Mohnkuchen ist noch heute mein Lieblingskuchen. An den ersten sexuellen Kontakten beim Indianerspiel in selbst gebauten Zelten waren überwiegend Mädchen aus den höheren Klassen...

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