Einleitung1
Ein einzigartiges Buch
Das Buch der Weisheit wurde auf Griechisch verfasst und bietet neuartige Züge, die es im Vergleich zu anderen Texten seiner Zeit zu einem einzigartigen Werk machen. Es wurde gegen Ende des 1. Jh.s v. Chr. von einem Juden in Alexandria erstellt, der mit seiner tiefen Kenntnis der Bibel Treue zu den Überlieferungen Israels verband. Das Buch bildet von seiner Entstehungssituation her eine wichtige Berührungsstelle der biblischen Welt mit der weitverzweigten Welt des Hellenismus.
Das Buch erweist sich auch als inhaltlich neuartig: Die starke eschatologische Perspektive, die mit der Ankündigung des künftigen Schicksals der Gerechten und der Gottlosen beginnt (Weish 1‒6), ist mit einer Betrachtung der Vergangenheit Israels verbunden, der sich der Schlussteil zuwendet (Weish 10‒19), wo die Eschatologie mit der Geschichte mittels der Rolle des Kosmos verknüpft ist. In der Mitte des Buches steht der Lobpreis der Weisheit, der Vermittlerin zwischen Gott und Mensch (Weish 7‒9).
Titel des Buches
Das Buch wird in den griechischen Handschriften als ΣΟΦΙΑ ΣΑΛΟΜΩΝΟΣ (S*), oder als ΣΟΦΙΑ ΣΑΛΟΜΩΝ (Bc) oder ΣΑΛΟΜΩΝΤΟΣ (A) bezeichnet;2 in den Kodizes der Vetus Latina lautet der Titel Liber Sapientiae Salomonis oder manchmal Sapientia Salomonis, oder einfach Liber Sapientiae. Das Buch ist in die lateinische Übersetzung der Vulgata und von ihr her in die modernen Übersetzungen als „Buch der Weisheit“ eingegangen. Da der Verfasser sich im Mittelteil des Buches (Weish 7‒9) mit dem König Salomo zu identifizieren scheint ‒ wenn auch diese Identifikation nie ausdrücklich geschieht ‒, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er selber seinen eigenen Text „Weisheit Salomos“ benannt hat. Dies entspricht einem in der Antike nicht seltenen und in der jüdischen Tradition häufigen Brauch, Salomo einen Großteil der Weisheitsschriften zuzuschreiben: Sprichwörter, Kohelet, das Hohelied. Schon seit der Zeit der Kirchenväter war jedoch klar, dass die Zuschreibung an Salomo pseudepigraphisch war: Diese Auffassung äußern bereits neben anderen Origenes, Augustinus und Hieronymus.3
Text und Übersetzungen4
Griechischer Text
Den griechischen Text des Buches der Weisheit überliefern die drei bedeutendsten Unzialkodizes, die nach Joseph Ziegler den bestmöglichen Text enthalten, in gutem Zustand: der Vaticanus (B), der Sinaiticus (S) und der Alexandrinus (A); die übrigen Unzialhandschriften (insbesondere die Kodizes V und C) und die verschiedenen Minuskeln haben geringere Bedeutung. Vom Buch der Weisheit sind auch einige Papyrusfragmente erhalten. Die patristischen Zitate und die Florilegien sind gelegentlich für die Textkritik interessant.5 Die von Ziegler erstellte Edition hat den größten Teil der Probleme des Textes geklärt, so dass er einer der am besten verständlichen Texte des Alten Testaments darstellt.6
Vetus Latina und Vulgata
Die bedeutendste der alten Übersetzungen ist die Vetus Latina. Sie entstand in Nordafrika wahrscheinlich gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. und ging etwa im 5. Jh. in die Vulgata ein.7 Hieronymus übersetzte nämlich das Buch der Weisheit nicht, da er es nicht für kanonisch hielt.8 Die lateinische Übersetzung ist wenigstens zwei Jahrhunderte älter als die älteste erhaltene Handschrift (B) und erweist sich für die Rekonstruktion besonders schwieriger Textstellen als sehr nützlich. Wahrscheinlich übersetzte die Vetus Latina einen griechischen Text, der von dem der großen Unzialen verschieden ist, ziemlich ähnlich dem Text von S* (vgl. z.B. die in 2,9a erhaltene Lesart nullum pratum, die wahrscheinlich die ursprüngliche ist).9 Die anderen alten Übersetzungen, die Peshitta, die verschiedenen koptischen Übersetzungen, die armenische, arabische und äthiopische Übersetzung sind sämtlich jünger als die großen Unzialen und haben für die Textkritik nur geringere Bedeutung.
Originalsprache
Die Vermutung, das Buch der Weisheit sei ursprünglich auf Hebräisch (oder Aramäisch) verfasst und dann ins Griechische übersetzt worden, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.10 Zwar gibt es im Buch der Weisheit eine Reihe von Hebraismen wie die stete Verwendung des Parallelismus membrorum,11 aber der Hinweis darauf dürfte nicht als Argument ausreichen, dass man deshalb das Griechisch des Weisheitsbuches als Übersetzung eines semitischen Originals betrachten könnte. Diesbezüglich formuliert Joseph Reider „it [the book of Wisdom] is written in the purest form of Alexandrinian Greek, free from the Hebraisms and anomalies of the Septuagint and full of passages which combine the richest vocabulary with genuine rhetorical eloquence. Compared with the Septuaginta, Wisdom appears to be an original and independent work“.12
Die Einheit des Buches13
Schon um die Mitte des 19. Jh. hielt Carl L. W. Grimm die Frage der literarischen Einheit des Buches für endgültig geklärt: Das Buch der Weisheit war für den großen deutschen Kommentator zweifellos das Werk eines einzigen Verfassers. Dennoch ließen sich noch bis ins 20. Jh. einige Stimmen vernehmen, die dem widersprachen.14 Einige neuere Autoren nehmen zwar auch die Einheit des Verfassers an, vermuten aber eine Komposition zu verschiedenen Zeiten; insbesondere Weish 11‒19 sei erst später geschrieben worden, wenn auch vom selben Verfasser wie das übrige Buch.15 Die stilistische Einheit des Buches und damit verbunden die Verwendung der gleichen literarischen Gattung (s.u.) sind starke Argumente dafür, nicht nur einen einzigen Verfasser, sondern auch die Einheit der Komposition anzunehmen. Im Licht der Beiträge von Addison G. Wright, Paolo Bizzeti und Maurice Gilbert ist das Hauptargument für die Einheit des Buches der Weisheit jedoch die Beobachtung einer präzisen literarischen Struktur (s.u.), die es sehr schwierig macht, an eine nicht einheitliche Komposition zu denken. Einige Autoren wollten auch noch genaue zahlenmäßige Entsprechungen innerhalb des Buches finden; allerdings überzeugen die von Wright vorgelegten Zahlen nicht ganz.16
Flashbacks
Zwei weitere Gründe, die für einen einzigen Verfasser und für die Einheit der Komposition sprechen, sind die Beobachtung der sogenannten flashbacks sowie von Themen und Motiven, die sich durch das ganze Buch hindurchziehen. James M. Reese hebt innerhalb des dritten Buchteils (Weish 11‒19) wörtliche Bezugnahmen auf die beiden ersten Teile des Weisheitsbuches und spezifische mit ihnen gemeinsame Themen hervor. Reese bezeichnet als flashback „a short repetition of a significant word or groups of words or distinctive ideas in two different parts of Wis“.17 Reese stellt wenigstens 45 flashbacks fest, deren Anzahl jedoch noch erweitert werden könnte.18 Dabei handelt es sich nicht um einfache literarische Bezugnahmen; denn sehr oft nimmt der Verfasser im dritten Teil des Buches ein thematisches Element aus dem ersten oder zweiten Buchteil auf und erweitert dabei dessen Bedeutung (vgl. z.B. Weish 17,20–21 als flashback zu Weish 7,29–30; siehe den Kommentar zu 17,20–21).19 Dies alles bestätigt die tiefgehende kompositorische Einheit, die das ganze Buch der Weisheit kennzeichnet.
Das ganze Buch durchziehende Themen
Eine aufmerksame Analyse des Buches der Weisheit lässt schließlich eine Reihe von Themen erkennen, die im ganzen Buch, jeweils fest in den Kontext eingebunden, immer wiederkehren. Deren Beobachtung bekräftigt die Annahme einer festen inneren Einheit des Werkes.20 Ein wichtiges Thema, das sich durch das ganze Buch hindurch zieht, ist das der Gerechtigkeit, die für einige Autoren geradezu die tragende Achse des ganzen Werkes ist. Von daher betrachtet, könnte das Buch der Weisheit wie eine wirkliche Abhandlung politischer Theologie gelesen werden.21 Die Weisheit, die im Mittelteil des Buches gepriesen wird (Weish 7–9) ist das Mittel, das den Regierenden zur Verfügung gestellt wird, um zu lernen, was Gerechtigkeit ist (Weish 1 und 6). Das Gericht Gottes steht bereit, die Gesetzlosen zu treffen, insbesondere die Götzenverehrer (Weish 13-15), den Gerechten aber stellt es ewiges Heil in Aussicht. Die Tragweite des Themas der Gerechtigkeit im Innern des Buches der Weisheit soll nicht unterschätzt werden, aber im Zentrum des Buches ragt eher das Thema der Weisheit heraus.
Ein anderes Thema ist der Kosmos, der vom Anfang bis zum Ende des Buches eine wichtige Rolle spielt. Gott hat alles für das Leben erschaffen (1,13–14); die Weisheit, die Werkmeisterin der Welt, ist der Berührungspunkt zwischen Gott und Mensch, gerade wegen ihrer Gegenwart im Kosmos (vgl. 7,1.6.21.24.27); der Kosmos selbst dient als Instrument an der Seite Gottes, um die Gerechten zu belohnen und die Gottlosen zu bestrafen (5,17-20), wie es schon in der Vergangenheit geschah (16,17.24). Das Buch der Weisheit schließt dann mit der Perspektive einer erneuerten Schöpfung (19,18–21).
Die literarische Struktur22
Das Buch der Weisheit zeigt eine sorgfältige literarische Struktur. Durch die Verwendung von Stichwortverklammerungen und Inklusionen, von oft kunstvoll angelegten konzentrischen Konstruktionen und anderen Stilfiguren bietet der Verfasser seinen Adressaten einen ansprechenden Text, in dem die literarische Struktur im Dienst eines bestimmten theologischen Entwurfs steht. Wir folgen hier weithin den Vorschlägen von Paolo Bizzeti und Maurice Gilbert.23 Zunächst stellen wir eine Gesamtsicht...