Einleitung
Warum ist Jugoslawien zerfallen? War der gewaltsame Untergang unvermeidlich? Warum hat der Vielvölkerstaat dann überhaupt so lange überlebt? Wurden die Menschen vielleicht nur Opfer nationalistischer Verführung? Und wie lässt sich die kurze Geschichte Jugoslawiens in das lange 20. Jahrhundert einordnen? Dieses Buch erzählt, warum und unter welchen Umständen Jugoslawien entstand, was den Vielvölkerstaat über 70 Jahre zusammenhielt und weshalb er sich schließlich gewaltsam auflöste. Es ist die Geschichte von Zuversicht und Zweifeln, von Fortschritt und Verfall, von Extremen und Exzessen, von Utopie und Untergang.
Kein europäisches Land war so bunt, vielseitig und kompliziert wie Jugoslawien. Wegen seiner turbulenten Geschichte gilt es als Inbegriff balkanischen Durch- und Gegeneinanders, als Symbol für das rückständige, barbarische und abstoßende Andere auf unserem vermeintlich so zivilisierten Kontinent. Wer gegen Ende des 19. Jahrhunderts im österreichischen Semlin mit dem Dampfschiff über die Donau nach Belgrad übersetzte oder mit der ungarischen Staatsbahn über die große eiserne Save-Brücke im Bahnhof von Bosnisch-Brod einfuhr, betrat eine fremdartige Welt, die geheimnisvoll, märchenhaft, zuweilen aber auch abstoßend und bedrohlich erschien.[1] Unter diesen Eindrücken wurde die Region konsequent aus dem europäischen Kontext herausgeschrieben, und bedauerlicherweise ist das mitunter bis heute so. Bei näherer Betrachtung verliert sich dann allerdings der Eindruck des Mysteriösen, weil auch der Balkan, im Guten wie im Schlechten, auf das Engste mit den europäischen Zeitläuften verflochten ist. Aber obwohl der Topos der strukturellen Andersartigkeit als «bequemes Vorurteil» entlarvt wurde, hält sich oft bar jeglicher Empirie die Vorstellung dauerhafter Rückständigkeit.[2]
Im Gegensatz dazu thematisiert dieses Buch die jugoslawische Geschichte aus der Perspektive der großen sozialen, wirtschaftlichen und intellektuellen Veränderungen, die ganz Europa an der Wende zum 20. Jahrhundert erfassten und die den Übergang zur modernen Industrie- und Massengesellschaft markierten. Die «große Beschleunigung» erreichte als erstes die westlichen Gesellschaften, strahlte bald aber auch auf die europäische Peripherie ab.[3] Es wird hier also nicht primär nach den Strukturen der longue durée und nach historischen Sonderwegen auf dem Balkan gefragt, sondern eher nach den übergreifenden Dynamiken des Wandels, nach Verflechtungen und Interaktionen, nach europäischen Gemeinsamkeiten und Parallelen im «langen 20. Jahrhundert».[4]
In Südosteuropa begann sich in den Jahrzehnten um 1900 die fundamentale Umgestaltung der Wirtschaft, der sozialen Beziehungen, kulturellen Äußerungen, Mentalitäten und des Alltagslebens bereits abzuzeichnen. Der ungestüme wissenschaftlich-technologische und ökonomische Fortschritt im Westen stellte auch die Balkanländer vor ungeahnte Herausforderungen. Zunehmender internationaler Wettbewerb und aggressiver Imperialismus machten die Überwindung der Rückständigkeit buchstäblich zu einer Überlebensfrage. Vor diesem Hintergrund konkretisierte sich die südslawische Idee, das Projekt einer gemeinsamen politischen Zukunft von kulturell verwandten Völkern. Denn die Befreiung aus der Fremdherrschaft, die Gründung Jugoslawiens, erschien als Voraussetzung einer selbstbestimmten europäischen Zukunft.
Zweimal, 1918 und 1945, wurde Jugoslawien unter ganz unterschiedlichen Systemvorgaben realisiert: zuerst als zentralistische, parlamentarische Monarchie, danach als sozialistische Föderation. Beide Modelle warfen vier grundsätzliche Probleme langer Dauer auf: die ungeklärte, sich immer wieder mit neuen Facetten artikulierende nationale Frage, Rückständigkeit und Armut in einer kleinbäuerlich geprägten Gesellschaft sowie die Abhängigkeit von auswärtigen, hegemonial-expansiven Macht- und Wirtschafts-interessen. Gewaltige historische und sozial-ökonomische Disparitäten kamen erschwerend hinzu, weil auf engem Raum verschiedene Traditionen und Entwicklungsmuster aufeinandertrafen.
Eine leitende Frage des Buches ist, wie man sich unter diesen Umständen zu unterschiedlichen Zeiten Entwicklung und Fortschritt vorstellte und mit welchen Mitteln man sie zu erreichen suchte. Immer mehr Angehörige der Eliten glaubten, in einem Zeitalter zu leben, in dem Tradition und Brauchtum, Patriarchat und überkommene Gemeinschaftsbeziehungen vergingen – und vergehen sollten, um an den Vorzügen der Moderne, also einer sich zunehmend technifizierenden Welt, teilzuhaben. Konkurrierende politische Kräfte und Intellektuelle fanden dann allerdings sehr unterschiedliche Antworten auf die Zwänge, Sehnsüchte und Herausforderungen einer sich dramatisch verändernden Welt. Welche Akteure trieben den sozialen Wandel voran und wie dachten sie sich die Gestaltung der Zukunft? Welche Alternativen zur westlichen Moderne standen zur Diskussion?
Mit diesem Ansatz nimmt das Buch Abstand von populären Erklärungen des jugoslawischen Problems, die strukturelle Faktoren wie ethnokulturelle Gegensätze und zivilisatorische Inkompatibilitäten in den Vordergrund rücken. Aber nicht balkannotorische Unverträglichkeit und ewiger Völkerhass unterliefen das Projekt südslawischer Gemeinschaftlichkeit, sondern, so die Kernthese, die Politisierung von Differenz in der modernen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts. Völker, Nationen und Kulturen sind keine transhistorischen Entitäten, sondern selbst geschichtlichem Werden und Wandel unterworfen, und ebenso veränderten auch Konflikte ihren Sinn und ihre Gestalt. Wer, warum, unter welchen Umständen und wie ethnische Identität und Diversität zu einem Konfliktgegenstand machte, ist daher eine zentrale Frage dieses Buches. Es geht um Interessen, Weltauffassungen und Motive der Handelnden, um sozialökonomische Entwicklungen sowie nicht zuletzt um die kulturhistorischen Dimensionen kollektiver Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichtsdeutungen.
Nur wenige Fachleute haben sich bislang an Gesamtdarstellungen Jugoslawiens versucht, die das gesamte 20. Jahrhundert umfassen. Während es in deutscher Sprache überhaupt nur eine einzige Monographie gibt, wird man im anglophonen Raum eher fündig.[5] Auch in den jugoslawischen Nachfolgestaaten ist die Literaturlage dürftig.[6] Schon vor dem Zerfallskrieg war es eine heikle Angelegenheit, die verschiedenen regionalen Perspektiven auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der Wissenschaftsföderalismus gestattete jedem Volk seine individuelle Vergangenheitspolitik, seine nationalen Geschichtsbilder und Narrative. Zu einer von allen getragenen Meistererzählung ist es nie gekommen: Zu unterschiedlich, weil auch politisch aufgeladen, waren Deutungen und Darstellungen. Die mehrbändige «Geschichte der Völker Jugoslawiens» schaffte es wegen interpretatorischer Querelen nur bis zum Jahr 1800. Ebenso verschwand die «Geschichte der jugoslawischen kommunistischen Partei/BdKJ» im Orkus. Und besser erging es auch den historischen Einträgen in der Enzyklopädie Jugoslawiens nicht. Eine akzeptierte Erzählung der Entstehung Jugoslawiens, seiner historischen Entwicklung und seiner Probleme existierte zeit seines Bestehens nicht. Wer immer sich dennoch daran versuchte, endete im Kreuzfeuer der Kritik.[7]
Im krassen Gegensatz zu den spärlichen Gesamtdarstellungen steht die unüberschaubare Menge an Büchern und Aufsätzen, die vom Zerfallskrieg der 1990er Jahre handeln. Sie interpretieren die Geschichte Jugoslawiens meist aus der Perspektive seines blutigen Endes, analysieren Geburtsfehler und apostrophieren die südslawische Staatsschöpfung als künstlich, um die Unausweichlichkeit des Scheiterns zu untermauern. Jugoslawien erklärt sich jedoch nicht nur aus seinem Anfang oder Ende. Immerhin existierte der Staat gut 70 Jahre lang, weshalb die Frage, was seine Völker so lange zusammenhielt und was sie entzweite, auch durch den Untergang noch nicht obsolet wurde. Dieses Buch versucht, deterministischen Erklärungen aus dem Weg zu gehen und die Geschichte Jugoslawiens als grundsätzlich ergebnisoffenen Prozess zu verstehen.
Viele neuere Darstellungen befassen sich gar nicht mehr mit Jugoslawien, sondern nur noch mit seinen Nachfolgestaaten. Die heutige Existenz Sloweniens, Kroatiens oder Kosovos wird in die Vergangenheit zurückprojiziert, gleichsam als teleologischer Vorlauf zur Eigenstaatlichkeit. Interaktionen mit den Nachbarn kommen dann oft nur noch in Form von Konflikten und Kriegen vor, wobei die jugoslawische Periode auf eine kürzere, wenngleich nicht ganz unwesentliche Episode einer jahrhunderte-alten Nationalgeschichte zusammenschrumpft. Im Gegensatz dazu wird hier versucht, unterschiedliche landes- und nationalhistorische Perspektiven einzufangen und zueinander in Beziehung zu setzen, wodurch sich manche vermeintliche regionale Besonderheit relativiert. Einzelne Republiken und Völker konnten allerdings nur exemplarisch behandelt werden, schon um eine Balance zwischen Vielgestaltigkeit und Einheit zu finden. Als mikrohistorischer «roter Faden» steht immer wieder Ostbosnien im Mittelpunkt der Erzählung, das sprichwörtliche Herz Jugoslawiens, um das viele Parteien im...