ANNA MARIA VAN SCHURMAN (AUCH VON SCHÜRMANN)
1607–1678
Künstlerin, Privatgelehrte, Religionsphilosophin
»Niemand kann über unsere Neigung zum Studium richtig urteilen, bevor er uns nicht mit besten Motiven und Hilfsmitteln angeregt hat, die Studien aufzunehmen, und uns einen Geschmack von der Freude am Studium vermittelt hat.«
Anna Maria van Schurman, Dissertatio
An der »Schurmannin« scheiden sich bis heute die (wissenschaftlichen) Geister: War sie das »Wunder des Jahrhunderts« (A. von Hanstein), ein »universales Genie« (H. J. Mozans) oder eine »Kuriosität«, »staunenswert und unfruchtbar« (K. Joel)? Selbst in der feministischen Wissenschaft ist die »Pallas von Utrecht« nicht unumstritten: War sie nun eine Vorläuferin der emanzipierten Akademikerin – oder doch nur eine tiefreligiöse Schwärmerin?
Bis heute existiert noch keine wissenschaftliche textkritische Aufarbeitung ihres Werks. Seit 1991 ziert immerhin eine Steinstatue den Kölner Rathausturm. Die Skulptur der Künstlerin Elisabeth Perger zeigt die Schurmannin mit Pinsel, Staffelei, Buch und Eule – als Zeichen der Weisheit.
Anna Maria van Schurman wurde am 5. November 1607 in Köln geboren, als Tochter eines gelehrten Niederländers und einer adligen deutschen Mutter, Eva van Harff zu Dreiborn. Die Eltern gehörten der damals verbotenen evangelischen Gemeinde an. Schon als Kind zeigte sich ihr außergewöhnliches Sprachtalent. Als Erwachsene beherrschte sie zehn Sprachen in Wort und Schrift: Niederländisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Syrisch/Aramäisch und Äthiopisch. Zudem war sie erfahren in der Stickerei, der Glasmalerei, der Holzschneiderei und Kupferstechkunst, arbeitete als Malerin – bevorzugt als Porträtistin –, war virtuose Musikerin, talentierte Dichterin, Geographin, Astronomin, Theologin, Pädagogin, Historikerin, Linguistin und Philosophin, kurz: Ein Universalgenie. Von ihrer außergewöhnlichen Sprachbegabung zeugt eines ihrer Werke, nämlich die erste äthiopische Grammatik.
Schon zu Lebzeiten wurde van Schurman zum »Paradigma« weiblicher Gelehrsamkeit gemacht. Da sie sich ihr Wissen zu Hause aneignete, kann sie zudem als erste deutschsprachige Privatgelehrte gelten. Dabei muss man berücksichtigen, dass sie noch in der historischen Epoche der Hexenverfolgungen lebte, in der oft schon viel geringfügigere Abweichungen vom »typisch weiblichen« Lebenslauf zum Scheiterhaufen führten.
Aus Köln flüchten musste Anna 1610 zwar nicht wegen Verdachts der Hexerei – wohl aber die ganze Familie wegen religiöser Verfolgung. Sie lebte danach eine Zeit lang auf dem Harffschen Schloss in Schleiden und ließ sich dann in Nordfriesland nieder.
Ab 1623 lebte Anna van Schurman in Utrecht. Kurz zuvor war ihr Vater gestorben, der sie in Latein und Deutsch unterrichtet hatte. Die übrigen Sprachen waren ihr von Professoren beigebracht worden, die mit ihm befreundet waren. Nach des Vaters Tod – dem sie auf dem Totenbett ewige Keuschheit versprechen musste – nahm sie weiterhin Privatunterricht in ihren übrigen Fachgebieten.
Zur Eröffnung der Utrechter Universität im März 1636 galt Anna bereits als beste Lateinerin der Niederlande. Sie durfte zu diesem Zweck das Festgedicht schreiben – aber als Frau nicht selbst dort studieren, was sie in dem Text auch prompt mit einem Satz kritisierte. Schon zuvor hatte sie sich in Briefwechseln mit unter anderem Fürstäbtissin Elisabeth von der Pfalz (1618–1680) und der französischen Schriftstellerin und Philosophin Marie Le Jars de Gournay (1565–1645) für ein Frauenstudium stark gemacht. Wenn auch nicht aus frühemanzipatorischen, sondern eher aus religiösen Gründen: Frauen sollten durch christliche Gelehrsamkeit ihre Tugend verbessern können.
Abgesehen vom grundsätzlichen Frauenausschluss bildete auch das Latein als männliche Herrschaftssprache eine zusätzliche Bildungsbarriere gegen Frauen. Selbst adelige Damen beherrschten in der Regel allenfalls Französisch und vielleicht noch etwas Italienisch, da beides die Sprachen der großen europäischen Höfe und Adelshäuser waren. Latein als Wissenschaftssprache hingegen war und blieb den Männern vorbehalten.
Diese zum Studium unabdingbare Sprache beherrschte Anna van Schurman so gut, dass sie darin Gedichte verfasste und auch Übersetzungen anderer Autoren anfertigte. Auch auf ihre Nichtzulassung zum Studium reagierte sie auf Latein – zunächst als Denkschrift in ihrer Korrespondenz mit dem Leidener Theologieprofessor Andreas Rivet. Zwei Jahre später wurde daraus ihre erste, noch unfreiwillige Buchpublikation, da der Schriftwechsel – angeblich ohne ihr Einverständnis – in Paris gedruckt wurde.1 Unter dem Titel Dissertatio logica de ingenii mulierbris ad doctrinam, et meliores litteras aptitudine2 erschien sie 1641 dann ganz offiziell. Bei der häufig auf Deutsch zitierten angeblichen Veröffentlichung Ob einer christlichen Frau wissenschaftliches Studium anstehe (Übers.: Dissertatio num feminae christianae conveniat studium litterarum) handelt es sich lediglich um die von Adele Osterloh (1857–1916) vorgenommene Übersetzung der Denkschrift von 1641. Und nicht etwa, wie fälschlicherweise oft angenommen und zitiert, um ein eigenständiges anderes Werk van Schurmans. Der Titel Osterlohs stammt jedoch aus Anna Schurmans Dissertatio.
Die Auseinandersetzung mit Rivet und vor allem die enge Bekanntschaft mit dem frühpietistischen Kirchenlehrer Gisbert Voetius, dem Gründungsrektor von Utrecht, führten dazu, dass Anna dann doch noch als Gasthörerin und erste Studentin Europas bei den Theologen zugelassen wurde. Um diese Sensation gegenüber den regulären Studenten etwas abzumildern, wurde für sie direkt neben der Tür ein vergitterter Kasten, eine sogenannte loge grillé, in den Hörsaal eingebaut, in dem sie den Vorlesungen folgen konnte.
Von da an verbreitete sich ihr Ruhm in ganz Europa. Sie korrespondierte mit René Descartes, Kardinal Richelieu und vielen anderen. Kein Gelehrter besuchte die Stadt, ohne sie in ihrem Haus Nr. 8, direkt hinter dem Utrechter Dom, aufzusuchen. Dazu gehörte auch Christina von Schweden, als sie nach ihrer Abdankung Richtung Rom unterwegs war.
Van Schurmans schriftliche Forderung für das Studierrecht jeder christlichen Frau war streng scholastisch angelegt. Das entsprach den damaligen wissenschaftlichen Gepflogenheiten. Da sie sich als Wissenschaftlerin verstand, musste sie sich in ihren Schriften auch entsprechend verhalten. Einige Beispiele aus dem 14 Punkte umfassenden Werk demonstrieren das:
»1. Jedem Menschen sind von Natur die Prinzipien oder die Potenzen der Prinzipien aller Künste und Wissenschaften eingegeben. Auch den Frauen ist alles eingegeben.
Ergo kommen alle Künste und Wissenschaften den Frauen zu …
2. Wem von Natur ein Verlangen nach Wissenschaften und Künsten innewohnt (vgl. Aristoteles, Metaphysik B. 1 Kap. 2), dem kommen diese auch zu. Frauen haben als Individuen der species Mensch dieses Verlangen. Ergo …
10. Was uns gegen Häresien schützt, kommt der christlichen Erbauung zu. Künste und Wissenschaften vermögen dies. Ergo …«
Anschließend versucht sie Kritikern bereits vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie über mögliche »Argumente der Gegner und ihre Widerlegung« schreibt:
»2. Wessen Geist nicht zu Studien geneigt ist, dem kommen sie auch nicht zu. Der Geist der Frauen ist nicht dazu geneigt, weil sich Frauen äußerst selten mit Studien beschäftigen. Ergo …
Wir antworten darauf:
Niemand kann über unsere Neigung zum Studium richtig urteilen, bevor er uns nicht mit besten Motiven und Hilfsmitteln angeregt hat, die Studien aufzunehmen, und uns einen Geschmack von der Freude am Studium gegeben hat. Uns selbst fehlt es auch nicht an Beispielen, die das Gegenteil der gegnerischen Behauptung als wahr erweisen.«
Van Schurman argumentierte nicht gegen die gesellschaftlichrechtlichen Gegebenheiten, die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschlossen. Nicht, weil ihr dies als zu gewagt und »revolutionär« erschienen wäre. Vielmehr begründete sie ihren Vorstoß mit christlichen Moralvorstellungen, die ihrer stark calvinistisch-pietistisch geprägten Haltung entsprachen. Gerade die Frauen der höheren Stände wären, so ihre Schlussfolgerung, anfällig für einen sündigen Lebenswandel, da sie zu viel Muße hätten. Hier könne ein Studium sehr gut Abhilfe schaffen. Dabei berief sie sich auf die wenigen männlichen Autoritäten, die dem Frauenstudium aus ähnlichen Gründen positiv gegenüberstanden und bereits von Marie Le Jars de Gournay in deren Gleichheitsschrift genannt worden waren.
Dass van Schurman den...