Seitdem die deutsche Bundesregierung den Begriff Industrie 4.0 geprägt hat, findet kaum eine ingenieurwissenschaftliche Konferenz mehr statt, in der es nicht mindestens einen Vortrag rund um dieses Thema gibt. Ganze Themenreihen, Online-Angebote und Fachbücher beleuchten Industrie 4.0 aus unterschiedlichen Perspektiven. Und in der Tat stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Form der Industrialisierung. Aber eigentlich haben wir sie schon überschritten, und zwar schon lange.
Das Gabler-Wirtschaftslexikon definiert Industrie 4.0 wie folgt:
„Industrie 4.0“ ist ein Marketingbegriff, der auch in der Wissenschaftskommunikation verwendet wird, und steht für ein ‚Zukunftsprojekt‘ der deutschen Bundesregierung. Die sog. vierte industrielle Revolution zeichnet sich durch Individualisierung bzw. Hybridisierung der Produkte und die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Geschäftsprozesse aus.
Diese Definition enthält die Kernthemen „Individualisierung von Produkten“ und die „Veränderung der Geschäftsprozesse“. Wie das genauer geschieht, ist auf der offiziellen Webseite der Bundesregierung, der Plattform Industrie 4.0, nachzulesen:
In der Industrie 4.0 verzahnt sich die Produktion mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik. Treibende Kraft dieser Entwicklung ist die rasant zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Damit wird die Digitalisierung zur treibenden Kraft erklärt. Und tatsächlich hat sich seit der Markteinführung von Smartphone und Co. die technische Welt tiefgreifend verändert. Das Selbstverständnis der Kunden, die lieber online einkaufen als nebenan im Tante-Emma-Laden, wachsende Ansprüche an Verfügbarkeit, Logistik, Qualität und nicht zuletzt eine geradezu extreme Preissensitivität können nicht spurlos am Produktionsumfeld vorübergehen. Somit steht für die Autoren die Frage im Fokus, welche Anforderungen diese Megatrends an die Herstellung und den Betrieb von Produktionsausrüstungen mit sich bringen.
Um sich der Antwort zu nähern, lohnt es sich, in den Publikationen der Plattform Industrie 4.0 weiterzulesen (wie auch sonst diese Publikation viele Fragen rund um das Thema umfassend beantwortet):
Technische Grundlage hierfür sind intelligente, digital vernetzte Systeme, mit deren Hilfe eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion möglich wird: Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren in der Industrie 4.0 direkt miteinander. Produktions- und Logistikprozesse zwischen Unternehmen im selben Produktionsprozess werden intelligent miteinander verzahnt, um die Produktion noch effizienter und flexibler zu gestalten.
Damit ist eine zentrale Herausforderung benannt:
Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte sollen miteinander kommunizieren können. Tun sie das aber nicht schon seit geraumer Zeit?
Maschinen verfügen schon immer über in Umfang und Ausstattung den Anforderungen angepasste Kommunikationsmöglichkeiten. Das waren anfangs mechanische Stellelemente, wie Hebel, Stellschrauben oder Handräder. Über den Maschinenzustand haben sich die Bediener zuerst nur durch Beobachtung, Nachmessen und mit viel Erfahrung informieren können. Mit zunehmender Elektrifizierung kamen dann Schalter sowie Leuchtanzeigen und mit Einzug elektronischer Systeme auch zunehmend qualitative Instrumente wie Potenziometer und Leuchtskalen hinzu.
Schließlich erleben wir seit Einzug PC-basierter Hard- und Software in die Bedientechnik von Maschinen und Anlagen eine immer tiefergreifendere Integration von digitalisierten Methoden und Mechanismen, wie wir sie von Smartphones und Tablets kennen. Was nun Human-Machine-Interface (HMI) heißt, sieht diesen Geräten oft zum Verwechseln ähnlich und bietet immer mehr Komfort. Als Beispiel sei nur die Multitouch-Technologie genannt, die sich für das Smartphone etabliert hat und mit der auch die Bedienung von Maschinen revolutioniert wurde. Allerdings steigen mit den Möglichkeiten auch die Anforderungen an die Gestaltung der visuellen Darstellungen – ein Thema, welches den Usability-Engineer als neues Berufsbild generiert hat.
Neben diesem Komplex wird im vorliegenden Buch auch die direkte Kommunikation von Maschinen und Produktionsanlagen im digitalen Produktionsumfeld thematisiert.
Die Vernetzung von Produktions- und Leitebenen ist schon seit den frühen 1990er Jahren Stand der Technik. Schließlich dienen die Daten der Produktionsausrüstungen einer effektiven Produktionssteuerung und tragen somit nicht unwesentlich zur Senkung der Stückkosten bei. Auch wenn neue Kommunikationssysteme der Bürowelt wie Ethernet und WLAN in der Werkhalle längst Einzug gehalten haben, so spielt sich intermaschinelle Kommunikation immer noch nach den gleichen Prinzipien ab wie zu deren Anfängen.
Das liegt daran, dass noch heute viele Hersteller von Automatisierungstechnik eigene Vorstellungen von Datenkommunikation verfolgen. Und so bevölkern Datensammler, Bridges und sogenannte Interpreter die Werkhallen, deren Aufgabe nur darin besteht, die Daten so aufzubereiten, dass andere Maschinen bis hinauf zum Produktionsleitsystem sie verstehen können. Ein lukratives Geschäft für Ingenieurbüros und Softwaredienstleister, das hoffentlich bald zur Vergangenheit gehört.
Leider haben da auch branchenspezifische Kommunikationsstandards wie etwa PackML in der Verpackungs-, JDF in der Druck- oder Euromap in der Kunststoffbranche nur mäßig Entlastung gebracht. Industrie 4.0 fordert aber, dass ALLE am Herstellungsprozess beteiligten Komponenten DIREKT miteinander kommunizieren. Gerade diese Anforderung ist für die Produktion individualisierter Produkte existenziell, sodass wir uns mit diesem Thema ausführlich befassen werden.
Ein weiteres Merkmal wird auf der Plattform Industrie 4.0 wie folgt beschrieben, nämlich dass
(...) intelligente Wertschöpfungsketten entstehen, die zudem alle Phasen des Lebenszyklus des Produktes miteinschließen – von der Idee eines Produkts über die Entwicklung, Fertigung, Nutzung und Wartung bis hin zum Recycling. Auf diese Weise können zum einen Kundenwünsche von der Produktidee bis hin zum Recycling einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungen mitgedacht werden. Deshalb können Unternehmen leichter als bisher maßgeschneiderte Produkte nach individuellen Kundenwünschen produzieren. Die individuelle Fertigung und Wartung der Produkte könnte der neue Standard werden.
Das heißt nichts Anderes als Losgröße 1 anstelle von Serien- und Massenfertigung. Aber Losgröße 1 kann nur zum Erfolg führen, wenn das individualisierte Produkt qualitativ gleichwertig und nicht teurer ist als das vergleichbare Serienprodukt. Daher heißt es auf der Plattform Industrie 4.0 weiter:
Zum anderen können trotz individualisierter Produktion die Kosten der Produktion gesenkt werden. Durch die Vernetzung der Unternehmen der Wertschöpfungskette ist es möglich, nicht mehr nur einen Produktionsschritt, sondern die ganze Wertschöpfungskette zu optimieren. (...) Die Produktionsprozesse können unternehmensübergreifend so gesteuert werden, dass sie Ressourcen und Energie sparen.
Weil die Autoren der Auffassung sind, dass die Produktionskosten trotz Individualisierung nicht nur sinken KÖNNEN, sondern grundsätzlich sinken MÜSSEN, widmen sie sich intensiv der Frage, wie das mittels modernster Automatisierungstechnik gelingen kann. Dabei wird nicht nur das individualisierte Endprodukt, sondern auch die individuelle Produktionsausrüstung betrachtet, denn beides beeinflusst die Gestaltung eines Automatisierungssystems auf unterschiedliche Art und Weise. Die sich daraus ergebenden Aspekte und Lösungsansätze bilden folgerichtig den Schwerpunkt dieses Buches.
Mit Automatisierung 4.0 sollen sowohl dem erfahrenen als auch dem zukünftigen Ingenieur Anforderungen und Lösungswege für Automatisierungskonzepte aufgezeigt werden, die eine Produktionsanlage fit für die Zukunft und Industrie 4.0 machen.
Im Laufe der Auseinandersetzung mit diesem umfassenden Thema wurde uns immer wieder die außerordentliche Intensität bewusst, mit der sich zahlreiche Institute, Verbände und Hersteller diesen Herausforderungen stellen. Immer wieder mussten wir feststellen, dass neue Ansätze, Lösungen und Normen entstanden, von denen zu Beginn unserer Recherche noch gar keine Rede war. Typisches Beispiel dafür ist das Busprotokoll OPC UA in Kombination mit Time Sensitive Networking. Alle in diesem Buch dazu gemachten Aussagen beziehen sich auf den technischen Stand von März 2018. Gleiches gilt für die Ausführungen zur Industrie 4.0-konformen Kommunikation, deren Standardisierungsprozess noch einige Zeit andauern wird. Es war uns daher ein dringendes Anliegen, ergänzend zu den zahlreichen Literaturverweisen, auch Aussagen und Meinungen von involvierten Experten diverser Gremien zu integrieren, um dem Leser den aktuellsten Forschungsstand anbieten zu können.
Dafür gilt besonderer Dank Herrn Dr.-Ing. Heiko Koziolek vom Forschungszentrum der ABB AG und Mitglied im VDI/VDE-GMA-Fachausschuss „Industrie 4.0“. Besonders ihm haben wir zu verdanken, dass wir die zahlreichen Publikationen der Plattform Industrie 4.0 mit den neuesten Entwicklungen abgleichen und in diesem Buch konsolidiert abbilden konnten.
Gleiches gilt für Herrn Sebastian Sachse, der als Mitarbeiter der Business Unit Open Automation Technologies die Firma B&R Industrial Automation GmbH in zahlreichen internationalen Gremien vertritt. Durch seine Hinweise konnten die Darstellungen rund um das Thema Kommunikation...