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Überzeugen

Rhetorik und politische Ethik in der Antike

AutorAlfons Reckermann
VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheBlaue Reihe 
Seitenanzahl342 Seiten
ISBN9783787335824
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
In diesem Buch geht es um den Beitrag, den die antike Rhetorik zum normativen Selbstverständnis der Polis und zur politischen Ethik ihrer Zeit leistete. Anders als im neuzeitlichen Kontraktualismus gilt für die antike Ethik die überzeugende Rede als einzige Kraft, die bei besonnenem »Gebrauch« individuelles und kollektives Handeln auf gegenseitige Verständigung einzustellen und durch die Begründung einer rechtlichen Ordnung den Naturzustand roher Gewalt zu überwinden vermag. In Absetzung von der Sophistik profiliert sich die Rhetorik als Alternative insbesondere zur platonischen, jedoch auch zur aristotelischen Philosophie. Der Autor behandelt u.a. die Polis-Ethik des Isokrates, ihre Vorformen bei Solon und Aischylos sowie ihre Parallele bei Xenophon. Herodot, Thukydides und Aristoteles verdeutlichen darüber hinaus Probleme ihrer »Implementierung« und zeigen, dass ihrer Wirkungsmöglichkeit durchaus auch Grenzen gesetzt sind. Dabei geht es um die sozialen Folgen von Gewalt und Überzeugungskraft, das Verhältnis von Verfassungsordnung und Außenpolitik sowie die Herstellung von »Bürgerfreundschaft « als Voraussetzung einer erfolgreichen Verbindung von Macht und Recht. Dank ihrer Verzahnung von Individual- und Institutionenethik und ihrer Kritik an Versuchen, politische Verhältnisse auf der Grundlage eines epistemisch begründeten Gerechtigkeitswissens in der Orientierung an transpolitischen Normen zu gestalten, ist die rhetorisch fundierte Ethik für ein modernes Verständnis demokratischer Politik, die auf öffentliche Rede und eine belastungsfähige Streitkultur angewiesen ist, von Bedeutung.

Alfons Reckermann (* 8. April 1947 in Münster (Westfalen)) ist ein deutscher Philosoph und Hochschullehrer. Reckermann unterrichtet an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU München), wo er seit 1988 eine Professur für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Sozialphilosophie innehat. Reckermann studierte an der Universität Münster und an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Philosophie, Geschichte, Germanistik und Soziologie. Den Dr. phil. erwarb er 1976 an der Universität Freiburg und habilitierte sich 1986 für das Fach Philosophie an der LMU München.

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Leseprobe

I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis


Die Stimme Athenes
Die Erzeugung der Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in der Orestie des Aischylos


Für Aristoteles ist die politische die beste menschliche Gemeinschaft, weil alle Mitglieder an ihr in der Weise teilhaben, dass ihnen das gemeinsam gestaltete Leben zusammen mit wirtschaftlicher Autarkie (Pol. I 2, 1252 b 29) das normative Gut rechtlicher Ordnung sichert (ebd. 1253 a 17 ff). Der Herrschaft von Gleichen über Gleiche mit ihrem Wechsel von Regieren und Regiertwerden geht zeitlich – und für Aristoteles auch logisch – die Herrschaft des Königs über das ›Volk‹ (Demos) voraus, die derjenigen entsprochen hat, mit der die ›Herren‹ größerer und kleinerer ›Häuser‹ über ihre Familie und die mit ihr verbundenen ›Unfreien‹ regiert haben. Das von Homer beschriebene ›Haus‹ des Odysseus in Ithaka oder das des Alkinoos bei den Phäaken veranschaulichen diese für die nachmykenischen Verhältnisse in Griechenland charakteristische Form der hausgebundenen Königsherrschaft, die sich wesentlich von der im Orient verbreiteten theologisch legitimierten Monarchie und der auf sie zentrierten Palastökonomie unterscheidet.1 Die ›gute Ordnung‹ des ›königlich‹ regierten ›Hauses‹ war als personales Gut abhängig von der Fähigkeit seines Herrn, beim Entscheiden von Streitfällen und der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten ›in Scheu vor den Göttern unter vielen starken Männern (sc. das sind die ›königlichen‹ Herren der kleineren Nachbarhäuser, AR) zu herrschen, dabei die guten Rechtsweisungen (εὐδικίας) hoch zu halten‹ (Homer, Od. 19, 109 ff) und den eigenen Besitz vor dem Zugriff anderer zu schützen. Kritische Vorgänge wie die Abwesenheit des Herrn, seine Vertreibung durch Mächtigere, problematische Erbschaftsregelungen, in größeren Häusern auch Herrschaftsteilungen oder Rivalitätskämpfe zwischen Thronprätendenten konnten selbst glänzende Häuser vernichten. Auch in Athen war die mythisch erinnerte Frühzeit vom stasislastigen Streit um die Machtposition des Königs bestimmt.2 In historischer Zeit geht der Bürger-Polis eine Periode heftiger Rivalitätskämpfe zwischen den führenden Grund besitzenden ›Adligen‹ und ihren Anhängerschaften um die Vorherrschaft in Attika voraus. Der Preis für deren Beendigung konnte die Tyrannis sein, bei der der Herr eines ›Hauses‹ durch die gewaltsame Ausschaltung seiner Konkurrenten für eine bestimmte Zeit das Machtmonopol behauptet und damit den allgemeinen Frieden gesichert hat. Stasis3 und Tyrannis4 sind deshalb die entscheidenden Hindernisse gewesen, gegen die sich die Polis mit ihrer Orientierung an der Norm bürgerlicher Gleichheit durchsetzen musste.

In der Orestie wird der Gegensatz zwischen ›Haus‹ und ›Polis‹, den Athen zum Zeitpunkt der Erstaufführung im Jahre 458 historisch bereits überwunden hat, in tragisch-dramatischer Zuspitzung noch einmal auf die Bühne gebracht. Sie zeigt den Zusammenbruch des königlichen Hauses der Atriden in Argos und stellt dieser Welt des Todes das Bild eines sittlich fundierten, göttlich geschützten und für alle Bürger vorteilhaften Lebens in der Polis entgegen. Dabei wird deutlich, dass die Polis ihre Sittlichkeit zwar aus sich selbst erzeugen, aber auch normativen Ansprüchen gerecht werden muss, die für das königlich regierte ›Haus‹ verbindlich waren. Die Orestie ist ein Musterbeispiel politischer Kunst5, weil sie zeigt, wie die Polis durch ihren Eingriff in eine Kette ›urerster Schuld‹, die im ›Haus‹ entstanden ist und auch sie ohne eigenes Verschulden bedroht, ein verlässliches Wachstum des Guten begründet. Außerdem zeigt sie, dass der Übergang von tödlicher Gewalt zu lebensfreundlichem Recht in der gelebten Wirklichkeit ein außerordentlich schwieriger und immer wieder von Gegenkräften bedrohter Prozess sein kann. In der folgenden Interpretation soll deshalb den Verwicklungen nachgegangen werden, die erst nach langem und oft hoffnungslos erscheinendem Ringen bei allen am Konflikt Beteiligten die Besonnenheit aufkommen lassen, mit der tödliche Gegensätzlichkeit entspannt und ein sozialer Zusammenhang begründet werden kann, in dem eigene ›Tugend‹ das ›freudevollste, mit Sicherheit verbundene Leben‹ erzeugt und deshalb die Kraft entfaltet, sich einen ›Überfluss an Besitz und Gesundheit zu erwerben und zu bewahren‹.6

1. Die Handlung der Orestie und die theologischen Voraussetzungen ihrer Darstellung


Im ersten Teil der Tragödientrilogie kehrt Agamemnon aus Troja nach Argos zurück und wird dort von seiner Gemahlin Klytaimestra, die sich mit ihrem Schwager Aigisthos verbunden hat, ermordet. Sie rächt damit den Tod ihrer Tochter Iphigenie, die vor dem Aufbruch der Griechen nach Troja von ihrem Vater der Artemis geopfert wurde. – Der zweite Teil thematisiert die Rückkehr des von Klytaimestra früh aus dem Haus entfernten und bei Verwandten in Phokis aufgewachsenen Orest. Zentrum der Handlung ist die ihm von Apoll aufgetragene Rache an der Mörderin seines Vaters. – Der dritte Teil handelt vom Schicksal Orests, der von den Rachegeistern seiner Mutter auf den Tod verfolgt wird. Die Befreiung von ihrem Zugriff gelingt nicht durch die üblichen Reinigungsrituale7 und auch nicht in Delphi, sondern erst nach seinem Freispruch durch den Areopag in Athen, den Athene als »des Landes Herrscherin« (Eum. 288)8 bei dieser Gelegenheit als das Richtergremium einsetzt, das zukünftig für die Blutgerichtsbarkeit zuständig sein soll. Das Urteil erregt den Zorn der Erinyen, die daraufhin ihre Vernichtungsdrohung gegen die Polis richten. In dieser Situation kann die Stimme Athenes eine Wirklichkeit der Instabilität, der einseitigen Verfolgung normativer Ansprüche und einer sich selbst reproduzierenden Gewalt in eine Welt verwandeln, in der Menschen und Götter in wechselseitiger Gunst miteinander verbunden sind.9

Die Theologie, die der Orestie zugrunde liegt10, kennt das Göttliche als Einheit und Gegensatz zwischen alten, dunklen, unerbittlich handelnden chthonischen Gottheiten, die mit den Wachstumskräften der Erde und dem in ihrer Tiefe gelegenen Reich der Toten verbunden sind, und jungen, hellen, verhandlungsfähigen, rational argumentierenden olympischen Göttern, die primär in das Geschehen oberhalb des Erdbodens eingreifen. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die Theogonie Hesiods mit der für sie leitenden Vorstellung, dass der politisch-rechtlichen Herrschaft des Zeus innergöttliche Stasiskämpfe vorausgegangen sind, die in ihrer Heftigkeit den Gesamtbestand des Kosmos bedroht haben. Ihre Ursache waren die tyrannischen Ambitionen von Uranos und Kronos, die aus Furcht vor einem Rivalen unter den eigenen Söhnen mit hybriden Eingriffen in den naturhaften Vorgang der Lebensreproduktion Aufstände provoziert haben, die erst mit einem gewaltsamen Sieg der olympischen Götter über entfesselte titanische und gigantische Urkräfte beendet werden konnten. Die Entmachtung des Kronos durch Zeus markiert den entscheidenden Übergang von tyrannischer Gewalt zu politischer Ordnung. Weil sie auf einer gerechten, durch Vertrag und Versprechen gesicherten Verteilung von Macht beruht und dabei auch die Ansprüche vorolympischer Götter auf ›Ehre‹ berücksichtigt, scheint mit ihrer Errichtung die Gefahr einer innergöttlichen Stasis gebannt zu sein. Hesiods Darstellung der Überwindung eines Zustands der Gewalt durch die Herrschaft des Rechts ist als Vorbild für die Überwindung der Stasis durch die Herstellung einer politischen Ordnung in der menschlichen Welt konzipiert.

In der Rechtsordnung des Zeus war es die Aufgabe der Erinyen, als »Helferinnen der Dike«11 das Gesetz ihres königlichen Oberherrn zur Geltung zu bringen, nämlich die Bestimmung, dass derjenige, der die göttlich sanktionierte Ordnung des Lebens verletzt, das von ihm begangene Unrecht an sich selbst erleiden muss.12 Das gilt insbesondere für den ›Mord an verwandtem Blut‹ (Eum. 212), der als Muttermord nicht nur ein individuelles Verbrechen, sondern einen massiven Angriff auf die Reproduktionsquelle des menschlichen Lebens darstellt. Nach der Ermordung Klytaimestras durch Orest droht die Epoche der Einheit zwischen olympischen und chthonischen Göttern zu zerbrechen und muss deshalb auch im Blick auf die menschliche Welt neu gefestigt werden.

Athen hat in historischer Zeit aus einer hoch entwickelten Sensibilität für Tötungsdelikte weit gehende institutionelle Konsequenzen gezogen.13 Mordprozesse unterlagen einer strengen rituellen Form und waren besonderen Gerichtshöfen anvertraut, wobei der Areopag für vorsätzliche Morde an Bürgern Athens zuständig war.14 Auch in der Polis betrafen Tötungshandlungen zunächst das ›Haus‹ des Opfers, so dass in der Regel nur der nächste männliche Verwandte gegen den Täter Klage erheben konnte und das, wenn er seine ›Ehre‹ wahren wollte, auch musste. Vor...

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