1Der vorliegende Band behandelt das Strafprozessrecht, soweit es im juristischen Studium und in der ersten juristischen Staatsprüfung von Relevanz ist. Dieses regelt nicht bloß das rechtliche Vorgehen während eines Strafprozesses, der Hauptverhandlung vor einem Strafgericht, in dem über die Strafbarkeit des angeklagten Verhaltens einer bestimmten Person – der oder des Angeklagten – entschieden und – bejahendenfalls – grundsätzlich eine strafrechtliche Sanktion i. S. d. §§ 38 ff. StGB (Strafen, aber auch Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Anordnung der Einziehung etc.) verhängt wird. Vielmehr ist Gegenstand der Vorlesung zum Strafprozessrecht das gesamte Strafverfahren von der Aufnahme erster Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei bis hin zu einer rechtskräftigen Entscheidung, u. U. sogar darüber hinaus (z. B. bei einem Wiederaufnahmeverfahren gemäß §§ 359 ff. StPO). Präziser könnte das vorliegende Buch daher mit „Strafverfahrensrecht“ betitelt sein, doch entspricht dieser Terminus weder der traditionell als „Strafprozessrecht“ bezeichneten Lehrveranstaltung im Jurastudium noch der Gesetzesbezeichnung, denn die Hauptrechtsquelle des Strafverfahrensrechts ist die Strafprozessordnung (StPO), die freilich auch die strafverfahrensrechtlichen Handlungen außerhalb der Hauptverhandlung normiert.
2Dass bis heute von einem „Strafprozessrecht“ die Rede ist, hat aber durchaus seine inhaltliche Berechtigung, denn in der Tat ist der Strafprozess in Form einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht nicht nur die „Krönungsmesse“ des gesamten Prozederes, sondern zugleich notwendiges Ziel aller vorausgegangenen Akte der Strafverfolgungsbehörden. Aus der Perspektive des nachfolgenden Strafprozesses betrachtet, sind alle Maßnahmen im Zuge des Ermittlungs- und Zwischenverfahrens bloße Voraussetzungen des Prozesses; ohne Ermittlungsverfahren und Zulassung der Anklage im Zwischenverfahren kann es gar nicht zu einem Hauptverfahren kommen.
3Zurückliegende Missstände aufzuklären, ohne unmittelbar auf die Durchführung eines Strafprozesses zu zielen, mag das Anliegen diverser investigativ arbeitender Disziplinen und Institutionen sein (z. B. Geschichtswissenschaft, Presse, parlamentarische Untersuchungsausschüsse), wobei es jedenfalls um bessere Erkenntnis der Geschichte, u. U. auch um daraus zu ziehende Konsequenzen für die Zukunft geht; die Aufklärung einer Straftat durch die Strafverfolgungsbehörden zielt auf etwas davon Grundverschiedenes ab, geht es doch hierbei allein darum, die für eine von Rechts wegen strafbare Tat verantwortlichen Personen zu ermitteln, vor Gericht zu stellen, abzuurteilen und gegebenenfalls mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen. Eine Wahrheitsermittlung ausschließlich um einer Erkenntnis als solche willen ist dem Strafprozess fremd.
4Im Einzelfall mag bei minder schwerer Kriminalität zwar aus Sicht der Ermittlungsbehörden durchaus auch die Verhängung einer Strafe im Strafbefehlsverfahren i. S. von §§ 407 ff. (dazu näher Rn. 335 ff.), d. h. ohne eine Hauptverhandlung, nahe liegen, doch bleibt es in diesem Fall der betroffenen Person unbenommen, ihrerseits durch Einspruch gegen den Strafbefehl die Durchführung einer Hauptverhandlung und damit eines Strafprozesses zu erzwingen (vgl. § 410). Zulässig ist es auch, dass Ermittlungsbehörden zunächst einen Verdacht sowohl in Bezug auf eine Straftat als auch in Bezug auf eine bloße Ordnungswidrigkeit hegen, später aber nur letztere verfolgen; solange jedenfalls auch eine Straftat verfolgt wird, liegt (auch) ein Strafverfahren vor, geht es nur noch um eine Ordnungswidrigkeit bleibt allein ein Bußgeldverfahren i. S. des OWiG.1 An dieser Zielsetzung ändert sich auch nichts bei inzwischen auch im Strafrecht anzutreffenden „Pilotverfahren“ oder „Musterprozessen“, in deren Rahmen in einem einzelnen Strafverfahren zunächst bezogen auf eine angeklagte Person eine rechtliche oder tatsächliche Grundsatzfrage, die auch für eine Anzahl weiterer Strafverfahren gleichermaßen von Bedeutung ist, geklärt werden soll;2 danach müssten dann aber auch alle anderen beschuldigten Personen persönlich angeklagt und abgeurteilt werden.
5Die nachfolgenden Beispielsfälle sollen deutlich machen, dass die Aufklärung von vergangenem Unrecht wie auch deren Sanktionierung nicht notwendig in einem Strafverfahren stattfinden muss, es vielmehr auch alternative – und zwar staatliche wie nichtstaatliche – Verfahrensformen gibt, die für ihren jeweiligen Anwendungsbereich das Gleiche leisten können und sollen.
6Anhand der zwei folgenden Beispielsfälle soll mit Blick auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse (Fall 1) und das Sportverbandsstrafrecht (Fall 2) kurz dargestellt werden, welche Gemeinsamkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede bei nichtstrafrechtlichen Ermittlungs- und Sanktionsverfahren zu beachten sind:
Fall 1: Nach Bekanntwerden einer Parteispendenaffäre setzt der Deutsche Bundestag zu deren Aufklärung einen Untersuchungsausschuss ein, vor dem auch der ehemalige Bundeskanzler B aussagen soll. B verweigert vor dem Untersuchungsausschuss die Aussage, weil er sich nicht selbst belasten wolle.
Fall 2: Nach Bekanntwerden eines Doping-Falles anlässlich eines Sportwettkampfs in Deutschland entschließt sich das verbandsintern zuständige Sportschiedsgericht, das Verfahren gegen einen der betroffenen Sportler (S 1) „analog § 153 StPO“ wegen geringer Schuld einzustellen. Ein anderer Sportler (S 2) beruft sich während des laufenden Verfahrens auf die „Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK“; einem gegen ihn wegen des Doping-Vorwurfs von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Strafverfahren hält S 2, nachdem er eine Dopingsperre als Verbandsstrafe erhalten hat, das grundgesetzlich garantierte Doppelbestrafungsverbot (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegen.
Zum Fall 1: Der Untersuchungsausschuss ist ein vom Parlament, dem Bundestag und den Landtagen, eingesetztes parlamentarisches Gremium zur Kontrolle der Regierungsarbeit (vgl. Art. 44 GG). Wie auch die Strafermittlungsorgane zielt er damit auf die Aufklärung eines Sachverhalts in der Vergangenheit; auch sind die Beweismittel vergleichbar (z. B. Zeugenaussagen, Urkunden), weshalb das Beweisrecht der StPO entsprechend Anwendung finden soll (Art. 44 Abs. 2 GG) und Falschaussagen wie vor einem Gericht strafbar sind (§ 162 Abs. 2 i. V. m. § 153 StGB), doch zielt der Untersuchungsausschuss auf politische Reaktionen in Parlament und Regierung (z. B. Rücktritt eines Regierungsmitglieds) oder in der Öffentlichkeit (z. B. „Quittung“ bei den nächsten Wahlen), nicht dagegen auf ein Strafverfahren z. B. gegen B. Soweit es B also darum geht, bloß politischen „Flurschaden“ abzuwenden, darf er sich nicht auf ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht berufen; wegen der entsprechenden Anwendbarkeit auch von § 55 Abs. 1 StPO ist es aber zulässig, wenn er vor dem Untersuchungsausschuss Auskünfte verweigert, die dazu führen könnten, dass er wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt wird.3
Zum Fall 2: Ein Verbandsstrafverfahren ist ein Sanktionsverfahren gegenüber einer dem Verbandsrecht unterworfenen natürlichen oder juristischen Person (hier: des Sportlers). Zuständig hierfür ist ein privates, d. h. nichtstaatliches Gericht entweder in Form eines Verbandsorgans oder als von dem Verband unabhängiges (Sport-)Schiedsgericht. Wie bei einem Strafverfahren ist sein Gegenstand die Ermittlung eines vergangenen (verbands-)rechtswidrigen Verhaltens des Betroffenen sowie die Verhängung einer (verbands-)rechtlich dafür vorgesehenen (Verbands-)Strafe. Allerdings ist das Verbandsstrafverfahren als Ausdruck der Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) Teil der Zivilrechtsordnung, so dass es sich nicht um ein Strafverfahren handelt. Deswegen ist Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht ohne Weiteres unmittelbar anwendbar (eine Ausstrahlungswirkung kommt der Unschuldsvermutung allerdings mit Blick auf die Beweislastverteilung zu) und das Doppelbestrafungsverbot greift nicht; S 2 kann sich daher weder unmittelbar auf Art. 6 Abs. 2 EMRK noch auf Art. 103 Abs. 3 GG berufen. Wegen der vergleichbaren Zielrichtung beider Sanktionsverfahren ist es aber nicht ausgeschlossen, strafverfahrensrechtliche Institute wie die Unschuldsvermutung oder § 153 StPO auf Verbandsstrafverfahren entsprechend anzuwenden; daher ist die Einstellung des Verbandsstrafverfahrens gegenüber S 1 „analog § 153 StPO“ zulässig.