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»Mein Leben ohne Kleinhirn«
Wie fange ich an?
Vielleicht so: Mir geht es heute wieder gut. Sollten Sie oder ein Ihnen nahestehender Mensch sich gerade in einer ähnlichen Situation befinden wie die, in der ich vor drei Jahren war, hilft Ihnen diese Bemerkung gleich zu Beginn womöglich, besser mit dem umzugehen, was Sie lesen werden. Die Idee zu diesem Buchprojekt kam mir ein paar Wochen nach dem Schlaganfall. Bestärkt wurde ich durch unsere mittlere Tochter Lea Katharina (damals 14), durch Fragen während meiner Rehazeit – an mich als einen Betroffenen und eben Arzt – sowie Dutzende Mails, die mich nach einem am 1. Januar 2016 erschienenen Interview erreicht haben.
»Papa, schreib doch wieder mal ein Buch, das kann bestimmt vielen Menschen helfen«, sagte unsere Tochter Lea damals, »irgendwas wie ›Mein Leben ohne Kleinhirn‹ oder so …« Ich musste schmunzeln. Sie hatte so recht. Einfach wieder anfangen! Ich habe lange für dieses Manuskript gebraucht. Das meiste erst Ende 2017 und 2018 zu Papier gebracht. Viele Menschen motivierten mich immer wieder – meine Frau, meine Kinder, journalistische Vorbilder wie Uwe Bokelmann vom Bauer-Verlag (Ende 2015, er hatte auch die Idee zu einem Interview mit mir in einer der von ihm verantworteten Zeitschriften), seine Redakteurin Kerstin Kropac im Herbst 2017 und nicht zuletzt ein Brief meines späteren Lektors Uwe Birnstein, der im März 2018 fragte, ob ich nicht ein Buch über meine Schlaganfall-Geschichte schreiben wolle. Da war die Hälfte schon fertig – und diese Anfrage des bene!-Verlages brachte mir den notwendigen Schlussschwung.
Mein Schlaganfall ist nun knapp drei Jahre, also rund 1000 Tage her. Seitdem werde ich immer wieder als ein »medizinisches Wunder« bezeichnet. Nett. Dennoch: Ich schäme mich dann meistens ein wenig, weil ich nur zum Teil etwas dafür kann. Ich hatte Glück im Unglück. Die optimale, schnelle Therapie der ersten Stunden auf einer modernen Stroke-Unit war zweifelsohne die voraussetzende Bedingung für alles Folgende. Hinzu kam mein medizinisches Wissen als Arzt, der Mut der Verzweiflung (»Genesungstrotz« habe ihn genannt), der mich immer mal wieder gegen das System rebellieren und meinen Weg einfordern ließ. Weitere Aspekte meiner »heilenden Melange« waren mein Humor, ein unbeugsamer Optimismus, das Aufgefangensein in meiner Familie, das »Sich-eingebettet-Fühlen in etwas Größeres« und nicht zuletzt meine eiserne Entschlossenheit, es entgegen aller (!) Prognosen zu schaffen. Längst nicht auf alles konnte ich kämpfend Einfluss nehmen, dies sei einschränkend gleich zu Beginn gesagt. Vieles ist einfach Schicksal … leider. Oder zum Glück?! Wie kann man sich ein solches Kämpfen vorstellen? Ein gelähmter Arm ist schließlich gelähmt – genauso wie ein Tumor eben ein Tumor ist. Vielleicht so: Das wenige, was ich noch an Ressourcen hatte, habe ich genutzt. Ich bin unzählige Male mit Übungen oder Therapien gescheitert, habe mir ständig zu viel vorgenommen, es dann nicht geschafft. Es anders gemacht. Vielleicht ist es das: Zu kämpfen heißt, nicht aufzugeben. Sich nicht hinzulegen. Erneut sei jedoch gesagt: Dafür brauchen Sie, dafür brauchte ich Ressourcen – Optionen, die man nutzen kann. Es war mein Privileg, in dieser Situation nicht zu verzweifeln.
»Unmögliche Dinge passieren jeden Tag«, heißt es im Musical »Cinderella«. Das stimmt. Ich habe es erlebt. Deshalb gehört dieser Satz zu meinen Lieblingssätzen.
Mein Schlaganfall war äußerst unwahrscheinlich. Der Heilungsverlauf ebenfalls. Laut Statistik müsste ich tot, mindestens aber schwer eingeschränkt sein. Nichts davon bin ich. Gleich zweimal zeigte der Blick in die statistische Glaskugel etwas völlig anderes als das, was eintraf – zuerst, vor dem Schlaganfall, »trügerische Sicherheit« (»So was passiert mir nie!«), dann »schwärzeste Nacht« (»Das wird nix mehr!«). Fazit: Die Statistik ist – für den Einzelfall – nur eine Zahl ohne persönliche Aussagekraft.
Meine linke Hand ist nach wie vor etwas langsamer, mir ist im Stehen oder Gehen ständig schummrig, und ich sehe manchmal Doppelbilder, wenn ich müde bin. Auch ist eine Migräne mein fast täglicher Begleiter. Und müder als früher bin ich leider auch, besonders am frühen Abend. Mein Schlaganfall war eine Art Alterungszeitmaschine.
Bitte haben Sie beim Lesen Verständnis dafür, dass ich nicht beschreiben kann, wie diese Horror-Zeit für meine Kinder war. Ich kann mir nicht sicher sein, wie sie dies in einigen Jahren empfinden würden, wenn sie erwachsen sind.
Doch all das ist nichts im Vergleich zum 6. Mai 2015, dem Tag des Schlaganfalls, und dem 7. Mai 2015, dem ersten Tag auf der Stroke-Unit. Da ging wirklich nichts mehr – außer ruhig liegen. Jede noch so kleine Lageänderung verursachte unfassbaren Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Ständig hatte ich das Gefühl, aus dem Bett zu fallen. Ich konnte zunächst überhaupt nicht mehr sprechen, später nur lallen. Mein Müsli sabberte mir tagelang aus dem Mund, und an Stehen oder gar Laufen war nicht im Entferntesten zu denken. Seit frühen Kindertagen unbedachte, selbstverständliche Dinge waren einfach ausradiert. Meine linke Körperhälfte machte nichts – oder nur das, was sie wollte. Auf der rechten Seite war mein Berührungs-, Temperatur- und Schmerzempfinden fast erloschen. Nichts war mehr sicher. Auch ich meiner selbst nicht. Mein Gedächtnis war ein Sieb. Mein früheres Können weg. Nicht mal bis 30 konnte ich zählen, ohne den Faden zu verlieren. Ich wusste nicht mehr, welche Zahl ich zuletzt genannt hatte. Ich fiel auf mich selbst zurück. Meine Umwelt rückte weit weg. Ich brauchte alle Energie für mich. Meine Welt engte sich ein. Wurde immer kleiner. Einsamkeit. Ein existenzielles Minimum. Eine schlimme Erfahrung für mich, für meine Kinder, für meine Frau, für meine Eltern. Ich schwebte in akuter Lebensgefahr. Unbehandelt standen die Chancen 9 zu 1 gegen mich, behandelt etwa fifty-fifty. Bleibende massive Schäden waren nahezu sicher.
Mich hatte ein Blutgerinnsel in einem besonders empfindlichen Teil des Gehirns ereilt (in der Fachsprache: eine distale Arteria-basilaris-Thrombose). Mein Atem- und Kreislaufzentrum war ohne ausreichende Blutversorgung. Jede Sekunde zählte, um zu überleben. Jede Minute ohne Blutversorgung zerstört etwa zwei Millionen Hirnzellen in der betroffenen Region.
Dank schneller Auflösung (»Lyse«) des Blutgerinnsels hat es auf Dauer nur meine linke Kleinhirnhälfte (zuständig für die Bewegungskoordination der linken Körperhälfte) erwischt, Atem-, Kreislauf- und Bewusstseinszentrum (Hirnstamm) konnten sich größtenteils zum Glück wieder erholen. Zu Beginn sah das anders aus. Ein Risikofaktor mehr, eine schlechtere Fitness – und ich hätte den Schlaganfall wohl nicht überlebt.
Bis zum 6. Mai 2015 war ich aktiver Hobby-Sportler, bin mindestens dreimal pro Woche gejoggt (noch am Tag davor etwa acht Kilometer mit einem Kollegen), war ausgebildeter Presslufttaucher, zertifizierter Taucherarzt, seit 25 Jahren Snowboarder, zudem Surfer und Schwimmer – vor Jahren sogar mit Trainerlizenz in der DLRG. Blutdruck und LDL-Cholesterin waren früher zu hoch, aber gut eingestellt. Ich war Nichtraucher, normalgewichtig, ärztlich ausgebildet in Ernährungsmedizin. Beste Voraussetzungen also, dass nichts passiert. Es ist aber passiert. Da liegt die Frage schon nahe, die sich fast jeder stellt, ich mir auch, unzählige Male: Warum ich?
Ich habe schnell lernen müssen, dass sowohl die Frage als auch das Nachdenken darüber für mich sinnlos sind. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Risikofaktoren für Herzinfarkte, Gefäßerkrankungen und Schlaganfälle gilt es akribisch zu suchen, zu finden und möglichst zu beseitigen! Wir können so neun von zehn Herzinfarkten und Schlaganfällen verhindern. Ich tue dies als Arzt heute mehr denn je, mit großem Engagement, lasse meine Patienten auf extragroßen Monitoren ihre eigenen, im Ultraschall sichtbaren Gefäßablagerungen verfolgen. Jedoch kennt jeder von uns Menschen, die rauchen, hohen Blutdruck und Diabetes haben, sich nicht sportlich betätigen und trotz dieser Risikofaktoren bis ins hohe Alter keinen Schlaganfall bekommen.
Das Leben ist nicht fair. Im Guten wie im Schlechten. Es gibt nicht immer einen erkennbaren Sinn. Medizin ist Statistik, und Statistiken haben keinerlei Aussagekraft für den Einzelnen. Ich erwähnte es schon kurz. Es ist wie beim Lotto: Am Ende gibt es einen Gewinner – wie schlecht die Chancen für ihn auch standen. Auch mich hat es getroffen, nur kann man da nicht von einem Glücksfall sprechen.
Vielleicht sind Sie oder ein von Ihnen geliebter Mensch in einer ähnlichen Situation, wenn Sie diese Zeilen lesen. So wie ich damals. Prognosen sind das eine, Tatsachen das andere. Jeder Mensch ist einzigartig.
Um es klar zu sagen: Ein Schlaganfall ist echter Mist – die ersten Tage, Wochen, Monate waren bei mir unbeschreiblich angstbesetzt, deprimierend, niederschmetternd, kräftezehrend und frustrierend. Ich habe nie etwas Schwierigeres im Leben zu meistern gehabt.
Auf den nächsten Seiten werde ich sehr offen berichten. Ich werde Ihnen einen möglichst direkten Einblick in meine damalige Erlebniswelt gewähren – auch die dunklen Tage und die vielen Tiefen, selbst die intimen und peinlichen Momente nicht verschweigen. Warum? Ich habe es oft vermisst, dass meine Therapeuten mit mir offen reden, wahrscheinlich haben sie vieles selbst nicht gewusst. Ich möchte es in diesem Buch daher anders halten. Vielleicht hilft es Ihnen, besser zu verstehen oder besser verstanden zu werden. Das ist mir ein echtes Anliegen.
Nichts Menschliches sollte uns peinlich sein, so wir uns für aufgeklärt und modern halten. Egal, ob jemand schmunzelt, wenn ich über...