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Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen

Mit einem Manual zum Habit Reversal Training

AutorAlexander Münchau, Ewgeni Jakubovski, Kirsten Müller-Vahl, Valerie Brandt
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783170326552
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Große Verhaltenstherapie-Studien haben in den letzten Jahren eine Trendwende in der Therapie des Gilles de la Tourette-Syndroms eingeleitet. Dabei hat sich insbesondere das Habit Reversal Training (HRT) als effektiv durchgesetzt. Ausgehend von der klinischen Phänomenologie und den neurobiologischen Grundlagen der psychotherapeutischen Behandlung des Tourette-Syndroms, mit einem Hauptaugenmerk auf das HRT, bietet dieses Buch ein praxisrelevantes Manual für Erwachsene. Prof. Dr. Alexander Münchau ist Neurologe und Neuropsychiater an der Universität Lübeck. Dr. Valerie Brandt ist Lecturer im Department of Psychology der University of Southampton. Ewgeni Jakubovski ist Psychologe in der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl ist Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover.

Prof. Dr. Kirsten R Müller-Vahl ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, sie ist als Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Seelische Gesundheit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) tätig. Dr. rer. nat Valerie Brandt ist Diplom-Psychologin und forscht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neurogenetik der Universität zu Lübeck. Ewgeni Jakubovski ist Diplom-Psychologe und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe 'Tourette-Syndrom' am Zentrum für Seelische Gesundheit der MHH. Dr. med. Alexander Münchau ist Facharzt für Neurologie. Er hat seit 2013 eine W3-Stiftungsprofessur 'Bewegungsstörungen und Neuropsychiatrie bei Kindern und Erwachsenen' am Institut für Neurogenetik der Universität zu Lübeck inne.

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Leseprobe

A         Klinische Phänomenologie und Komorbiditäten


A. Münchau, V.C. Brandt


A.1       Einleitung


Tics sind die häufigsten Extrabewegungen im Kindesalter (Bäumer et al. 2016). Dabei kommt vorübergehenden Tics bei Kindern im Laufe der motorischen Entwicklung per se kein Krankheitswert zu. Einfache, vorübergehende Tics wie Augenblinzeln, Naserümpfen oder Augenbrauen hochziehen treten bei sehr vielen, ansonsten gesunden Kindern auf, ohne dass dieses den Betroffenen bewusst ist oder zu Einschränkungen führt. Es mehren sich Hinweise darauf, dass Tics nicht notwendigerweise etwas »Abnormes« darstellen, eine Störung sind oder ein Defizit bedeuten, sondern Ausdruck eines für Lernvorgänge im sich entwickelnden motorischen System nützlichen Überschusses sein könnten (Brandt et al. 2016a; Tunc und Münchau 2017; Beste und Münchau 2017).

Allerdings können chronische Tics auch zu vielfältigen Beeinträchtigungen führen und Symptom gravierender Erkrankungen sein. Am häufigsten treten Tics als Leitsymptom eines Gilles de la Tourette Syndroms auf.

A.2       Definition und Charakteristika von Tics


Tics sind plötzlich auftretende, rasche, sich wiederholende, zumeist nicht rhythmische Bewegungen (motorische Tics) oder Laute (vokale Tics), die im Bewegungsablauf physiologischen Willkürbewegungen ähneln, allerdings im falschen Kontext, vermehrt, übertrieben oder überakzentuiert auftreten (Robertson 2000; Paszek et al. 2010) (Beispiele 1 und 2,  Kap. Sitzung 1). Motorische Tics resultieren aus Bewegungen der Skelettmuskulatur. Führen sie zu kurzen, umschriebenen Bewegungen an nur einem Körperteil, werden sie als einfache motorische Tics bezeichnet. Motorische Tics treten vor allem im Gesicht, am Kopf, an der Schulter und an den Armen auf, können jedoch auch den Rumpf und die Beine betreffen (Leckman 2002; Ganos et al. 2015). Bei komplexen motorischen Tics, die scheinbar einen Zweck erfüllen, sind verschiedene Muskelgruppen beteiligt. Eine Sonderform eines komplexen motorischen Tics ist die Kopropraxie (Zeigen obszöner Gesten).

Vokale Tics treten am häufigsten als einfache vokale Tics wie Räuspern, Schniefen, Husten und Nase hochziehen auf. Nur selten kommt es zu lauten Ausrufen oder Schreien. Gerade bei Kindern werden gering ausgeprägte einfache vokale Tics oft fehlgedeutet, z. B. als Ausdruck einer Erkältung oder Allergie. Deutlich seltener – meist bei schwerem Tourette-Syndrom mit mehreren Komorbiditäten (s. u.) – treten komplexe vokale Tics und eine Koprolalie (Ausrufen obszöner Wörter) hinzu.

Tics können isoliert, aber auch in Serien auftreten. Sie sind im Schlaf meist deutlich geringer ausgeprägt, können aber in allen Schlafstadien vorkommen (Hanna et al. 2003). Manchmal lassen sich Tics durch externe Stimuli auslösen, z. B. Berührung der Haut oder bestimmte Geräusche. Im Laufe der Zeit ändert sich häufig das Tic-Repertoire eines Betroffenen. Bestehende Tics klingen ab, neue treten auf. Manche Tics verbleiben dauerhaft im Repertoire eines Patienten. Interessanterweise fluktuieren Tic-Repertoire und -Frequenz bei Kindern deutlich stärker als bei Erwachsenen.

A.2.1     Vorgefühl vor Tics


Typischerweise geht Tics ein Vorgefühl voraus, das nach dem Auftreten eines Tics in der Regel zumindest vorübergehend wieder abklingt (Bliss 1980; Brandt et al. 2016b). Über 90% der erwachsenen Patienten mit Tourette-Syndrom berichten, dass ihre Tics mit einem unangenehmen Vorgefühl einhergehen (Leckman et al. 1993; Woods et al. 2005). Die Qualität dieser Vorgefühle wird sehr unterschiedlich beschrieben. Die Beschreibungen reichen von einem Druckgefühl über Kitzeln, Kälte- oder Wärmeempfindungen (Banaschewski er al. 2003), bis zu einem generellen inneren Druck- oder Anspannungsgefühl (Miguel et al. 1995). Viele Patienten berichten einen Drang, sich in bestimmter Weise bewegen zu müssen, d. h. einen Tic auszuführen. Die Dringlichkeit des Vorgefühls wird manchmal mit einem Juckreiz oder dem Reiz zu Niesen verglichen (Lang 1991; Leckman und Riddle 2000). Vorgefühle können überall im Körper auftreten, meist werden sie allerdings an der Körperstelle verspürt, an der auch Tics auftreten (Miguel et al. 1995). Sie gehen Tics einige Sekunden voraus und klingen nach der Ausführung eines Tics oder mehrerer Tics (Tic-Gruppen) wieder ab (Brandt et al. 2016b). Daher werden viele Tics auch als eine willentliche Reaktion auf das Vorgefühl wahrgenommen, nicht als rein unwillkürliche bzw. automatische Bewegungen (Crossley et al. 2014, Kwak et al. 2003; Leckman et al. 1993). Wenn Tics unterdrückt werden, bleibt das Vorgefühl tendenziell länger auf einem hohen Niveau, als wenn Tics nicht unterdrückt werden, bis es von einem Tic erleichtert wird (Brandt et al. 2016b). Dieser Zusammenhang legt nahe, beweist jedoch nicht, dass Tics durch das Vorgefühl »getrieben« werden, was auch dem klinisch berichteten Empfinden vieler Patienten entspricht.

Besonders von erwachsenen Patienten mit Tourette-Syndrom wird der den Tics vorhergehende Drang als eines der Kardinalsymptome und oft sehr belastend erlebt (Crossley und Cavanna 2013). Nicht selten wird dieses Vorgefühl als störender und unangenehmer empfunden als die Tics selbst. Kleinere Kinder hingegen verneinen oft ein derartiges Vorgefühl, wenn man sie danach fragt. Mit zunehmendem Alter werden Vorgefühle häufiger von Patienten mit Tourette-Syndrom berichtet (Banaschewski et al. 2003; Sambrani et al. 2016).

A.2.2     Unterdrückbarkeit von Tics


In der Regel lassen sich Tics für eine gewisse Zeit unterdrücken bzw. aufschieben. Betroffene sind oft bemüht, Tics vor anderen, z. B. Klassenkameraden, Kollegen oder Fremden, zu verbergen, so dass z. B. der Arzt während der Untersuchung oft keine oder nur wenige Tics beobachten kann. Die Tic-Unterdrückung gelingt am effektivsten in Körperregionen, die am wenigsten von Tics betroffen sind (Ganos et al. 2015), ist folglich selektiv und nicht global. Die Frage, ob die Fähigkeit, Tics zu unterdrücken, von Vorgefühlen determiniert wird, wurde lange empirisch und intuitiv bejaht. Studien, die sich dieser Frage explizit widmeten, konnten diesen Zusammenhang allerdings nicht belegen und vielmehr eine von den Vorgefühlen unabhängige Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung aufzeigen (Banaschewski et al. 2003; Ganos et al. 2012a; Müller-Vahl et al. 2014). Auch diese Befunde stützen die Annahme, dass dem Vorgefühl und Tics zumindest teilweise unterschiedliche neuronale Generatoren zugrunde liegen.

A.2.3     Fluktuationen von Tics


Tics fluktuieren. Phasen mit häufigen Tics wechseln sich ab mit Phasen, in denen wenige oder keine Tics auftreten (Petersen und Leckman 1998). Solche Fluktuationen kommen in kürzerem Zeitrahmen (Minuten oder Stunden), aber auch über längere Zeiträume (Wochen oder Monate) vor ( Abb. A.1). Bei den meisten Betroffenen nehmen Tics situativ bei Anspannung, Stress, Unruhe und Langeweile zu und flauen bei Konzentration und Entspannung ab (Depboylu et al. 2012).

Abb. A.1: Schematische Darstellung von Tic-Fluktuationen

A.2.4     Einflussfaktor Aufmerksamkeit


Ein weiterer bedeutsamer Einflussfaktor auf die Tics ist die Aufmerksamkeit. Dies ist im Gespräch oft eindrucksvoll zu beobachten, z. B. beim Wechsel von Tic-bezogenen zu anderen, für Patienten bedeutsame Themen. Auch experimentell ist dies gut belegt: Beispielsweise wurde die Tic-Häufigkeit in einer naturalistischen Studie bestimmt, während Patienten alleine in einem Raum saßen, ohne sich selbst zu betrachten, während sie in einen Spiegel blickten, somit ihre eigenen Tics fortlaufend beobachteten und während sie sich Videosequenzen von sich selbst ohne Tics ansahen (Brandt et al. 2015). Die Tics waren hierbei am stärksten ausgeprägt, während sich Patienten im Spiegel betrachteten. Gerichtete Aufmerksamkeit auf Tics, nicht jedoch grundsätzlich auf das eigene Bild bzw. eigene (nicht-Tic) Bewegungen, führt somit zu einer Tic-Verstärkung. Auch eine andere Verhaltensstudie, in der gerichtete Aufmerksamkeit auf Tics, auf eigene Fingerbewegungen oder eine gezeigte Farbe miteinander verglichen wurde, belegte eine Zunahme der Tic-Frequenz durch fokussierte Aufmerksamkeit auf Tics (Misirlisoy et al. 2015). Diese Experimente deuten – untermauert durch klinische Beobachtungen – darauf hin, dass verhaltenstherapeutische Ansätze, bei denen gezielt die...

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