Verlockungen vor dem ersten Sonnenstrahl
Das Internet kennt mich zu gut. Nach 20 Jahren Beziehung weiß es genau, wie es mich kriegt. Und wenn ich von mir spreche, dann meine ich mein Geld. Und meine Lebenszeit, natürlich. Das Internet will nur mein Bestes.
Es ködert mich mit Versprechen von Liebe, Freundschaft, der Geborgenheit eines Chats und dem Endorphinschub nach einem lustigen Video. Und dank Big Data streut es noch Werbung für Sportschuhe, Kleider, Reisen und Fahrräder ein. Perfekt auf mich zugeschnitten: Ich liebe alles, was ich sehe. Nur Sportschuhe habe ich inzwischen wirklich genug – danke, Internet.
Und dann sind da noch die Heilsversprechen. Versprochen wird mir nicht weniger als der ganz große Hauptpreis im Leben: mein besseres Ich. Die Suche nach dem besseren Ich ist ein gigantischer Markt. Die Suche nach einem Ich, das all die guten Dinge verdient hat – emotional gesprochen, wirtschaftlich aber auch. Ein optimales Ich. Und natürlich: das richtige Ich. Das Ich, das ich wäre, wenn ich nicht irgendwann aus der Spur geraten wäre.
Eigentlich finde ich mich gar nicht mal schlecht, aber es geht vermutlich noch um einiges besser. Diese Frau, die beim Joggen regelmäßig von Schmetterlingen abgehängt wird, das bin nicht wirklich ich. Mein wirkliches Ich steht frühmorgens auf und hat beim Laufen dann Spaß. Das Internet weiß das natürlich. Und es verspricht mir das Blaue von einem wolkenverhangenen Himmel herunter, wenn ich nur diese Schuhe kaufe, diesen virtuellen Trainer engagiere und meine minderbemittelte innere Mitte zentriere. So einfach ist das.
Mehr Produktivität, mehr Gelassenheit und natürlich viel mehr Glück und Gesundheit gewinne ich dem Internet zufolge, wenn ich morgens um 5 Uhr in der Frühe aufstehe, 7 Minuten Sport mache, 15 Minuten meditiere und dann 30 Minuten lese. Und zwar auf Papier und keinesfalls Nachrichten. All das vor dem Frühstück und vor dem ersten Sonnenstrahl. Der Weg zur besten Version meines Selbst ist gepflastert mit Aufgaben, Anforderungen, Verlockungen, Regeln und Hashtags. #morningrun, weil man das ja morgens so macht und weil der Hashtag eine Routine suggeriert. Und jeder Tag beginnt mit einer neuen Liste mit sieben Dingen, die glückliche Menschen jeden Morgen tun. Ich hingegen putze mir jeden Morgen die Zähne und ziehe Kleidung an – damit bin ich komplett ausgelastet. Aber wo ist der Hashtag #morgenszähnegeputzt? Wo ist #successfullydressedinmyworkingpajama? Die kleinen Erfolge des Alltags, die feiert wieder keiner.
Warum ist besser sein so anstrengend?
Wenn Instagram recht hat, machen sich glückliche Menschen morgens eine Schale Açaíjoghurt mit Sternchenbananen und ebenso exotischen wie wirkungsfreien Körnern. Dazu gibt es einen Smoothie, gleich mit Rabatt-Code für noch mehr Produkte für den perfekten Start in den Tag. Glückliche Menschen bekommen viele Rabatt-Codes und fangen entweder ganz schön spät mit ihrer Arbeit an – oder sie schlafen echt wenig.
Und das soll mein Leben besser machen?
Nicht mit mir. Natürlich wollen wir besser sein. Ich will auch gern besser sein. Ich frage mich nur, warum das so verdammt anstrengend sein soll. Und warum es schon so früh am Morgen stattfinden muss. »Besser« bedeutet in unserer Gesellschaft in der Regel »Schaff mal mehr!«. Und mit »mehr« meinen wir: die Arbeit, die Hausarbeit, den Konsum. Moderne Übermenschen haben alles im Griff, nehmen sich, was sie wollen, schaffen, was sie müssen, und machen noch das kleine bisschen Mehr, damit alles perfekt aussieht. Wir nennen es Optimierung, aber in Wahrheit ist es eine Materialschlacht. Und das Material sind wir selbst. Unser Körper, unsere Energie, unser Seelenfrieden.
Ich finde Konsum noch nicht einmal schlecht. Es gibt einen Grund, warum mir in Werbeanzeigen Sportschuhe, Kleider, Reisen und Fahrräder gezeigt werden. Ich mag diese Dinge. Das Internet weiß, dass ich sie gern mag. Ich hätte sogar gern noch ein Fahrrad mehr – in Berlin sollte man immer ein oder zwei als Reserve halten. Auch das weiß das Internet, da bin ich mir sicher.
Das Internet könnte mich zum perfekten Menschen machen, jedenfalls behauptet es das. All die Instrumente und Methoden sind schon da, ich müsste nur ein wenig investieren: Zeit, Geld, Morgenstunden, Sie wissen schon. Und was ich nie für ein Thema gehalten habe, ist plötzlich eine gigantische neue Welt aus Produkten und Dienstleistungen geworden.
Die Selbstoptimierung.
Ich bekomme Lösungen für Probleme, die ich noch nie hatte, und Lösungen für Probleme, die ich vielleicht habe – die mir aber nie als Problem erschienen waren.
Selbstoptimierung ist der Versuch, dem Leben gerecht zu werden, auf alles vorbereitet zu sein. Und sie ist allgegenwärtiger, als ich dachte. Wir nennen es nicht so. Aber wir tun es alle. Optimierung ist längst zum Teil unserer Identität geworden. Das ist manchmal gut, wenn wir unser Streben gezielt einsetzen und sorgsam dosieren. Es kann aber auch problematisch sein. Nämlich immer dann, wenn die Selbstoptimierung uns mehr kostet, als sie bringt. Da kann man den Begriff der »Optimierung« schon mal hinterfragen. Aus diesem Gedanken ist dieses Buch entstanden.
Optimierung verspricht uns eigentlich ein »Weniger«.
Verkauft wird uns aber ein »Mehr«. Und am Ende des Tages kennen wir alle Details der neuen Methode zum besseren Leben. Nur uns selbst, uns kennen wir nicht mehr. Wir haben uns erfolgreich verdrängt.
Ein teures Beispiel: Coaching. Liegt voll im Trend. Ich wollte das auch mal machen, nach meiner Arbeit an meinem letzten Buch »Die Entdeckung des Glücks«.1 Ich hatte gerade ein Jahr damit verbracht zu erklären, wie wir mit kleinen Veränderungen im Berufsleben glücklicher werden. Und wieso solche kleinen Veränderungen wirksamer sind als große, anstrengende, teure. »Grandioses Thema fürs Coaching!«, befanden 100 Prozent meiner Freunde.
Nachdem ich mich intensiv mit Coaching-Ausbildungen auseinandergesetzt hatte (um mich selbst ein bisschen optimaler auszubilden und dann andere zu optimieren), bekam ich im Facebook-Newsfeed eine Werbeanzeige für einen Coach, der Coaches coacht. Kein Scherz! Coaching ist auch Selbstoptimierung. Nur halt in besonders teuer. Trotzdem ist es ein gigantischer Trend geworden. Alle reden darüber! Warum? Weil es zu viele Coaches gibt. Ich kenne mehr Menschen mit Coaching-Zertifikat als Menschen, die mal gecoacht wurden. Wenn das kein Trend wäre, die Leute wären alle so arbeitslos wie vor ihrer Ausbildung.
Das Internet weiß einfach, was wir brauchen. Hinter diesem Wissen stecken große Datenbanken. Sie merken sich jeden Klick, sie merken sich sogar, ob wir länger auf einen Beitrag schauen, wie weit wir einen Text lesen, wer unsere Freunde sind und wo wir gern essen gehen. Sie kennen alle unsere Schwächen und sie wissen, was wir für unsere Schwächen halten. Sie wissen, wo sie angreifen müssen. Als »Datenkraken« verteufeln wir die Unternehmen, die alles einsammeln. Dabei verraten wir ihnen unsere Geheimnisse freiwillig. Ein Reiseunternehmen verwendet meine Daten nicht gegen mich, wenn es mir verlockende Bilder eines Ortes anzeigt, an den ich gern reisen würde. Der Konzern hasst mich ja nicht. Er mag mich. Er will ein paar Sachen mit mir unternehmen und er ist überzeugt davon, dass ich den Spaß meines Lebens hätte. Er zeigt mir, was ich sehen will. Und damit folgt er seinem Unternehmenszweck: mein Geld einzusammeln, indem er mir Glück verspricht. Das finden Sie zu idealistisch? In Kapitel 6 reden wir genauer darüber. Und ja, es gibt Einschränkungen. Aber bleiben wir mal bei der Idee.
Gute Werbung verspricht immer Rettung
Wer als Kind Limonade verkauft hat, der tat das auch eher an heißen Tagen am Rande der beliebten Laufstrecke. Im Winter bei Feierabend vor dem Firmenausgang wäre der Erfolg möglicherweise begrenzt gewesen, denn die Limonade hat an einem kalten Tag und kurz vor dem Heimweg keinen Wert für uns. Im Sommer kann sie die Welt bedeuten. Gerettet. Und eine Werbeanzeige mit Strandfoto kommt genau zur richtigen Zeit, wenn wir sie kurz nach dem Mittagessen in unserem Smartphone sehen. Wenn der Arbeitstag noch nicht einmal halb rum ist und der nächste Urlaub noch so wahnsinnig fern.
So ist Konsum auch immer etwas Emotionales: Gut gemacht zeigt uns die Werbung genau das, was wir gerade brauchen. Deshalb sehen wir bei Fußballspielen Werbung für Bier und während der »Rosenheim-Cops« Spots für Hämorrhoiden-Cremes. Je nach Lebenslage können diese Dinge unser Leben verdammt viel besser machen – obwohl ich überzeugt bin, dass vielen Fußballfans mit der Hämorrhoiden-Creme besser gedient wäre und die Rosenheim-Cops nach zwei Bier viel lustiger sind.
Übrigens musste ich googeln, wie man Hämorrhoiden-Creme schreibt, und ich bin mir sicher, das Internet wird es mich monatelang bereuen lassen.
Wer sich selbst sucht, der übersieht sich
Selbstoptimierung. Was für ein Wort. Meine Freundin Emma war es, die dieses Konzept in mein Leben brachte, das ist schon ein paar Jahre her. Emma ist Mitte 30 (war sie damals natürlich noch nicht), hat eine Tochter (hatte sie damals noch nicht), ein Herz für den Planeten (hat sie schon länger) und eine fragwürdige, aber äußerst einträgliche Arbeitseinstellung: Viel hilft viel. Emma ist in meinem Freundeskreis die mit dem Geld, die, die nie Zeit hat, und die, die trotzdem jeden Morgen Yoga macht. Natürlich. Ich bin ein bisschen neidisch, aber ich habe auch wirklich gern frei. Krasser Zielkonflikt.
Emma entdeckte eines schönen Sommertages das Thema »Quantified Self«. Das Ich quantifiziert, also in Zahlen...