NU ABER! – ECKHARTS WELT
Ein Wirrkopf will nach Avignon
Stellen Sie sich vor, Sie sind Außendienstmitarbeiter einer einflussreichen Firma und für ein Gebiet zuständig, das von Thüringen über Brandenburg nach Mecklenburg und über Hamburg bis in die Niederlande reicht. Und leider haben Sie keinen Führerschein, kein Auto und die Bahn ist noch gar nicht erfunden. Sie müssen alle Wege zu Fuß bewältigen und das sind viele. Zu ihren Aufgaben gehört nämlich, Dutzende von Klöstern zu besuchen, um zu überprüfen, ob dort alles im Sinne ihres Auftraggebers, der päpstlichen Kirche, seine Ordnung hat. Zugleich sind Sie für das seelische Wohl der Mönche und Nonnen in den Klöstern zuständig. Außerdem wollen Sie theologisch forschen, Predigten und Traktate verfassen, um auf revolutionäre Weise das Evangelium völlig neu auszulegen. Ganz schön viele Aufgaben, die einem Energie, Geduld und Beharrlichkeit abverlangen.
Meister Eckhart hat genau diese Herausforderungen bewältigt. Man darf vermuten, dass er seine Kraft aus der Seins-Erfahrung im Nu schöpfte. Dafür standen ihm zahlreiche Praktiken zu Verfügung. Aus seinen Predigten geht hervor, dass er z. B. das unablässige Beten kannte. Er war viel zu Fuß unterwegs und so praktizierte er es womöglich im Gehen. Beim unablässigen Beten wiederholen die Betenden ständig ein Wort oder einen kurzen Satz wie z. B. »Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner«. Die Gedanken kommen zur Ruhe und man kann in einen anderen Bewusstseinszustand gelangen.
Wie wäre es mit einer kleinen Erholungspause à la Meister Eckhart? Im Zen-Buddhismus ist die Geh-Meditation eine beliebte Methode, sich nach einer Sitzmeditation zu bewegen und trotzdem Achtsamkeit zu üben. Dabei richtet man seine Aufmerksamkeit auf ein Mantra oder seine Körperempfindungen. Durch die Verlangsamung der Gehbewegungen ist es einfacher, die Körperempfindungen wahrzunehmen. Grundhaltung: - •Lassen Sie die Hände seitlich neben ihrem Körper hängen. Sie können sie auch vor oder hinter ihrem Körper locker ineinanderlegen. Die Knie sind locker und möglichst nicht durchgedrückt.
- •Erspüren Sie den Boden unter ihren Füßen. Atmen Sie tief ein und nehmen Sie Ihren Atem wahr.
- •Neigen Sie den Kopf und achten Sie darauf, was Ihre Füße spüren.
Pendeln: - •Pendeln Sie mit dem Oberkörper zwei-, dreimal hin und her und erspüren Sie, wie die Gewichtsverlagerung sich in Beinen und Füßen auswirkt.
Gehen: - •Verlagern Sie das Gewicht vom rechten Fuß auf den linken Fuß. Das Gewicht ruht nun auf dem linken Fuß. Nun heben Sie langsam den rechten Fuß, beginnend mit der Ferse, dann kommt die Fußsohle und am Schluss heben Sie die Zehen.
- •Machen Sie einen langsamen Schritt vorwärts und versuchen Sie, den Fuß wieder achtsam abzusetzen, wieder beginnend mit der Ferse. Versuchen Sie, dabei eine gleichmäßige, fließende Bewegung zu machen.
Beim nächsten Schritt verlagern Sie ihr Gewicht auf den rechten Fuß und wiederholen den gerade beschriebenen Bewegungsablauf entsprechend. Die Kunst liegt darin, die kleinsten Veränderungen zu erfühlen. Die Muskeln spannen sich an, entspannen wieder. Wie fühlen sich Fußrücken, Spann, Zehen, Ferse an? Die Waden? Machen Sie auf diese Weise fünf Schritte. Sicherlich kommen Gedanken und ziehen Aufmerksamkeit von Füßen und Beinen ab. Das ist ganz normal. Versuchen Sie dann einfach, sanft zu den Bewegungen und Empfindungen zurückzukehren. |
Eckhart soll im Jahr 1260 in Hochheim oder Tambach geboren sein, einem Ort in Thüringen, als Sohn eines adligen, aber verarmten Rittergeschlechts. Sein Name Eckhart bedeutet: stark wie ein Schwert. In jungen Jahren trat er in das Dominikanerkloster in Erfurt ein, das heute noch steht. Der Dominikaner-Orden war Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden. Die Mitglieder waren vor allem als Prediger und Seelsorger tätig, was auch bedeutete, dass sie die Bekämpfung der Häresie, des »Glaubensirrtums«, zu ihren Zielen zählten. Der Orden schickte Eckhart 1293 nach Paris, dort sollte er seine Studien fortsetzen und erste Lehrveranstaltungen durchführen. Belegt ist, dass Eckhart Ostern 1294 in Paris predigte. Im selben Jahr scheint er nach Erfurt zurückgekehrt zu sein. 1302 wurde er in Paris zum Doktor der Theologie promoviert und so zu einem »Magister«. Da er mit den Ideen griechischer, jüdischer, islamischer Philosophen vertraut war, bot man ihm den für Nichtfranzosen reservierten Lehrstuhl an der Sorbonne an und er sagte zu. Diese Auszeichnung war vor ihm nur dem Philosophen Thomas von Aquin zuteil geworden.
1303 wurde der 43-jährige Eckhart in Erfurt zum ersten Provinzial gewählt, dem Leiter der Dominikaner-Ordensprovinz Saxonia, verantwortlich für Organisation und Leitung der Konvente und Provinzkapitel. Die Provinz bestand aus 47 Männer- und 9 Frauenklöstern. Fortan nahmen seine administrativen Aufgaben Meister Eckhart in Anspruch, verbunden mit langen Märschen durch unwegsames Gelände, um die Klöster aufzusuchen. Etwa acht Jahre später, 1310 oder 1311, mittlerweile ist Eckhart Anfang fünfzig, kehrte er nach Paris zurück, wo er die Hinrichtung von Margarete Porète erlebt haben könnte, einer Begine, die sich weigerte, ihre mystischen Lehren zu widerrufen.
Ab 1313 begann für Meister Eckhart eine besondere Schaffenszeit. Er übernahm das Amt des Generalvikars der Dominikaner in Straßburg, womit die Führung der Seelsorge für 65 süddeutsche Frauen-Klöster und vielleicht auch Beginengemeinschaften verbunden war. Dahinter steckte Kalkül des verantwortlichen Bischofs: Die Kirchenoberen wollten die Kontrolle über die Klöster behalten, insbesondere vermeiden, dass sich in ihnen eine eigenständige und darum potenziell gefährliche Spiritualität entwickelte, wie zuvor bei den Beginen. Doch anstatt die Frauen zu kontrollieren, hielt Meister Eckhart Predigten, die eine inhaltliche Nähe zur Spiritualität der Beginen aufwiesen und auf große Begeisterung stießen – nicht zuletzt, weil er auf Deutsch sprach, sodass ihn im deutschsprachigen Raum jeder verstand. Seine Nähe zu den Beginen und den »Brüdern und Schwestern des freien Geistes«, pantheistisch-mystisch Glaubender, machten Eckhart verdächtig. So kam es, wie es kommen musste: 1325 klagten die Ordensbrüder in Köln Eckhart der Häresie an. Der Prozess begann in Köln. In dessen Verlauf berief Eckhart sich auf den Papst und verlangte, sich vor einem päpstlichen Gericht rechtfertigen zu dürfen. Und tatsächlich, so sollte es geschehen: in Avignon, wo der Papst wegen Machtkämpfen in Rom damals residierte.
Drei seiner treuesten Mitstreiter begleiteten Meister Eckhart auf den neunhundert Kilometern in die südfranzösische Stadt. Etwa sechs Wochen dauerte die Reise. Unterwegs lauerten Räuber sowie die Soldaten zwielichtiger lokaler Fürsten und gefährliche Krankheiten. Warum nahm Eckhart mit 68 Jahren eine derart beschwerliche Reise auf sich? Er muss gehofft haben, ihm werde Gerechtigkeit widerfahren – von Papst Johannes XXII., einem der habgierigsten und machtbesessensten Kirchenführer der Kirchengeschichte. Dieser wendete die Inquisition mit aller Härte an, doch Eckhart sah einen Vorteil darin, dass das Verfahren in Avignon nach festgelegten Regeln erfolgen und er damit nicht der Willkür seiner Kölner Gegenspieler unterworfen sein würde. Zuhause bedrohten ihn nämlich der Kölner Bischof und seine Dominikanerbrüder, die eigene Interessen verfolgten. Am päpstlichen Hof fielen diese lokalen Konflikte weg. Hier zählten eher theologische Gutachten.
Papst Johannes XXII. residierte 18 Jahre im Amt. Von 1316 bis 1334 wurden in seinem Namen unzählige Ketzer verfolgt, verurteilt, ertränkt und verbrannt. Der Vorwurf im Prozess gegen Meister Eckhart lautete: Er sei ein Irrlehrer, der die Theologie der Kirche absichtlich verfälsche, um sich Vorteile zu verschaffen und andere Menschen zu verführen. Eckhart wusste sehr genau, was die Anklage bedeutete: Heinrich von Virneburg, der Erzbischof von Köln, der im Namen des Papstes Hunderte von Ketzern auf dem Gewissen hatte, war ihm auf den Fersen. Auch Eckhart drohte der Scheiterhaufen, falls seine Verteidigung misslänge.
Die kirchliche Ermittlung lag ausgerechnet in den Händen der Dominikaner, vom Volk auch als »Hunde des Herrn« bezeichnet. Seine eigenen Ordensbrüder hatten Meister Eckhart denunziert, und er hatte seine Meinung öffentlich kundgetan und nicht an drastischen Worten gespart. Er hatte kirchlichen Amtsträgern vorgeworfen, Geld zu verprassen und sich nicht um die Bedürftigen zu kümmern. Es wundert nicht, dass eine an Pfründen und Ämtern interessierte Klerikerschaft folgende Äußerungen unerfreulich fand:
»Die nach nichts trachten, weder nach Ehren noch nach Nutzen noch nach innerer Hingabe noch nach Heiligkeit noch nach Belohnung noch nach dem Himmelreich, sondern auf dieses alles verzichtet haben, auch auf das, was das Ihrige ist, – in solchen Menschen wird Gott geehrt.«10
Meister Eckhart
Völlige Armut, um Gott die Ehre zu geben? Eine skandalöse Forderung in den Augen jedes Funktionärs, der im Domkapitel ein Leben in Luxus haben konnte!
Und erst das:
»Der Vater zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Was immer Gott wirkt, das ist Eines; darum zeugt er mich als seinen Sohn ohne allen Unterschied.«11
Meister Eckhart
Was für eine Behauptung! Gott zeugte also mich, den Menschen, ohne...