Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage
1974, also vor über fünfundzwanzig Jahren, erschien in den USA die erste Auflage von ‹Depression als Lebenschance›, 1986 folgte eine weitere Auflage, während die deutsche Ausgabe 1997 ihr 150. Tausend erreichte. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich all diejenigen, die unter Depressionen leiden, ermutigen möchte, ihren Zustand zu erkennen und zu akzeptieren – nicht als ein Grund zur Scham, sondern als ein Anlass zur Hoffnung. Denn depressiv zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, krank zu sein. Krank wird erst, wer nicht zugeben will, dass er depressiv ist, wer immer tiefer in seine Depression hineingerät, bis ihm alles über den Kopf zu wachsen droht; wer eine depressive Phase nicht nach einer angemessenen Zeit aus eigener Kraft überwindet und außerstande ist, aus der erfolgreichen Bewältigung einer depressiven Phase zu lernen und gereift daraus hervorzugehen.
Ich werde oft gefragt, warum ich im Titel meines Buches die Depression als eine «Lebenschance» bezeichne. Damit meine ich, dass jemand, der mit depressiven Verstimmungen sinnvoll umgehen kann, die Chance zur Einsicht und zu persönlichem Wachstum erhält. Die Erfahrung, eine schmerzhafte und leidvolle Periode erfolgreich gemeistert zu haben, erzeugt bei den Betroffenen ein Gefühl der Stärke und des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Zudem wirkt eine Depression bei entscheidenden Veränderungen im Leben wie ein Katalysator. Sie zwingt uns, unsere Gefühle und Motive zu erforschen und der Situation, in der wir uns befinden, ins Auge zu blicken. Für Menschen, die zum Beispiel einen Verlust betrauern, bildet die Depression ein Ventil für den Schmerz, der mit dem Ende einer Beziehung verbunden ist. Anderen signalisiert sie, dass in ihrem Leben irgendetwas nicht in Ordnung ist – sei es in ihrer Ehe oder am Arbeitsplatz –, sie spornt zum Handeln an, wo man sonst über ein Gefühl des Unbehagens hinweggegangen wäre oder so lange gezögert hätte, bis weit Schlimmeres daraus entstanden wäre. Es ist auf jeden Fall besser, mit einer Depression auf Stresssituationen zu reagieren, als sich vorzumachen, dass sie einem nichts anhaben können. Es ist gesünder, seelisches Leid zu erfahren, als es in Körpersprache zu übersetzen und einer schweren Krankheit wie dem Krebs zu erliegen oder an einem Herzinfarkt zu sterben.
Depressive Phasen sind in einem gesunden Leben unvermeidbar. Das Geheimnis, sie erfolgreich zu überstehen, besteht in einer Eigenschaft, die ich «Flexibilität» genannt habe. Mein Konzept der Flexibilität habe ich erstmals 1976 in ‹Choices› (wieder veröffentlicht unter dem Titel ‹Putting the pieces together›) formuliert. Ausführlich dargestellt ist es in meinem 1988 erschienenen Buch ‹Resilience› (‹Gesund durch Lebenskrisen›, 1992). Der Flexibilitäts-Hypothese liegt ein Konzept zugrunde, das von dem herkömmlichen Verständnis von Krankheit und Gesundheit abweicht. Es geht davon aus, dass die vielfältigen Stresssituationen, denen wir im Laufe unseres Lebens ausgesetzt sind – Unfälle, Krankheiten, der Tod eines geliebten Menschen, überraschender beruflicher Erfolg und die damit verbundenen tief greifenden Veränderungen, aber auch der normale Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt –, zwangsläufig einen Zusammenbruch unserer psychischen, sozialen und körperlichen Verfassung bewirken. Ein solcher Zusammenbruch wird oft von traurigen Gefühlen begleitet und als Depression wahrgenommen. Er trägt entscheidend dazu bei, dass wir uns auf die veränderte Situation einstellen und den Herausforderungen, die auf uns zukommen, begegnen können. Bei einem gesunden Menschen folgt auf den Zusammenbruch ein Prozess der Reintegration, in dessen Verlauf er eine neue, veränderte und komplexere Stufe seines seelischen Gleichgewichts erreicht.
Nach diesem Konzept erscheint die Depression in einem völlig neuen Licht: Wer depressiv ist, ist nicht gleich krank. Von einer Krankheit kann man erst sprechen, wenn jemand nicht in der Lage ist, mit seinen Depressionen fertig zu werden und sie zu überwinden. Das kann von folgenden drei Bedingungen abhängen.
Mangel an psychischer Flexibilität: Das ist der Fall, wenn ein Mensch zu starr und zu unflexibel ist und wenig bis gar keinen Zugang zu seinem Inneren hat. Oft ängstigen und beschämen ihn seine Depressionen so sehr, dass er immer niedergedrückter wird und nicht selten vor lauter Panik wie gelähmt ist. In solchen Fällen kann die Psychotherapie eine ausgezeichnete Hilfe sein.
Mangel an physischer Flexibilität: Wenn jemand eine Phase mit verstärktem Stress durchmacht, kann es in seinem Körper zu einem Abbau von chemischen Botenstoffen wie Serotonin oder Noradrenalin kommen, die für die Weitergabe von Informationen zwischen den Nervenzellen zuständig sind. Das hat zur Folge, dass dieser Mensch schon bei den geringsten Widrigkeiten des Alltags aus dem Takt geraten kann, mit denen er unter normalen Umständen spielend fertig geworden wäre. Hier ist eine Behandlung mit Antidepressiva angezeigt. Sie sorgen dafür, dass die Botenstoffe wieder ihr normales Niveau erreichen, und verbessern so die biologische Flexibilität. Dadurch fällt es den Betroffenen leichter, sich mit den Ursachen ihrer Depression auseinander zu setzen.
Mangel an einem unterstützenden Umfeld: Flexibilität wird im Umgang mit Freunden und nahe stehenden Menschen gefördert. Wer einsam ist, keine Freunde hat, vielleicht zu Hause oder im Beruf einer Umgebung ausgesetzt ist, die negativen Einfluss auf seinen Heilungsprozess ausübt, indem sie seine Hoffnungslosigkeit verstärkt und seine Selbstachtung noch weiter untergräbt – bei diesen Menschen besteht die Krankheit eigentlich in ihrem sozialen Umfeld. Ihre Genesung hängt davon ab, ob sie es schaffen, ihre äußere Lebenssituation zu verändern.
Die Auffassung, Depression sei eine Krankheit, trifft auch heute noch bei vielen Psychiatern auf Zustimmung, denen es in erster Linie darauf ankommt, die verschiedenen Formen der Gemütsstörungen präzise zu definieren, damit sie genauere Diagnosen stellen können. Als hilfreich erweisen sich solche diagnostischen Formulierungen – wie «Major Depression», «unipolare Depression», «Dysthymie», «bipolare Störung» –, wenn es darum geht, sich für ein bestimmtes Antidepressivum oder ein anderes Mittel, das die Stimmung beeinflusst, zu entscheiden. Jemand, der unter einer unipolaren Depression leidet, spricht zum Beispiel sehr gut auf Antidepressiva an, bei Patienten jedoch, die die Symptome einer bipolaren (beziehungsweise manisch-depressiven) Störung zeigen, reichen diese Mittel zur Linderung ihrer Beschwerden nicht aus. Um ihre Stimmungslage zu stabilisieren, muss der Arzt oft zusätzlich Lithium oder ein krampflösendes Medikament verabreichen. Diagnostische Begriffe erleichtern die Verständigung zwischen den Ärzten, und in Kombination mit einem computerlesbaren Schlüssel vereinfachen sie die Abrechnung mit den Krankenkassen. Auch in der Forschung haben sich solche Unterscheidungen als nützlich erwiesen, weil man durch sie auf mögliche genetische Faktoren bei bestimmten Formen der Depression aufmerksam geworden ist – obwohl nach wie vor ungeklärt ist, welchen Einfluss diese genetischen Faktoren auf die Depression selbst oder besser gesagt auf die biologische Fähigkeit der Flexibilität ausüben.
Dass sich meine Fachkollegen zurzeit eher für diagnostische Fragen interessieren, hat jedoch auch schwerwiegende Nachteile. Das Vokabular des traditionellen diagnostischen Modells löst bei den betroffenen Patienten oft Bestürzung und Verlegenheit aus. Es verhindert, dass sie das, was sie erleben, wirklich verstehen, und verstärkt ihre Abneigung zuzugeben, dass sie depressiv sind und Hilfe brauchen. Hinzu kommt, dass sich dieses Modell in Zeiten knapper Kassen sehr zum Nachteil der depressiven Patienten auswirken kann, wenn es um die Entscheidung geht, welche Therapie für sie infrage kommt. Bei einer Untersuchung, die 1974 in den USA durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass fast die Hälfte der befragten praktizierenden Psychiater noch nie ein Antidepressivum verordnet hatte, obwohl zu der Zeit das erste Mittel dieser Art, das Imipramin (Tofranil), bereits seit gut fünfzehn Jahren auf dem Markt war! Heute sieht es so aus, dass die Mehrzahl der Patienten, bei denen man eine Depression diagnostiziert hat, die Behandlung mit Antidepressiva geradezu aufgedrängt bekommt. In vielen Fällen mag das sicher angemessen sein, gleichzeitig verdeutlicht diese Tatsache aber auch, dass die beiden anderen Aspekte der Flexibilität, die psychische Verfassung und das soziale Umfeld, in der Therapie vernachlässigt werden. Diese Tendenz hat zugenommen, obwohl es wissenschaftlich erwiesen ist, dass depressive Beschwerden oft ebenso wirksam durch eine Psychotherapie gelindert werden können wie durch die Einnahme von Antidepressiva – wobei die besten Ergebnisse offenbar mit einer Kombination beider Behandlungsformen erzielt werden.
Ich hoffe, dass diese überarbeitete Neuauflage von ‹Depression als Lebenschance› wieder möglichst viele der Millionen Menschen erreicht, die depressiv sind oder es eines Tages werden – nicht nur, um ihnen zu helfen, ihre Depression zu überwinden, sondern auch um sie auf die positive Rolle hinzuweisen, die Depressionen in ihrem Leben spielen können. Offen bleiben muss, warum das Leben uns Menschen überhaupt solche leidvollen Erfahrungen abverlangt. Ebenso gut könnten wir fragen, warum ein Mensch liebt und sich für seine Umwelt interessiert. Da ich die menschliche Natur nicht...