Die Familie
Seneca, der Philosoph, der in seinen Schriften den stoischen Gleichmut pries, hat zugleich Tragödien geschrieben, die sich durch grelles Pathos und exzessive Leidenschaft auszeichnen. Als Lehrer und Berater Kaiser Neros stand er an der Spitze des Römischen Reiches, doch er starb den Tod eines Hochverräters. Um so viel Gegensätzliches in den Blick zu bekommen, bietet sich eine Formel von Friedrich Nietzsche an. Er hat Seneca den «Toreador der Tugend» genannt und ihm damit die Arena als sein Wirkungsfeld zugewiesen. In Senecas Lebenszeit, dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, lebte und starb man in der Tat bühnenreif: heute auf den Höhen des Glücks, morgen Opfer eines jähen, gewaltsamen Todes. Sejan, der Günstling des Tiberius, Kaiser Caligula, Kaiserin Messalina und schließlich Nero sind die prominentesten Beispiele. Dem Untergang der Großen folgten Säuberungswellen, denen wahllos viele Römer zum Opfer fielen, die oft nur durch Adel und Abstammung in den Kreis der Missliebigen gerieten.
Der Tod war allgegenwärtig, umso kostbarer war das Leben. Es zeigte das Wirken der zerstörerischen Kräfte des Menschen, forderte aber andererseits dazu heraus, sich seiner unzerstörbaren Substanz zu versichern. Seneca, der Philosoph und Tragödiendichter, stellte sich der Herausforderung seines Zeitalters: Er wollte zeigen, wie man lebt und wie man leben sollte.
Seine Familie gehörte zum Ritterstand und stammte aus Corduba, Córdoba im heutigen Andalusien. Dort ist Lucius Annaeus Seneca um die Zeitenwende geboren. Trotz sorgfältiger Recherchen ist es nicht gelungen, sein Geburtsjahr zweifelsfrei zu bestimmen: Es war zwischen 4 vor und 1 nach Christi Geburt, am ehesten wohl 1 v. Chr. Corduba war ursprünglich ein iberischer Ort, bis hier um 152 v. Chr. eine römische Stadt gegründet wurde, die bald einen großen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung nahm. Als Hauptstadt der Provinz Baetica – nach dem Fluss Baetis benannt, dem heutigen Guadalquivir – wurde sie zu einem Zentrum der Romanisierung. Man weiß nicht, ob Senecas Familie auf die iberische Urbevölkerung zurückging oder ob die Annaei Abkömmlinge römischer Siedler waren. Für Letzteres spricht das Ansehen, das Senecas Vater Lucius Annaeus Seneca der Ältere (ca. 55 v. Chr. bis 37 n. Chr.) in Rom genoss.
Senecas Familie war begütert; man kann neben Landbesitz mit Olivenanbau an Pachterträge aus den dortigen Bergwerken denken. So konnte sich der Vater neben seiner Amtstätigkeit in der kaiserlichen Verwaltung und neben seinen Geschäften ausgedehnte Studienaufenthalte in Rom leisten. Dort hörte er die bekanntesten Redner seiner Zeit und erlebte einen bedeutsamen Wandel in der Bildungsgeschichte Roms.
Die Rhetorik, die Leitwissenschaft des römischen Erziehungssystems, war bisher darauf abgestimmt gewesen, den jungen Römer für seine Aufgaben im Staat auszubilden. Er musste als Anwalt auf dem Forum juristische Fälle verhandeln, im Senat seine politische Meinung abgeben, vor der Volksversammlung sprechen, als Ädil, Prätor und Konsul vielfältige Aufgaben wahrnehmen, zu denen jeweils öffentliche Stellungnahmen gehörten. Cicero war das große Vorbild des allumfassend gebildeten, überzeugend auftretenden Römers, der auf dem Forum, im Senat wie in der Volksversammlung seinen Mann stand. Aber Cicero hatte sich mit seinen «Philippischen Reden» gegen Marcus Antonius buchstäblich um Kopf und Kragen geredet. Er fiel als Opfer der Militärdiktatur, und mit ihm starb nicht nur die römische Republik, sondern auch das Ideal des römischen Redners. Dessen Ausbildung und Tätigkeit war auf die Mitwirkung in einer res publica ausgerichtet gewesen, die, wie Cicero es formulierte, eine res populi, die Sache des Volkes, war oder sein sollte. Seit Caesars Diktatur gab es diese res publica nicht mehr. Der Bürgerkrieg nach Caesars Ermordung an den Iden des März 44 v. Chr. wurde schließlich durch die Alleinherrschaft seines Adoptivsohnes und Erben Octavian beendet, der als Augustus den Prinzipat begründete. Diese Regierungsform sollte nach dem Willen ihres Schöpfers die noch lebensfähigen Elemente der römischen Republik bewahren, gleichzeitig aber durch eine monarchische Spitze den Gefahren neuer Bürgerkriege vorbeugen. Augustus hatte aus dem Beispiel Caesars gelernt; er vermied dessen autokratischen Führungsstil und trat nicht als Diktator, sondern als Princeps, als der erste Mann im Staat auf. Die Pax Augusta, die lange Friedens- und Erholungszeit, die er dem gesamten Reich nach den blutigen Bürgerkriegsjahren bescherte, und die Stabilität seines Staatsbaues, die auch unfähige Nachfolger überdauerte, sprechen zu seinen Gunsten.
Was sich im Staat und für den Einzelnen geändert hatte, wurde im Bereich der Rhetorik evident. Der junge Römer wurde zwar weiterhin als Redner und Anwalt ausgebildet und war im Prinzipat durchaus nicht zum Schweigen verurteilt. Die Kaiser nahmen Anteil am Gerichtswesen, es wurden Plädoyers gehalten, und man konnte im Consilium, im Rat des Princeps, seinen sachverständigen Rat abgeben und seine juristischen Kenntnisse zur Geltung bringen. Aber es gab keine aufsehenerregenden Prozesse mehr wie zu Ciceros Zeiten, keine Reden gegen Aufrührer und Volksfeinde, gegen einen Catilina oder Marcus Antonius. Man musste keine unruhige Volksversammlung mehr zu überzeugen suchen oder in turbulente Wahlkämpfe eingreifen. Und so zog sich die Redekunst vom Forum in die Schule zurück; statt großer Volks- und Staatsreden übte man sich in Deklamationen, in Reden über fiktive Rechtsfälle. Man trug Suasorien vor, Beratungsreden, oder Controversien, die das Für und Wider eines Rechtsfalles darstellten, jetzt aber zu reiner Unterhaltung wurden. Es entstand ein öffentliches Vortragswesen, bei dem Redner als Virtuosen brillierten. Ob dieser «Show-Stil» modern oder eine Verfallserscheinung war, wurde diskutiert, von Tacitus in seinem Rednerdialog (Dialogus de oratoribus) und auch von Seneca dem Älteren.
Dieser schrieb auf Wunsch seiner Söhne ein rhetorisches Werk, in dem er die Redner seiner Zeit darstellt und kritisiert und die Themen der suasoriae und controversiae skizziert. Ihm verdanken wir die Kenntnis der oft romanhaft übersteigerten fingierten Rechtsfälle und der theaterhaften Vortragspraxis in der frühen Kaiserzeit. Dieses Werk hat seinem Verfasser den Namen Seneca Rhetor eingebracht, ursprünglich zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Sohn, Seneca Philosophus; man glaubte aber später, dass der ältere Seneca selbst Redelehrer gewesen sei (sofern man ihn überhaupt von seinem Sohn zu unterscheiden wusste). Der Vater Seneca liebt die klassische Redeweise Ciceros und kritisiert die Übertreibungen des modernen Stils, ist aber einsichtig genug, um nicht ins Archaisieren zu verfallen. Einmal nennt er einen Redner «hominem inter scholasticos sanum, inter sanos scholasticum – einen Mann, der unter den Gelehrten ganz normal wirkt, unter normalen Menschen aber als Gelehrter»: eine Wendung, die seine Distanz zum Deklamatorenwesen erkennen lässt, in ihrer Pointiertheit aber den Stil seines Sohnes vorwegnimmt.
Das rhetorische Werk war seinen drei Söhnen gewidmet: Lucius Annaeus Seneca, dem späteren Philosophen, sowie dem ältesten, Novatus, und Mela, dem jüngsten. Novatus wurde später, wie dies in Rom öfter vorkam, von einer kinderlosen Familie adoptiert, und zwar von der des Rhetors Junius Gallio. Unter seinem neuen Namen Gallio ging er in die Geschichte ein, denn als er im Jahr 52 Statthalter der Provinz Achaia (Griechenland) war, erschien vor seinem Richterstuhl in Korinth der Apostel Paulus, den die Juden angeklagt hatten. Gallio war kein zweiter Pilatus; er wies die Klage ab, denn es handele sich hier um Streitfragen über religiöse Lehren. Mela blieb in Corduba; sein Sohn Marcus Annaeus Lucanus wurde als Dichter des Epos «Pharsalia» berühmt und starb wie sein Vater und dessen Brüder als Opfer Neros.
Die Mutter Helvia lernen wir aus dem Trostbrief kennen, den Seneca aus dem Exil in Korsika an sie schrieb. Sie war offenbar beträchtlich jünger als ihr Gatte (dieser war im reifen Alter gestorben, während ihr Vater noch lebte) und war in ihrem Bestreben, sich eine umfassende Bildung anzueignen, von ihrem Gatten eingeschränkt worden. Hierin war der Vater, wie Seneca sagt, von allzu großer altertümlicher, provinzieller Strenge; er hatte Frauen vor Augen, die sich mit den Wissenschaften beschäftigen, um sich damit herauszuputzen und anzugeben, nicht um innere Werte zu gewinnen. Wir kennen von Juvenal das satirische Bild der Frau, die beim Gastmahl sogleich die Unterhaltung an sich reißt und über literarische Themen diskutieren will, was einen gewissen Ermüdungseffekt bei ihren Partnern hervorruft. «Sit non doctissima coniunx – Und nicht zu gescheit sei mir die Gattin», bemerkt der Dichter Martial augenzwinkernd als einen seiner Wünsche an das Leben. Helvia besaß eine rasche Auffassungsgabe, sodass sie sich genügend Grundwissen, auch in der Philosophie, aneignen konnte. Während ihr Mann in Rom weilte, stand sie in Corduba dem Hauswesen vor, und nach seinem Tode verwaltete sie das Vermögen der Söhne, führte also wohl auch die umfangreichen Geschäfte weiter, die den Grundstock des Familienvermögens bildeten. Und als die Söhne dann zu Rang und Ansehen kamen, wollte sie keinen Anteil daran; sie war nicht, sagt Seneca, wie jene Mütter, die Machtpositionen ihrer Kinder ausnutzen, um durch diese ihren eigenen Ehrgeiz zu befriedigen. Seneca sollte eine solche Mutter noch kennenlernen. Helvia hatte eine ältere Schwester (oder Stiefschwester), von der Seneca erzählt, dass sie ihn auf...