Zu Gast bei den „No Problem“-Leuten
Karibik – Januar/Februar 2001
Dank meiner Eltern hatte ich seit meiner frühesten Kindheit mehrmals im Jahr die Gelegenheit zu reisen. Mit eineinhalb Jahren war ich erstmals zu Gast im Ausland, genauer gesagt in Österreich. Nach der Überlieferung meiner Eltern habe ich das Laufen 1974 am Tag des WM-Finales Deutschland gegen Holland im damaligen Familienurlaub gelernt. Public Viewing gab es noch nicht, und während mein Vater in der Kneipe des Gasthauses den WM-Sieg von Kaiser Franz und Co. am Fernseher sah, schaute mir im Obergeschoss meine Mutter auf dem Flur zu, wie ich die ersten Schritte ohne fremde Hilfe hinbekam. Mit zwei Jahren stieg ich das erste Mal ins Flugzeug ein. Da ich so jung war, habe ich an den Flug heute keine Erinnerungen mehr. Das änderte sich im Folgejahr, als es nach Nordafrika gehen sollte. Auf diese Reise hatte ich keine Lust. Warum, weiß ich heute nicht mehr, aber es ist bisher die einzige Reise meines Lebens gewesen, bei der bei mir keine Vorfreude aufkam. Wir nahmen in Mainz den Zug zum Frankfurter Flughafen. Damals kam mir eine Zugfahrt nach Frankfurt ellenlang vor. Da ich wusste, dass wir, um nach Afrika zu gelangen, das Meer überqueren mussten, fragte ich nach der Rheinüberquerung mit dem Zug hoffnungsvoll, ob wir endlich dort angekommen wären, „in dem Afrika“. Als ich verstand, dass wir noch gar nicht in diese Blechröhre eingestiegen waren, da wir uns ja erst auf dem Weg zum Flughafen befanden, war meine „Geduld“ zu Ende und ich hatte überhaupt keine Lust mehr auf Afrika. Ich verkündete lauthals, dass ich nicht in das Flugzeug einsteigen würde. Dummerweise parkte der Flieger auf einer Gebäudeposition, so dass ich gar nicht bemerkte, wie wir über die Fluggastbrücke in den Flieger spazierten. Viel zu spät begriff ich, dass ich „überrumpelt“ worden war und nun doch im Flugzeug saß. Mein verbaler Protest endete bald, da es spätabends war und ich im Flieger einschlief.
Viele Flüge kamen zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1990er Jahre nicht mehr hinzu, da Familienurlaube per Flugzeug gemeinsam mit meiner älteren Schwester für uns finanziell nicht mehr drin waren. Denn Kleinkinder ab zwei zahlten bereits 50 Prozent des Erwachsenentarifs und Kinder über zwölf sogar den vollen Preis. Billigflieger gab es in den 1980er Jahren noch nicht. Nachhaltiges Reisen spielte damals keine Rolle, aber durch die hohen Flugpreise hielt sich der Flugverkehr und damit die Belastung der Umwelt in Grenzen. Die Entscheidung der EU, den Flugverkehr in Europa zu liberalisieren, brachte Geschäftsmodelle auf, die es heutzutage fast allen Bevölkerungsschichten ermöglichen, das Flugzeug zu nehmen. Man kann diese „Demokratisierung“ natürlich gut finden. Doch für das Produkt Flug liegt die Zahlungsbereitschaft vieler Reisender mittlerweile so dermaßen niedrig, so dass es viele normal finden, für das Taxi zum Flughafen mehr zu bezahlen als für den Flug. Leider ist es auch vielen Reisenden egal, wie das Personal der Billigflieger behandelt wird. Entscheidend ist für viele nicht nur im Luftverkehr am Ende der Preis, den sie persönlich und nicht die Allgemeinheit zu zahlen haben. Schließlich werden manche Flugverbindungen von Regionalflughäfen subventioniert, so dass der Steuerzahler oftmals für den niedrigen Flugpreis draufzahlen darf, damit Hinz und Kunz für ein paar Euro aus dem Hunsrück oder aus Westfalen nach Malle düsen können.
Dass das Flugzeug für uns als Transportmittel ausfiel, hielt meine Eltern nicht davon ab, mit uns auf Reisen zu gehen. Mit dem Auto erkundeten wir viele Nachbarländer Deutschlands, und gerade die Reisen durch das heutige Ex-Jugoslawien Ende der 1980er Jahre hatten teilweise schon Abenteuer-Charakter, sei es durch die nicht geteerten Straßen Montenegros, die Sprachbarriere in Bosnien oder den Wintereinbruch an Ostern an den Plitvicer Seen im heutigen Kroatien.
Erst nachdem ich die Schule beendet hatte, bin ich wieder mit dem Flugzeug unterwegs gewesen. Da Ausbildungen immer im Spätsommer beginnen, hatte ich Anfang 1993 so viel „Resturlaub“ des alten Jahres angesammelt, dass ich praktisch „gezwungen“ war, Urlaub zu nehmen. Meine ersten Reisen ohne Eltern ab dem Ende der 1980er Jahre hatte ich fast ausschließlich in die Schweiz unternommen, um Wandern oder Radfahren zu gehen – immer vom späten Frühjahr bis in den Herbst hinein. Wohin sollte ich aber jetzt im Winter 1992/1993 reisen? Einer meiner besten Freunde kam auf die Idee, in Afrika wandern zu gehen. „Da ist es warm, und wir können den höchsten Berg Afrikas besteigen“. So starteten wir beide auf unsere erste Fernreise überhaupt – nicht in vergleichsweise einfache Reiseländer wie die USA oder Thailand, sondern nach Kenia und Tansania, um den Kilimandscharo zu besteigen.
Von Afrika sehr angetan, unternahm ich mit zwei Freunden nach dem Ende meiner Berufsausbildung meine bis heute zweitlängste Reise: Von Mainz reisten wir innerhalb von zehn Wochen bis nach Kapstadt, wobei wir nur Teilstrecken mit dem Flugzeug zurücklegten. Es war ein prägendes, wunderbares Abenteuer. Gleichzeitig waren wir alle drei manchmal wegen der anderen genervt. Dieses Gefühl wurde bei mir auf die Spitze getrieben, als ich zwei Jahre später mit vier Freunden durch Namibia, Botswana und Simbabwe reiste. Ich war zuvor mit allen vieren bereits verreist und dachte, diese Reise würde ein grandioses Abenteuer mit den, abgesehen von meiner Familie, damals wichtigsten Menschen meines Lebens.
Wir bildeten allerdings eine Gemeinschaft, die sich unwillkürlich abschottete, und es war nahezu unmöglich, mit der Außenwelt, sprich den Einheimischen, mehr als den üblichen Kontakt mit Leuten in der Tourismusbranche (Mietwagenfirma, Hotel, Restaurant) zu erhalten. Das frustrierte mich enorm, denn gerade in Afrika sind es die Begegnungen mit den Menschen, an die ich mich noch heute gerne erinnere. Daher entschloss ich mich 1998, erstmals alleine nach Afrika zu reisen. In Dakar, der Hauptstadt des Senegals, traf ich am Hauptbahnhof am ersten richtigen Reisetag Tanja aus dem Odenwald. Am Ende bin ich während dieser Westafrika-Reise exakt drei Tage alleine gereist, und zwar die drei Tage zwischen der Landung und der Abfahrt des Zuges in Dakar. So musste der Plan mit dem Alleinreisen ein weiteres Jahr warten. 1999 bin ich schließlich alleine mit dem Fahrrad von Mainz nach Biarritz an die französisch-spanischen Grenze geradelt. Danach war ich vom Alleinreisen angefixt, so dass ich im Januar 2001 alleine auf Fernreise ging: Ab in die Karibik!
Dachte ich bisher an die Karibik, fielen mir hauptsächlich die Begriffe „Pauschaltourismus“ und „All-Inclusive“ ein. Dieses Fleckchen Erde besteht allerdings aus ziemlich vielen Inseln, die nur zum Teil von Touristen überschwemmt werden. Von den meisten Karibik-Inseln hat man wahrscheinlich noch nie etwas gehört, während die Bekanntesten vielleicht Kuba und die Insel Hispaniola sind. Letztere teilen sich die beiden Länder Haiti und die Dominikanische Republik. Beide Inseln gehören zu den „Großen Antillen“. Wo es etwas Großes gibt, muss es auch etwas Kleines geben. Daher zog es mich auf dieser Reise auf die so genannten „Kleinen Antillen“ zum Inselhüpfen von Nord nach Süd.
Am liebsten reise ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die auch die Einheimischen nutzen: per Bus, per Bahn, mit dem Schiff und möglichst selten mit dem Flugzeug, so wie während der Afrika-Durchquerung mit meinen beiden Freunden 1995. Für mich ist der öffentliche Personenverkehr mit das Spannendste, was unsere Welt zu bieten hat. Schließlich möchte ich in fernen Ländern nicht nur Landschaften, Städte, Fußballstadien und Museen entdecken, sondern mich auch auf das Leben vor Ort einlassen. Das klappt meiner Meinung nach am besten, wenn ich dort möglichst auf Taxis und Mietwagen verzichte. Ich stelle mich da lieber mit den Einheimischen in eine Schlange und warte auf den Bus, das Schiff oder den Zug. Auf dieser Reise funktionierte dies nur teilweise. Ein Inselhüpfen ausschließlich mit Schiffen wäre in der Karibik leider nur per Kreuzfahrtschiff möglich. Viel zu selten existieren Fähren, die die Inseln (und Länder) miteinander verbinden. So war mir bereits vor der Reise bewusst, dass ich von meinem Vorsatz würde abweichen müssen, möglichst ohne Flugzeuge eine Region zu entdecken. Trotzdem wurde diese Reise alles andere als ein Urlaub, sondern das, was mich immer wieder in den Bann zieht: ein Reisen von Insel zu Insel bis hinunter nach Südamerika. Dieser Kontinent war noch Neuland für mich. Den Fuß, abseits eines Flughafens, erstmals auf einen neuen Kontinent zu setzen, war für mich immer etwas Besonders. Dies war mir außerhalb Europas bisher nur in Asien gelungen. 1995 hatte ich auf der Reise von Mainz nach Kapstadt mit der Fähre in Istanbul den Bosporus überquert. Afrika hatte ich, wie erwähnt, „unfreiwillig“ 1975 mit dem Flugzeug in Tunis erreicht. Gleiches gilt für Nordamerika (1994 in New York) und Ozeanien (1999 in Sydney). Eine Antarktis-Reise musste noch sieben Jahre warten.
Der Anflug auf die Antillen-Insel St. Martin gilt als einer der spektakulärsten weltweit. Leider saß ich seit dem Abflug in Paris acht Stunden zuvor in der Mittelreihe des Flugzeugs. Natürlich landeten wir nicht zwischen Achttausendern wie in Nepal. Weil ich aber in der Mitte saß, sah ich bis zum Touchdown kein Land, sondern nur Meer. Die Landebahn des Prinzessin-Juliana-Flughafens wurde auf einem schmalen Inselstreifen angelegt. So vernahm ich durch das Quietschen der Räder das Aufsetzen auf der Bahn. Ich sah aber beim Ausrollen weiterhin nur Meer. Sicherlich läuft...