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Die Jesus-Tafel

Die Entdeckung der Kreuzinschrift

AutorMichael Hesemann
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783451816284
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Sie ist auf jedem Bild des Gekreuzigten zu sehen: Die Inschrift I.N.R.I. - Jesus von Nazareth, König der Juden. Nur wenige wissen, dass die Tafel über dem Kreuz Christi die Jahrhunderte überlebt hat und noch heute verehrt wird: In der römischen Basilika Santa Croce gibt die Kreuzesinschrift Zeugnis von der Hinrichtung Jesu. Michael Hesemann, der Historiker mit Zugang zu den Vatikanischen Geheimarchiven, nimmt den Leser mit auf eine packende Forschungsreise vom Orient bis nach Italien und beantwortet die spannende Frage: Ist die Tafel ein authentisches Relikt des Erlösers - oder eine trickreiche Fälschung?

Michael Hesemann, geb. 1964, studierte Geschichte, Kulturanthropologie, Germanistik und Journalistik; heute arbeitet er als Wissenschaftsjournalist, Buchautor und freier Mitarbeiter des Vatican-Magazins. Durch seine historischen Studien über Jesus, Maria und Petrus wurde er einem breiten Publikum bekannt. Als Insider der Römischen Kurie mit Zugang zum Vatikanischen Geheimarchiv verfügt er über die Quellen, die anderen verborgen bleiben.

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Leseprobe

1. Auf der Suche nach dem historischen Jesus


Am Fuße der am häufigsten dargestellten Hinrichtungsstätte der Geschichte, des Hügels von Golgota, beginnt unsere Suche. Es geht bei ihr um die Frage, ob sich das, was die Evangelisten geschildert haben, tatsächlich so oder ähnlich vor fast 1990 Jahren zugetragen hat. Gewiss, die Evangelien gehören zu den meistgelesenen Schriften der Weltliteratur. Aber sind es wirklich Biographien? Wie zuverlässig sind diese Texte? Wie genau haben ihre Autoren recherchiert? Wie glaubwürdig ist das, was wir über ihren Protagonisten, jenen Jesus von Nazaret, zu wissen glauben?

In der Frage, wie genau sie das Leben Jesu schildern, hängt viel davon ab, ob die Verfasser der vier Evangelien ihn tatsächlich kannten oder zumindest einen ausreichenden Kontakt zu Augenzeugen hatten. Der Anspruch eines Autors, bei einem historischen Ereignis dabei gewesen zu sein, erhöht natürlich seine Glaubwürdigkeit und die Authentizität – wenngleich zweifelsohne auch die Subjektivität – seines Berichtes. Zumindest aber sollte jeder, der über ein zeitgenössisches Ereignis schreibt, eine größere Anzahl von Augenzeugen interviewt und ihre Aussagen zur Grundlage seiner Darstellung gemacht haben. Wer sich eines historischen Geschehens annimmt, hat die Pflicht, alle davon erhaltenen Zeugnisse zu studieren. Gibt es gleichzeitig Dokumente – amtliche Berichte, Meldungen, Dossiers, Urkunden –, so sind diese in ihrer Aussage gegen die Augenzeugenberichte abzuwägen. Bestätigen sie einander oder ergänzen sie sich, hat der Historiker die Möglichkeit, glaubhaft Geschichte zu rekonstruieren. Das gilt auch, wenn seine Intention die Darstellung von Heilsgeschichte ist.

Und darum geht es uns. Die so wichtige Frage nach der heilsgeschichtlichen Relevanz der Ereignisse im Jerusalem des Jahres 30 überlassen wir den sehr viel kompetenteren Theologen. Wir wollen vielmehr überprüfen, ob der folgenschwerste Prozess der Weltgeschichte so stattgefunden hat, wie es uns überliefert wurde. Dabei testen wir die Frage nach der Glaubwürdigkeit der uns vorliegenden Berichte: der Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas und des – angeblichen – Augenzeugen Johannes. Der Schlüssel zu unserer Suche ist ein historisches Dokument. Es ist das einzige Schriftstück, das uns von diesem Prozess vor fast 1970 Jahren erhalten blieb, und es kann ohne Übertreibung als Schlüsseldokument bezeichnet werden: Die Rede ist von der Schuldtafel, dem Titel mit der Anklage, der über dem Kopf des Gekreuzigten angebracht wurde. Sie verrät uns, wie genau, wie zutreffend unsere Quellen in diesem Punkt sind.

Dabei hinterfragen wir wie bei jeder soliden historischen Untersuchung die Echtheit unseres Dokumentes. Wir verfolgen seine Geschichte, untersuchen seine Provenienz. Schließlich unterziehen wir es einer geradezu kriminologischen Untersuchung. Nur wenn alle Indizien für seine Authentizität sprechen, kann es uns als Steinchen dienen in dem großen Mosaik, das man Geschichte nennt. Und in diesem Bild müssen wir ihn suchen, den Gekreuzigten. Er kann nur dann Christus, der Messias (wörtlich: der Gesalbte) sein, wenn er wirklich gelebt hat. Die Suche nach Jesus kann eine mystische Erfahrung sein; sie kann aber auch in der Geschichte beginnen.

Vergleicht man die Quellenlage bei Jesus von Nazaret mit der bei anderen historischen Persönlichkeiten der Antike, zum Beispiel den großen griechischen Philosophen, ergibt sich ein überraschendes Bild. So ist uns nicht ein einziges zeitgenössisches Dokument bekannt, das zum Beispiel die historische Existenz von Pythagoras, Sokrates, Platon oder Aristoteles beweist. Alles, was wir von ihnen wissen, stammt aus Jahrhunderte später verfassten Biographien, deren älteste Abschrift oft erst aus arabischer Zeit erhalten ist. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, die historische Existenz von Pythagoras, Sokrates, Apollonios oder die Authentizität der Jüdischen Altertümer zu bezweifeln.

Jesus von Nazaret ist kein Mythos, sondern eine historische Persönlichkeit. Das, so betonten seine Apostel, unterscheidet ihn von den Zentralgestalten der hellenistischen Mysterienkulte, von Attis und Adonis, von Dionysos und Apollon. Seine Existenz ist historisch besser dokumentiert als die von Pythagoras und Sokrates und wird zwar nicht von allen, aber doch von einer ganzen Reihe zeitgenössischer Chronisten und Historiker erwähnt. Nur Träger irdischer Macht wie die römischen Kaiser, ihre Statthalter und Vasallenkönige sind besser bezeugt, weil sie Inschriften und Münzen hinterlassen haben und ihr Leben im Zentrum der Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber stand. Ja, es ist wahr, wie der Kirchenkritiker Peter de Rosa in seinem kontroversen Buch Der Jesus-Mythos feststellt, dass wir »wahrscheinlich mehr konkrete Tatsachen über Pontius Pilatus als über Jesus«1 kennen, denn er war der judäische Repräsentant der irdischen Macht Roms. Das wusste die frühe Kirche, nicht umsonst hat sie die Formel »gelitten unter Pontius Pilatus« in ihr Glaubensbekenntnis aufgenommen. Sie war die historische Verankerung des Heilsgeschehens. Von Pontius Pilatus, der von 26 bis 36 Präfekt der römischen Provinz Judäa war, berichten uns der jüdische Historiker Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) und der jüdische Philosoph und Theologe Philo von Alexandria ausführlich. Auch der römische Historiker Tacitus erwähnt ihn, und zwar in Verbindung mit Jesus. Zudem finden wir seinen Namen und Titel auf einer Inschrift, die von italienischen Archäologen 1961 bei Ausgrabungen im Theater von Caesarea an der israelischen Mittelmeerküste entdeckt wurde. Der sogenannte Pilatusstein schmückte ursprünglich ein öffentliches, dem Kaiser Tiberius geweihtes Gebäude, das Tiberieum. Später wurde er bei Bauarbeiten am Theater erneut verwendet. In ihn hatte ein Steinmetz gemeißelt:

 

S – TIBERIEUM ...

TIUSPILATUS ...

ECTUS IUDA..E

E

 

Auffallend ist, dass die Inschrift in lateinischer Sprache abgefasst ist, nicht in der Amtssprache des Ostens, dem Koiné-Griechisch. Zudem erfahren wir, dass der offizielle Titel des Pilatus Präfekt, nicht Prokurator war, wie es fälschlich der römische Geschichtsschreiber Tacitus behauptet hatte, Pilatus also vielmehr einen Prokurator als Vorgesetzten hatte, was Flavius Josephus bestätigt. Die Evangelien bezeichnen ihn auch nicht als Prokurator (griech. epítropos), sondern mit dem Oberbegriff hēgemn.2

Doch der Pilatusstein verrät uns noch mehr, denn er gibt uns Auskunft über Charakter und Mentalität des Präfekten. Das Tiberieum war ein dem Kaiser geweihtes Gebäude, das Pilatus in Caesarea, der Hauptstadt der Provinz Judäa und Amtssitz des Statthalters, errichten ließ. Einige Gelehrte vermuten in ihm einen Tempel oder Altar des Kaiserkultes. Allerdings ist diese Deutung nicht sicher. So erinnert Géza Alföldy an die beiden von Flavius Josephus erwähnten kolossalen Leuchttürme des Hafens von Caesarea, die Herodes errichten ließ und von denen einer nach Drusus, dem Bruder des Tiberius, Drusion genannt wurde. Im Tiberieum sieht er das (freilich in keiner Quelle beim Namen genannte) Gegenstück auf der anderen Seite des Hafens. Immerhin schlossen sich andere namhafte Historiker, darunter Alexander Demandt und Werner Eck, dieser Deutung an. Folgen wir ihr, so hätte Pilatus diesen Leuchtturm nach einer Beschädigung, vielleicht durch ein Erdbeben, renoviert und mit einer neuen Widmungsinschrift versehen, die dann

 

»(Nauti)S TIBERIEUM

(Po]NTIUS PILATUS

(praef)ECTUS IUDA(ea)e

(ref)E(cit) ((et dedicavit?))«3

 

gelautet hätte:

»Den Seeleuten hat dieses Tiberieum

Pontius Pilatus,

der Präfekt von Judäa,

wiederhergestellt (und gewidmet?)«

 

So oder so fällt auf, wie demonstrativ Pilatus sich zusammen mit dem Namen des Kaisers verewigte, als ob er Tiberius um jeden Preis gefallen wollte.

Ein zweiter Sensationsfund wurde erst im Dezember 2018 öffentlich bekannt. Es handelt sich um einen schmalen Bronzering, den der israelische Archäologe Gideon Förster von der Hebräischen Universität Jerusalem 1968 bei Ausgrabungen im Herodium entdeckte. Die Burg des biblischen Königs Herodes (40–4 v. Chr.) wurde in einen künstlich aufgeschütteten Kegelberg hineingebaut, der noch heute weithin sichtbar die Landschaft östlich von Bethlehem überragt. Sie diente im 1. nachchristlichen Jahrhundert der römischen Besatzungsmacht als Verwaltungssitz. Ein halbes Jahrhundert lang lag der Ring unbemerkt unter anderen Fundstücken, dann nahmen ihn israelische Experten erneut unter die Lupe. Mithilfe einer Spezialkamera konnten sie das eingravierte Bild eines Trinkgefäßes ausfindig machen – umgeben von der griechischen Inschrift »πιλατο« (PILATO). Sie sind sich sicher: Entweder muss der Statthalter den Siegelring selbst getragen haben, oder er gehörte einem seiner Beamten, die in seinem Namen siegelten.4 »Ich kenne keinen anderen Pilatus aus dieser Zeit und der Ring zeigt, dass er eine Person von Statur und Reichtum war«, erklärte Professor Danny Schwartz von der Hebräischen Universität in ­Jerusalem.5

Pilatus stammte aus dem Rittergeschlecht der Pontii. Ein Mitglied dieser Familie, L. Pontius Aquilius, war an der Ermordung Julius Caesars...

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