Teil 1: Wo?
1 Eine Kirche wahrnehmen – dem Heiligen einen Ort geben
Kirchengebäude sind oft so selbstverständlich in unserem Stadtbild integriert, dass wir sie manchmal gar nicht mehr wahrnehmen. Sie gehören dazu – aber man denkt nicht mehr über sie nach. Zugegeben – der Kölner Dom ist eine der wenigen Ausnahmen. Man kommt aus der U-Bahn und vor einem erhebt sich ein Kirchenbau, der einem fast den Atem nimmt. Man steigt nichts ahnend aus dem Zug, schlendert ein wenig umher, weil der Anschlusszug Verspätung hat, und fast automatisch wird der Blick in die Höhe gezogen.
Die vielen Kirchen in unseren Städten und Dörfern führen oft ein nicht ganz so spektakuläres Dasein, und doch könnte ihre wichtigste Aufgabe vielleicht gerade darin bestehen, dass sie einfach da sind, dass da ein »Raum« ist − und sie einen entsprechenden Raum einnehmen. Eine kleine romanische Kirche mit ihren klaren Formen oder ein großer gotischer Dom haben es da manchmal leichter als eine Betonkirche aus den Fünfzigerjahren – und doch: Die Idee ist bei allen Kirchen gleich. Man will dem »Heiligen« einen Ort geben, mitten im Leben der Menschen. Und das werden Sie in allen Religionen, in allen Kulturen und zu allen Zeiten quer über die ganze Erde finden – »Räume für das Heilige«. Menschen haben schon immer Tempel für das »Heilige« in ihrem Leben gebaut. Jede Zeit, jede Kultur sucht ihren eigenen Ausdruck dafür – manches verstehen wir heute nicht mehr, gefällt uns nicht so arg – und doch soll etwas zum Ausdruck gebracht werden.
Suchen Sie sich für diesen ersten Schritt eine katholische Kirche in Ihrer Nähe – egal, ob alt oder neu, ob romanisch oder »Beton-Art« der Fünfzigerjahre. Es geht im Moment nicht um »künstlerisch wertvoll«, sondern um die Idee. Und nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit.
Ach so – Sie sind unsicher, ob diese Kirche katholisch oder evangelisch ist, an der Sie jeden Tag vorbeilaufen (ganz zu schweigen von altkatholischen, freikirchlichen und sonstigen Varianten – aber das ist schon eher die Lektion für Fortgeschrittene …)? Für diesen Fall ein ganz praktischer Tipp: Suchen Sie den dazugehörigen Schaukasten, der mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo steht oder hängt und zu dieser Kirche dazugehört. Aus den dort in der Regel ausgehängten Informationen können Sie meistens erkennen, zu welcher Konfession diese Kirche gehört. Spätestens wenn Sie auf das Wort »Abendmahlsfeier« stoßen, wissen Sie, dass es eine evangelische Kirche ist, beim Wort »heilige Messe« oder »Eucharistiefeier« sind Sie bei einer katholischen Kirche gelandet. Warum das so ist, erkläre ich Ihnen gerne später (S. 81/82) – nehmen Sie es im Moment einfach als untrügliches Erkennungszeichen.
Also, Sie haben eine katholische Kirche gefunden, und Sie haben eine halbe Stunde Zeit. Es mag sein, dass Sie an dieser Kirche schon Hunderte Male vorbeigegangen sind, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Bleiben Sie heute einmal im größtmöglichen Abstand vor dieser Kirche stehen und schauen Sie sie einfach an. Um diese Kirche herum dürfte wahrscheinlich das Alltagsleben pulsieren – Menschen gehen vorbei, Jugendliche sitzen vielleicht auf den Stufen, rauchen, trinken. Eventuell ist ein Skateboard-Fahrer auf dem Vorplatz zugange – und da kommt jemand und schimpft ihn weg. Vielleicht ist es aber auch eine kleine Dorfkirche an Ihrem Ferienort, wo Sie zufällig dieses Buch lesen – und da ist diese Kirche und ein Kirchhof, vielleicht mit alten Gräbern, ein Ort, der eine gewisse Ruhe ausstrahlt. Kirchen können sehr verschieden sein – ihnen gemeinsam ist, dass sie eine Idee zum Ausdruck bringen wollen.
Deshalb: Nehmen Sie einmal bewusst wahr, dass es da, mitten im Leben, einen eigenen Ort für das »Heilige« gibt. Dass es Menschen gab und gibt, die sehr bewusst einen Raum für ihren Gott bauen. Dass inmitten all der Wohnhäuser und Geschäftsräume und Bauernhöfe ein Gebäude steht, das keinem anderen Zweck dient, als Gott zu gehören. Da gibt es eine Art von Tempel mitten im 21. Jahrhundert. Da werden uralte Kirchen mit viel Geld erhalten – und, allerdings eher selten, Kirchen in neuen Wohngebieten erbaut. Da gibt es den Luxus, Hunderte von Quadratmetern wertvollen Raum, eventuell mitten in der Innenstadt, nicht zu verkaufen, sondern Gott zu geben. Und wofür? Für ein paar Gottesdienste mit einer Anzahl von Menschen, die durchaus noch zählbar ist?
Die spinnen, die Christen. Der Kosten-Nutzen-Faktor einer Kirche ergibt ein Ergebnis, das jedem Betriebswirtschaftler die Haare zu Berge stehen lässt.
Ja, ich kann ein solches Denken verstehen. Aber spinnen wir wirklich? Könnte es nicht vielleicht doch wichtig sein, einen Raum in unserem Leben für das Heilige zu reservieren? Für das, was dem Menschen eine Würde gibt und seiner Sehnsucht einen Ort?
Ich glaube, jeder von uns kennt das eigentlich gut, dass sich manche Dinge einem herkömmlichen Kosten-Nutzen-Denken vollkommen entziehen. Eine brennende Kerze hat heute eigentlich keinen großen Nutzwert mehr; in der Regel kann man einfach einen Lichtschalter drücken und es wird hell. Und doch: Wenn es dunkel wird, zünden viele Menschen Kerzen an – »nur« weil es eben schön ist, weil es Stimmung verbreitet. Man verschenkt einen Strauß Blumen, obwohl man weiß, dass er in einer Woche verwelkt – einfach als Zeichen. Und jemand, der frisch verliebt ist, der setzt jegliches Denken in diese Richtung sowieso außer Kraft.
Menschen, die Kirchen gebaut haben, waren und sind Menschen, die in den Gott verliebt sind, an den wir glauben, und die dieser Liebe mit dem Bau Ausdruck verleihen wollen. Jedes Kirchengebäude ist deshalb zuerst einmal eine »Idee«. Wenn man von dieser Idee keine Notiz nimmt, dann werden wir auch eine Kirche nicht verstehen. Und erst recht nicht das, was dort gefeiert wird.
Es ist eine Idee, die zum Leben einladen will. Die Werbung verkauft uns genug, womit es sich nicht auf Dauer leben lässt. Eine Kirche aber will kein »Event« sein und auch kein Museum oder Theatersaal − auch wenn sie manchmal dazu gemacht oder als solches benutzt wird. Für uns Christen ist eine Kirche das »Haus Gottes unter den Menschen«.
Eine alte Geschichte erzählt es sinngemäß so: Handwerker, die am Bau einer Kathedrale mitarbeiteten wurden gefragt, was sie da machen. Der Erste gab Auskunft: Ich haue den Stein für eine Türschwelle. Ein anderer antwortete: Ich haue einen Stein für einen Pfeiler. Der Dritte aber sagte: Ich baue eine Kirche. − Es geht um eine Idee, die Ausdruck findet in vielen Details; aber die Details sind nicht die Idee.
Meine Empfehlung an Sie heißt: Schauen Sie sich diese Kirche heute nur aus der Entfernung an, gehen Sie nicht in diese Kirche hinein. Umkreisen Sie sie. Nehmen Sie sie einfach wahr, den Raum, den sie einnimmt, die Idee, der sie Ausdruck verleihen will. Ein abgegrenzter Raum, ein »heiliger Bezirk«. Und gönnen Sie sich diese halbe Stunde – keine Minute weniger!
Falls Sie möchten, können Sie ja mal überlegen, ob es in Ihrem Leben »heilige Orte« gibt, Orte, mit denen Sie etwas verbinden, das Ihnen sehr wichtig ist? Orte, an denen Sie etwas Besonderes erlebt haben? Was hat diese Orte für Sie wichtig gemacht? Und wie gehen Sie damit um?
Und denken Sie dran: Sie haben eine halbe Stunde Zeit!
PS: Natürlich können Sie diesen Schritt ebenso mit einer evangelischen oder altkatholischen Kirche und auch mit einer Moschee oder der Trauerkapelle auf dem Friedhof machen – aber da die nächsten Schritte auf diesem aufbauen, wäre es schon gut, wenn es in diesem Fall eine katholische Kirche wäre.
Die Kirchen sind nicht nützlich
nicht praktisch,
verlangen nicht nach unmittelbarer Aktion
und erfordern keine schnelle Antwort.
Sie sind Räume ohne laute Geräusche,
ungezügelte Bewegungen oder
ungeduldige Gesten.
Sie sind stille Räume,
die meiste Zeit seltsam leer.
Sie sprechen eine andere Sprache
als die Welt um sie herum.
Sie möchten kein Museum sein.
Sie möchten uns einladen,
still zu sein,
zu sitzen oder zu knien,
aufmerksam zuhören
und mit unserem ganzen Wesen
auszuruhen.
Eine Stadt ohne
sorgsam gehütete leere Räume,
in denen die Stille,
aus der alle Worte erwachsen,
zu spüren ist,
die Stille, die zu Taten ermuntert,
eine solche Stadt ist in Gefahr,
ihren wahren Mittelpunkt zu verlieren.
Henri Nouwen
2 Einfach mal hineingehen – mich im Heiligen wahrnehmen
Für den zweiten Schritt brauchen Sie wiederum eine halbe Stunde Zeit – und eventuell ein kurzes Telefonat vorneweg.
Denn es gibt zwei Möglichkeiten, mit wichtigen »Ideen« umzugehen: Man kann andere dazu einladen – oder man meint, die »Ideen« schützen zu müssen.
Und demzufolge können Kirchen offen sein – oder verschlossen. Offen sind Kirchen in der Regel dann, wenn es sich um bedeutsame Kulturdenkmäler handelt; aber das trifft bei der kleinen Dorfkirche oder der »Beton-Art«-Kirche des 20. Jahrhunderts ja nicht unbedingt immer zu. Diese Kirchen sind dann offen, wenn sich der Pfarrer oder die Gemeinde dazu bewusst entschieden haben, weil sie möchten, dass dieser »heilige Raum« allen, die es möchten, auch tagsüber offen steht: Damit man ein Gebet sprechen, eine Kerze anzünden...