NEUROENDOKRINER STRESS UND HOCHSENSIBILITÄT
Spricht man Hochsensible auf das Thema Ernährung an, so berichten viele, dass sie glutenhaltige oder milcheiweißhaltige Produkte nicht gut vertragen. Eine Verbindung zu ihrer Hochsensibilität stellen sie meist aber nicht her. Bei Autismus und ADHS ist ein Zusammenhang zu Gluten hingegen allgemein akzeptiert. Es werden immer wieder Fälle beschrieben, in denen eine Besserung unter gluten- und milcheiweißfreier Kost erreicht wurde. Bei allen Unterschieden in den Ursachenketten spielt dabei der Mechanismus von Aktivierung und Sensitivierung eine ähnlich wesentliche Rolle wie bei der Hochsensibilität. Bestimmte Substanzen verursachen Stress in unserem Neuroendokrinum (Netzwerk der Botenstoffe des Nervensystems). Sie stören unsere Körperkommunikation, indem sie Rezeptoren aktivieren oder blockieren oder die Bildung und den Abbau der körpereigenen Neurotransmitter beeinflussen. Solche Substanzen gibt es auch in der Natur. So schützen sich beispielsweise Pflanzen durch Alkaloide, die auf das Neuroendokrinum Einfluss nehmen und so bereits in bescheidenen Mengen giftig wirken.
GESTÖRTE KOMMUNIKATION IN UNSEREM KÖRPER
Als stimulierende Alltagshelfer (Alkohol, Nikotin, Koffein) oder in Form glutenhaltiger Getreideprodukte und Milcherzeugnisse sind neuroendokrine Stressoren heutzutage ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden. Hinzu kommen diverse synthetische Stoffe, die die Körperkommunikation stören, sogenannte endokrine Disruptoren, aber auch Medikamente.
Was dies für den Körper bedeutet, können Sie leicht nachvollziehen, indem Sie sich folgende Situation vorstellen: Sie sind auf einem großen Bahnhof, stehen am Bahnsteig und müssen vor der Abfahrt noch ein Telefonat führen. Doch quietschend bremst gerade der Zug, Menschen quellen aus den Waggons, reden, rennen, rempeln, Rollkoffer rattern … Sie müssen laut sprechen, verstehen trotzdem nicht alles und es ist ziemlich anstrengend. Ähnliches läuft bei neuroendokrinem Stress ab: Sobald neuroendokrine Stressoren im Körper zugegen sind, müssen die unterschiedlichen Systeme ebenfalls »lauter« kommunizieren, es gibt »Missverständnisse« und so weiter – das stresst den Körper.
Umgekehrt suchen wir jedoch auch nach solchen Stoffen, in der Erwartung, dass sie uns wacher machen, unsere Stimmung heben, uns entspannen. Halb bewusst regulieren wir unser Erregungsniveau laufend auf einen als normal empfundenen Zustand. Hier eine Latte Macchiato, dort etwas Süßes, eine Zigarette, einen Absacker. Doch oft genug erkaufen wir kurzes Wohlbefinden mit einem Kater am nächsten Tag.
Hordenin – ein Dopaminagonist
Um die Wirkung neuroendokriner Stressoren bei Hochsensibilität besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf ein paar weitere Forschungsdaten. Pünktlich zum Münchner Oktoberfest 2017 erschien eine Pressemitteilung der Erlanger Friedrich-Alexander-Universität, die ein weiteres Teil zum Dopaminpuzzle der Hochsensibilität lieferte. Unter dem Titel »Bier macht glücklich« wurde präsentiert, dass mithilfe eines computergestützten Verfahrens das Hordenin aus der Gerste als Dopaminagonist erkannt worden war. Nun trinken wohl nur wenige Hochsensible nennenswert große Mengen an Bier, schon wegen des Alkohols. Doch hilft uns diese Entdeckung weiter im Verständnis, wie Gluten auf den hochsensiblen Organismus als Stressor wirkt, denn Hordenin ist das Gluten der Gerste. Das Erlanger Forscherteam wertet das Hordenin als sehr potenten Dopamin-D2-Rezeptor-Agonisten (wirkt auf Rezeptoren des Typs 2 des Dopaminsystems).
Werfen wir einen Blick darauf, wie D2-Rezeptor-Agonisten im Körper allgemein wirken: Im Magen-Darm-Trakt beschleunigen sie den Transport von Nahrung in den Darm. Gleichzeitig sind Übelkeit und Erbrechen typische Wirkungen solcher Substanzen. Neben einer indirekten Wirkung auf die Geschlechtshormone wirken sie auch komplex auf das Gehirn. Zu diesen Mitteln gehören deshalb auch gängige Psychopharmaka. Als typische Nebenwirkungen solcher Psychopharmka werden häufig Angstzustände, Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Hautausschlag, Libidostörungen, Durchfall, Mundtrockenheit, Kraftlosigkeit und Milchfluss genannt. Daraus lässt sich nun unschwer ableiten, dass auch Gluten sowohl die Verdauung zu stören vermag als auch sonst einiges durcheinanderbringen kann. Auch Abbauprodukte aus dem Gluten, die bei der Verdauung entstehen, opioide Peptide genannt, wirken auf das Neuroendokrinum. Es kommen also sogar mehrere Wirkwege zusammen.
Den Ursachen auf der Spur: Glutenhaltiges Getreide kann vielfältige Beschwerden auslösen.
GLUTEN & MILCHEIWEISS
Gluten und Milcheiweiß können zunächst allergische Reaktionen, Autoimmunreaktionen und Unverträglichkeiten (= Intoleranzen) auslösen. Gluten- und/oder Milcheiweißintoleranzen sieht Bernhard bei seinen Klienten häufig als Stressoren bei Beschwerdebildern wie Reizmagen, Reizdarm oder Migräne. Doch beobachtet er seit Jahren, dass sich auch unabhängig von Intoleranzen bei einem erheblichen Teil seiner hochsensiblen Klienten mehr Wohlbefinden einstellt, sobald sie glutenfrei und milcheiweißfrei leben. Dies ist so konstant, dass wir die Empfehlung geben, bei Hochsensibilität prinzipiell eine gluten-und milcheiweißfreie Kost zu erproben.
Gluten
Gluten ist ein Eiweißgemisch in Getreiden, das beim Kneten gummiartig klebrig wird. Es kommt in Weizen, Dinkel, Emmer, Einkorn, Kamut®, Grünkern, Roggen, Triticale, Gerste und allen damit hergestellten Produkten vor. Die deutsche Bezeichnung »Klebereiweiß« bringt es auf den Punkt. Gluten verleiht dem Strudelteig seine Zähigkeit, macht Blätterteig und Brötchen knusprig und gibt Nudeln ihren Biss. Und weil es sich eingebürgert hat, aufwendige Verarbeitungsschritte zu umgehen, begegnen wir Gluten inzwischen auf fast jedem Regalmeter der postmodernen Warenwunderwelt als Zusatzstoff. Ob Zahnpasta oder Lippenstift, Tiefkühlfertiggericht oder Form-Pommes, selbst in Medikamenten und Getränken – Gluten sorgt dafür, dass labberige Grundmassen letztendlich gut aussehen. Auch in veganen Produkten wird es als Seitan eingesetzt zu ebendiesem Zweck. Seitan gilt zwar als hochwertiger, ist jedoch ebenfalls pures Gluten.
WEIZEN UND DINKEL
Das Gluten in Weizen, Dinkel, Emmer und anderen Getreidesorten unterscheidet sich voneinander. Dabei erweisen sich die Urgetreide wie auch Roggen, Gerste und Hafer erkennbar weniger problematisch als die modernen Weizensorten. So sind die durch Gluten ausgelösten Beschwerden nach dem Verzehr von Dinkel nur etwa halb so stark wie die Probleme nach dem Konsum von Weizen. Doch die aktivierende Wirkung auf das Dopaminsystem bleibt grundsätzlich bei allen glutenhaltigen Getreiden bestehen, ebenso die Wirkung über die opioiden Peptide. Es bleibt nur, sich glutenfreien Alternativen wie Buchweizen, Hirse, Quinoa oder Amarant zuzuwenden.
Milcheiweiß und Casomorphine
Und wie ist das bei der Milch? Milch ist grundsätzlich mit diversen Problemen behaftet: multiresistente Keime, Hormone, Antibiotika- und Pestizidrückstände, hohe Allergizität … Neben diesen Problematiken kommt für Hochsensible noch Folgendes dazu: Zumindest für die Casomorphine, Peptide, die bei der Verdauung von Milcheiweiß und bei der Käsereifung entstehen, sind ähnliche Wirkungen auf das Dopaminsystem bekannt, wie sie für Gluten dargelegt wurden.
KASEIN
Beobachtungen mit Klienten und an uns selbst legen jedoch nahe, dass es noch weitere neuroendokrine Stressoren im Milcheiweiß gibt: Milcheiweiß besteht aus Molkeneiweiß und Kasein, dem Haupteiweiß in der Tiermilch. Kasein ist der Teil des Milcheiweißes, der durch Lab ausgefällt wird und so als Käsegrundstoff dient. Je nach Tierart unterscheidet sich die Zusammensetzung des Milcheiweißes und deren Wirkung. Eigene Beobachtungen zeigen, dass die stärkste Stresswirkung vom Alpha-S1-Kasein ausgeht, das vor allem in Kuhmilch und in etwas geringerer Konzentration auch in Schafsmilch zu finden ist. Alles, was damit hergestellt wird, muss tatsächlich gemieden werden. Hingegen können auch von hochsensiblen Menschen nach einer milchfreien Abklingphase Ziegenmilchprodukte häufig wieder in bescheidenen Mengen toleriert werden.
MOLKENEIWEISS
Seit Längerem wird Molkenprotein (whey protein) in Sportlerkreisen zum Muskelaufbau benutzt. Seit Kurzem wird es nun auch als neues Superfood angepriesen. Dabei wird hervorgehoben, dass Molkenprotein die Muskelmasse steigern würde. Wie solch ein Muskel dann aussieht, kann man unschwer im nächsten Supermarkt an der Fleischtheke erkunden: Betrachten Sie einfach ein Rückensteak vom Schwein. Sehen Sie eine blasse schwammige Textur, dann können Sie davon ausgehen, dass diese größtenteils durch solche Eiweißmast zustande gekommen ist.
Molkenpulver ist ein hochverarbeitetes Nahrungsmittel und ernährungsphysiologisch minderwertig. Wir empfehlen dringend, davon Abstand zu nehmen, da Bernhard in seiner Praxis bereits Fälle von Leberschäden bei jungen Menschen nach Einnahme von Molkeneiweiß gesehen hat.
LAKTOSE
In der Diskussion über Intoleranzen gegen Milchbestandteile wird die Problematik häufig auf die Laktose verkürzt. Dabei wird die Laktoseintoleranz dann auch inhaltlich mit der Milcheiweißintoleranz (auch Kaseinintoleranz genannt) vermengt. Laktose, der Zucker der Milch, ist jedoch eine zusätzliche Problemzone der Milch. Auch laktosefreie Produkte sind selbstverständlich milcheiweißhaltig, wenn sie mit Tiermilch hergestellt wurden.
EIN PERSÖNLICHER WEG – BERNHARDS GLUTENREAKTION
Als Bernhard Mitte der 1990er-Jahre mithilfe des Ernährungstagebuchs (siehe >) erkannte, dass er nicht nur...