Einleitung
Im September 2016 schrieb der einflussreiche Blogger und Kommentator Andrew Sullivan für das Magazin New York einen Essay von 7000 Wörtern mit dem Titel »Ich war früher mal ein Mensch«. Der Untertitel war alarmierend: »Ein endloses Bombardement von Nachrichten und Klatsch und Bildern hat uns zu manischen Informationssüchtigen gemacht. Mich hat es kaputtgemacht. Es könnte auch Sie kaputtmachen.«1
Der Artikel erzeugte große Resonanz. Ich gebe aber zu, dass ich Sullivans Warnung beim Lesen zunächst nicht ganz verstanden habe. Ich bin einer der wenigen Vertreter meiner Generation, die keinen Social-Media-Account haben, und ich verbringe auch nicht viel Zeit mit dem Surfen im Internet. Infolgedessen spielt mein Smartphone eine relativ untergeordnete Rolle in meinem Leben – was mich zur Randfigur der weitverbreiteten Erfahrungen machte, die in diesem Artikel aufgegriffen wurden. Mit anderen Worten, ich wusste, dass die Innovationen des Internetzeitalters im Leben vieler Menschen eine immer wichtigere Rolle spielten, aber ich hatte keinen intuitiven Zugang zu ihrer Bedeutung. Zumindest so lange, bis alles anders wurde.
Etwas früher im selben Jahr war mein Buch Konzentriert arbeiten veröffentlicht worden. Darin geht es um den unterschätzten Wert der intensiven Konzentration und darum, dass der Schwerpunkt der Berufswelt auf ablenkende Kommunikationsmittel die Leute daran hindert, ihr Bestes zu geben. Während mein Buch sich ein Publikum eroberte, meldeten sich immer mehr Leser bei mir. Einige schickten mir Nachrichten, andere sprachen mich bei öffentlichen Auftritten an – und viele stellten dieselbe Frage: Was war mit ihrem Privatleben? Sie stimmten meinen Thesen über die Ablenkungen im Büro zu, aber dann erklärten sie, dass sie unzweifelhaft noch stärker davon gestresst waren, wie die neuen Technologien ihrer Freizeit zunehmend Sinn und Zufriedenheit zu rauben schienen. Das weckte meine Aufmerksamkeit und verschaffte mir einen unerwarteten Intensivkurs über die Versprechungen und Gefahren des modernen digitalen Lebens.
Fast jeder, mit dem ich mich unterhielt, glaubte an die Macht des Internets und erkannte, dass es eine Kraft sein kann und sollte, die das Leben verbessert. Diese Menschen wollten nicht unbedingt auf Google Maps verzichten oder sich bei Instagram abmelden, hatten jedoch auch den Eindruck, dass ihr derzeitiges Verhältnis zur Technologie so nicht unverändert bestehen bleiben konnte – bis zu dem Punkt, dass sie es sogar abbrechen würden, wenn sich nicht bald etwas änderte.
Ein Begriff, den ich in diesen Gesprächen über das moderne digitale Leben häufig hörte, war Erschöpfung. Es ist nicht so, als wäre irgendeine bestimmte App oder Website für sich betrachtet besonders schlecht. Wie viele meiner Gesprächspartner klarstellten, bestand das Problem mehr in der Gesamtheit so vieler unterschiedlicher bunter Spielereien, die pausenlos um ihre Aufmerksamkeit buhlten und ihre Stimmung manipulierten. Ihr Problem bei dieser fieberhaften Aktivität lag weniger in den Details als in der Tatsache, dass sie zunehmend außer Kontrolle geriet. Nur wenige wollten so viel Zeit online verbringen, aber diese Tools haben die Eigenheit, ein gewisses Suchtverhalten zu kultivieren. Der Drang, »mal schnell« bei Twitter reinzuschauen oder Reddit zu aktualisieren, wird zu einem nervösen Tick, der ununterbrochene Zeit in Bruchstücke zerteilt, die zu kurz sind, um die für ein bewusstes Leben notwendige Präsenz zu stärken.
Wie ich bei meinen nachfolgenden Recherchen herausfand und im nächsten Kapitel darlegen werde, erfolgen einige dieser Suchtverhaltensformen zufällig (kaum jemand konnte voraussehen, wie stark das Schreiben von Textnachrichten unsere Aufmerksamkeit beanspruchen würde), während andere durchaus absichtsvoll sind (exzessive Nutzung ist die Grundlage vieler Businesspläne für Social-Media-Unternehmen). Doch worin auch immer die Ursache liegt, die unwiderstehliche Anziehungskraft von Bildschirmen vermittelt den Menschen das Gefühl, dass sie mehr und mehr ihre Autonomie einbüßen, wenn es um die Lenkung ihrer Aufmerksamkeit geht. Natürlich hat sich niemand für diesen Kontrollverlust entschieden. Jeder hat schon einmal aus guten Gründen Apps heruntergeladen und Accounts eingerichtet, nur um mit bitterer Ironie festzustellen, dass diese Dienste eben jene Werte untergraben, die sie überhaupt erst so überzeugend machten: Man meldet sich bei Facebook an, um mit Freunden im ganzen Land in Kontakt zu bleiben – und sieht sich dann plötzlich nicht mehr in der Lage, ein ungestörtes persönliches Gespräch mit einem Freund am selben Tisch zu führen.
Ich erfuhr auch etwas über die negativen Folgen uneingeschränkter Onlineaktivität für das psychische Wohlbefinden. Viele Menschen, mit denen ich mich unterhielt, unterschätzten die Fähigkeit der sozialen Medien, ihre Stimmung zu beeinflussen. Wenn man ständig der von Freunden sorgfältig kuratierten Darstellung ihres Lebens ausgesetzt ist, erzeugt dies ein Gefühl der Unzulänglichkeit – insbesondere in Zeiten, da man sich ohnehin bereits schlecht fühlt –, und Teenager können dadurch auf grausam wirkungsvolle Weise öffentlich ausgegrenzt werden.
Wie die US-Präsidentschaftswahl von 2016 und ihre Nachwirkungen bewiesen haben, scheinen Onlinedebatten darüber hinaus die Tendenz zu emotional aufgeladenen und spaltenden Extremen zu beschleunigen. Der Technologiephilosoph Jaron Lanier legt überzeugend dar, dass die Vorherrschaft von Wut und Aufgebrachtheit online in gewisser Weise ein unvermeidbares Charakteristikum des Mediums ist:2 Auf einem offenen Marktplatz der Aufmerksamkeit ziehen düstere Emotionen mehr Blicke auf sich als positive und konstruktive Gedanken. Für starke Internetnutzer kann die wiederholte Begegnung mit dieser Düsterkeit ein Quell zehrender Negativität werden – ein hoher Preis, den viele für ihre zwanghafte Vernetzung bezahlen, ohne es überhaupt zu bemerken.
Die Begegnung mit dieser erschütternden Ansammlung von Bedenken – von der erschöpfenden und suchtartigen übermäßigen Nutzung dieser Tools über ihre Fähigkeit zur Verringerung der Autonomie, die Minderung von Zufriedenheit und die Auslösung dunkler Instinkte bis hin zur Ablenkung von wertvolleren Aktivitäten – öffnete mir die Augen für das angespannte Verhältnis, das so viele mittlerweile zu den Technologien unterhalten, die unsere Kultur beherrschen. Mit anderen Worten, sie verschaffte mir ein viel besseres Verständnis dessen, was Andrew Sullivan meinte, als er sich in seinem Artikel beklagte: »Ich war früher mal ein Mensch.«
Diese Erfahrung des Austauschs mit meinen Lesern überzeugte mich davon, dass die Auswirkungen der Technologie auf das Privatleben eine gründlichere Untersuchung verdienten. Ich begann, ernsthafter zu diesem Thema zu recherchieren und darüber zu schreiben, wobei ich sowohl seine Umrisse besser zu erfassen als auch die raren Beispiele für Menschen zu finden versuchte, die aus diesen neuen Technologien großen Nutzen ziehen, ohne die Kontrolle zu verlieren.3
Eines der ersten Dinge, die während dieser Untersuchung deutlich wurden, ist die Tatsache, dass unsere kulturelle Beziehung zu diesen Tools aufgrund ihrer Vermischung von Schaden und Nutzen verkompliziert wird. Smartphones, allgegenwärtiges WLAN, digitale Plattformen, die Milliarden Menschen miteinander verknüpfen – das sind großartige Innovationen! Nur wenige ernst zu nehmende Kommentatoren sind der Meinung, dass wir besser dran wären, wenn wir in ein früheres technologisches Zeitalter zurückfielen. Doch gleichzeitig sind wir es leid, uns als Sklaven unserer Mobilgeräte zu fühlen. Diese Tatsache erzeugt eine durcheinandergewürfelte emotionale Landschaft, in der Sie zu schätzen wissen, dass Sie auf Instagram inspirierende Fotos finden, und sich gleichzeitig darüber ärgern, dass die App sich in Ihren Feierabend drängt, den sie früher im Gespräch mit Freunden oder lesend verbracht haben. Die häufigste Reaktion auf diese Klagen ist die Weitergabe schlichter Lifehacks und Tipps: Wenn Sie ein digitales Sabbatical einlegen oder Ihr Smartphone nachts nicht neben das Bett legen oder die Benachrichtigungen deaktivieren und sich für mehr Achtsamkeit entscheiden, können Sie vielleicht all das Gute behalten, das Sie überhaupt erst an diesen neuen Technologien gereizt hat, und trotzdem ihre negativsten Auswirkungen umgehen. Ich verstehe den Reiz dieser schlichten Vorgehensweise, denn sie enthebt Sie der Notwendigkeit, harte Schnitte in Ihrem digitalen Leben vorzunehmen: Sie müssen nichts aufgeben, auf keine Vorteile verzichten, keinen Ihrer Freunde vor den Kopf stoßen und keine größeren Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.
Doch wie denjenigen, die solche Formen kleinerer Korrekturen vorgenommen haben, inzwischen zunehmend klar wird, sind Willensstärke, Tipps und halbgare Lösungen nicht ausreichend, um das Eindringen der neuen Technologien in unsere kognitive Landschaft im Zaum zu halten. Das Suchtpotenzial ihrer Erscheinungsform und die Stärke des damit zusammenhängenden kulturellen Drucks sind zu stark, als dass ein Ad-hoc-Ansatz Wirkung zeigen könnte. Bei meiner Arbeit zu diesem Thema bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir stattdessen eine voll ausgereifte Philosophie der Technologienutzung brauchen, die tief in unseren Wertvorstellungen verwurzelt ist und klare Antworten auf die Fragen...