Wer bin ich, und wenn ja, wer ist das da im Spiegel?
Menschen erkennen sich selbst im Spiegel – von möglichen frühmorgendlichen Ausnahmen einmal abgesehen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Tiere dieses Kunststück der Selbsterkenntnis nicht zu vollführen mögen. Für die Wissenschaft galt über Jahrhunderte das unumstößliche Mantra: Tiere sind sich ihrer selbst nicht bewusst, sondern sie sind nur die Summe ihrer angeborenen Instinkte und angelernten Verhaltensweisen. Doch in den letzten Jahrzehnten verwischte diese Trennschärfe zwischen Mensch und Tier. Heutzutage ist bekannt, dass einige Spezies durchaus um ihre eigene Existenz wissen. Schimpansen, Orang-Utans, Elefanten oder Delfine – allesamt Säugetiere – bilden im Tierreich den Gipfel der tierischen Selbsterkenntnis. Hinzu kommt eine weitere Art: die Elster. Den Beweis brachte der sogenannte Spiegeltest, der mit einfachen Mitteln Antwort auf die Frage gibt: Erkennt ein Tier sein Spiegelbild als eigenes Abbild oder ist es für das Tier nur eine optische Reflexion, vielleicht ein Artgenosse, der merkwürdigerweise die eigenen Bewegungen permanent nachahmt? Um das festzustellen, markierte man Elstern mit kleinen farbigen Aufklebern an Kopf oder Brust, die sie nur im Spiegel erkennen konnten. Das Ergebnis: Die meisten Elstern schauten in den Spiegel und erkannten: »Das bin ich, aber was klebt da an meinem Kopf?« Die erstaunten Elstern versuchten (fast immer), die Aufkleber mit Krallen oder Schnabel aus dem Gefieder zu kratzen. Auch das Ergebnis der Gegenprobe war eindeutig: Man setzte markierte Vögel vor eine nicht reflektierende Wand. Keine der Elstern störte sich jetzt noch an den Aufklebern. Somit war ausgeschlossen, dass die Vögel die Markierungen nur deshalb entfernten, weil man vorher ihr Gefieder angefasst hatte.
Evolutionär gesehen ist die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis bei Vögeln erstaunlich. Bei Säugetieren finden derartige intellektuelle Leistungen im Cortex (die Großhirnrinde) statt. Vögel besitzen keine derartige Gehirnstruktur, weshalb man lange Zeit davon ausging, dass sie auch kein Gespür für die eigene Existenz hätten. Doch offensichtlich gönnte sich die Evolution den Luxus der Selbsterkenntnis gleich auf zwei Wegen. Beim Säuger im Großhirn, das aus unterschiedlichen neuronalen Schichten besteht, bei den Vögeln in einer Gehirnregion, die eher aus organisierten Zellhaufen besteht, die völlig anders aufgebaut sind als der menschliche Cortex.
In den menschlichen Köpfen haben sich ein paar Vorurteile über Elstern eingenistet. Regelmäßig erreichen Naturschutzverbände und Jägerschaft Aufforderungen, endlich etwas gegen die Verbreitung der Elstern zu tun. Meist gepaart mit dem Hinweis auf die massenhafte Tötung unschuldiger Singvogeljungen, begangen durch die Elster. Doch was ist dran am Mythos der Massenplage? Richtig ist: In den vergangenen 50 Jahren haben sich die Bestände der Elster in manchen Großstadtbezirken verzwanzigfacht, während sie auf dem Land immer seltener anzutreffen ist. Bejagung und busch- und baumlose Agrarsteppen machen ihr das Landleben immer schwerer. In der Stadt profitiert sie unter anderem von dem Trend, Straßen wieder stärker zu begrünen. Während man in den Zeiten des Wirtschaftswunders Straßen hauptsächlich zweckdienlich von einem Punkt zum nächsten planierte, hat sich diese Vorgehensweise gewandelt und heutzutage wird Wert auf natürliches Straßenbegleitgrün gelegt. Durch dieses Grün bieten sich der Elster viele Nistmöglichkeiten. Dennoch kann von einer Massenplage in den Städten nicht die Rede sein, auch wenn manche Eigenart der Elster diesen Anschein erwecken mag: Ihr natürliches Brutverhalten täuscht eine Übervölkerung vor. Es kann vorkommen, dass von zehn gebauten Nestern nur ein einziges genutzt wird, zumindest durch die eigene Art. Elstern bauen sehr stabile Nester, die bei anderen Vogelarten sehr beliebt sind. Sogar der seltene Rotmilan wurde schon in Elsternestern gesichtet. Vor allem aber profitiert die Waldohreule, die selber keine Nester baut und Fremdnester für den Nachwuchs besetzen muss. Für sie stellt ein Elsternest in der Großstadt manchmal die einzige verfügbare Brutmöglichkeit dar. Schon deshalb verbietet sich das immer wieder geforderte »Ausschießen« von bebrüteten Elsternestern. Bei dieser Jagdmethode schießt man blindlings auf die sichtbaren (aber nicht einsehbaren Nester), durchsiebt sie mit einer Ladung Schrotkugeln, wobei auch streng geschützte Eulen- oder Greifvogelarten getötet werden könnten. Die Jagd mitten in der Stadt verbietet sich aber ohnehin, auf dem Land darf sich die Elster aber nicht sicher sein. In vielen Bundesländern fällt sie unter das Jagdrecht, auch wenn es noch immer keinen wissenschaftlich fundierten Beweis dafür gibt, dass der schwarzweiße Vogel Singvogelpopulationen ernsthaft gefährden kann. Richtig ist, dass ein kleiner Teil ihrer Nahrung aus Eiern und kleineren Singvögeln besteht. Für einen Gartenbesitzer mag das Herz eher für ein putziges Blaumeisenjunges schlagen als für eine krächzende Elster auf Beutezug. Doch die Elster versucht genauso zu überleben wie die Blaumeise, weshalb die Forderung der Bejagung von der Mehrheit der Experten abgelehnt wird.
Ich denke, also bin ich: Wenn Elstern in den Spiegel schauen, sehen sie mehr als andere Vögel.
Massivbauweise: Elsternester sind robust konstruierte Trutzburgen in den Baumkronen. Verlassene Nester sind bei anderen Vogelarten deshalb fürs eigene Brutgeschäft sehr beliebt.
IST DER RABENVOGEL WIRKLICH EIN TIERISCHER KLEPTOMANE?
Nein, das Vorurteil, dass die Elster – vor allem glänzende Gegenstände – mitgehen lässt, ist widerlegt. Englische Wissenschaftler ließen Elstern zwischen einem Haufen Nüsse und einer Handvoll glänzender und funkelnder Gegenstände wählen. Ergebnis: Bei den Nüssen griffen die Rabenvögel kräftig zu, die Glitzergegenstände blieben uninteressant.
Sofern man unter den Stadttieren wirklich einen Schuldigen für ein Singvogelsterben sucht, schleicht sich dieser auf vier Pfoten durchs Gebüsch: In manchen Gärten fallen rund 60 Prozent der Singvögel Katzen zum Opfer. Hinzu kommen auch Nesträuber wie Marder und Eichhörnchen. Auch wenn die Elster bei vielen Vogelfreunden verrufen ist – das Zerrbild des Singvogelkillers hat nichts mit der Realität zu tun. 90 Prozent ihrer Nahrung besteht aus Insekten, Früchten, Weichtieren, Getreide oder Abfällen, mit den restlichen 10 Prozent macht sich die intelligente Elster zwar nicht beliebt, rottet damit aber auch keine Singvogelarten aus. Und überhaupt: Um jemanden zu finden, der ganze Tierarten ausrotten kann, dafür reicht beim Menschen schon der Blick in den Spiegel.
Sei gegrüßt, altes Haus!
Ein wahres Musterbeispiel in Sachen Kulturfolge ist der Turmfalke. Der kleine Greifvogel hat schon früh menschliche Bauwerke wie beispielsweise Kirchtürme als praktische Brutplätze für sich entdeckt. Dieses Verhalten hat ihm seinen deutschen Namen eingebracht, wobei der wissenschaftliche Name Falco tinnunculus so viel wie der »schellende« oder »klingende« Falke bedeutet und sich von den charakteristischen »Kikikiki«-Rufen des Vogels ableitet. Ursprünglich sind Turmfalken Felsbrüter, die bevorzugt in steinigen Regionen in Spalten und Höhlen ihre Jungvögel aufziehen. Im Laufe der Zeit sind jedoch in den Städten durch Hochhäuser, Kirchtürme und Industriebauten jede Menge »künstliche« Felsen entstanden, die dem Turmfalken ideale Brutbedingungen bieten. Heute sind Turmfalken in nahezu jeder Großstadt heimisch und beziehen hier vornehmlich die verwinkelten Altbauten, die für die Vögel viele Nischen als Brutplätze bereithalten.
Wenn Biologen das Leben von Wildtieren in der Stadt untersuchen, stellt sich fast immer die Frage, ob Faktoren wie Lärm oder Verkehr die Tiere unter Stress setzen. Dies lässt sich durch Blutuntersuchungen herausfinden, bei denen die Sättigung von Stresshormonen analysiert wird. Wenn es um Turmfalken geht, stellt sich die Sache nicht ganz so einfach dar: Wie soll man einem Vogel, der in schwer zugänglichen und hoch gelegenen Gebäudenischen brütet, Blut abnehmen, ohne ihn dabei so unter Stress zu setzen, dass er Stresshormone ausschüttet und es damit unmöglich macht, Stresshormone zu messen, die sich allein auf Umweltbedingungen zurückführen lassen? Wissenschaftler vom Department für Integrative Zoologie der Universität Wien haben eine ungewöhnliche Methode angewendet. Sie bastelten künstliche Eier, die optisch und von der Größe einem Turmfalkenei gleichkamen. In diese Eier setzte man jeweils ein Exemplar einer mexikanischen Raubwanze, die sich normalerweise von Eidechsenblut ernährt, das sie mithilfe eines dünnen Stechrüssels »aus dem Reptil« abzapft. Im Zuge der Untersuchungen wurden diverse Turmfalkennester erklettert, in die man die präparierten Eier einschleuste. Während die Falken brüteten, durchbrach die Raubwanze die Eierschale und stillte ihren Hunger mit dem Blut der Falken. Nach wenigen Stunden holte man das falsche Ei samt Wanze wieder aus dem Nest und extrahierte das frische Falkenblut aus dem Insekt, um es auf Stresshormone zu untersuchen. Das Ergebnis war eindeutig: City-Falken sind nicht gestresster als ihre Verwandten, die am Stadtrand leben.
Wissen verwinkelte Altbauten sehr zu schätzen: Turmfalken sind typische Gebäudebrüter.
Dieses Ergebnis ist ein Beleg dafür, wie gut sich Stadtturmfalken auf das Leben im urbanen Umfeld eingestellt haben. So haben sie beispielsweise ihren Speiseplan angepasst und sich hinsichtlich ihrer Beutetiere auf Sperlinge und andere Kleinvögel spezialisiert. Landbewohnende...