2. Wie uns Ketone auf dem gesamten Lebensweg begleiten und schützen - von vor der Geburt bis ins hohe Alter
Hey Baby: Ketone für die Gehirnentwicklung
Wir kommen in Ketose zur Welt und verbringen auch unsere ersten Lebensmonate in Ketose – wenn alles gut läuft. Denn die meist milde Ketonämie, mit der wir das Licht der Welt erblicken, ist essenziell für die normale Hirnentwicklung eines Menschenbabys!1 Das heißt NICHT, dass es keine Glukose benötigen würde – im Gegenteil: Beide Nährstoffe sind wichtig! Neugeborene und gestillte Säuglinge haben neben Glukose stets auch Ketone im Blut. Die Werte eines Neugeborenen liegen meist zwischen 0,5 und 1,5 Millimol pro Liter, selten erreichen sie auch einmal 2 bis 3 Millimol pro Liter.2 Doch was an Ketonen im Blut schwimmt, wird vom kindlichen Gehirn begierig aufgenommen. Es ist eben dieses Organ, das die Ketose vom ersten Lebenstag an so bedeutsam für uns Menschen macht. Doch warum ist das so?
Im Lauf der Evolution wurde die Gattung Homo mit einem sehr anspruchsvollen Gehirn ausgestattet. Es ist zwar weder das größte Gehirn im Tierreich noch hat es den höchsten Teil am Körpergewicht. Doch im Verhältnis zu unserer Körperhöhe ist es deutlich größer als erwartet, etwa im Vergleich zu gleichgroßen Primaten oder Affen.3 Zudem muss es nach der Geburt noch sehr viel stärker »nachreifen« als die Gehirne anderer Tierbabys. Auch das unterscheidet uns von den meisten Tieren, selbst von unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Sie kommen mit Gehirnen zur Welt, die kleiner, zugleich aber auch ausgereifter und »fertiger« sind als ein Babyhirn. Beim Menschen hat die Evolution offensichtlich nicht in das investiert, was das Gehirn bald nach der Geburt leisten kann, sondern in das, was im späteren Leben an Leistungen möglich wird.4
Wir »Groß-Kopferten«
Ein großes Gehirn erforderte jedoch Kompromisse für die Geburt: Auch wenn es bereits im Mutterleib so groß wie möglich werden soll, gibt es Grenzen, denn es muss ja durch den Geburtskanal passen, der sich aus Gründern der mütterlichen »Statik« nicht beliebig erweitern lässt. Der Kopf eines Neugeborenen ist überproportional groß, denn er beherbergt ein bereits 400 Gramm schweres Gehirn. Das entspricht bei einem normalen Geburtsgewicht von etwa 3500 Gramm rund 11,4 Prozent seines Körpergewichts. Bis zum Erwachsenenalter verdreifacht sich das Hirngewicht in etwa, es wiegt dann zwischen 1200 und 1400 Gramm. Geht man von einem »Normalgewicht« von 70 Kilogramm aus, dann entspricht das Hirngewicht bei Erwachsenen aber nur rund 2 Prozent des Körpergewichts. Bezieht man das Hirngewicht nur auf die Magermasse einer Person, dann beträgt sein Anteil am Körpergewicht 2,7 Prozent.5
modif. n. Gluckmann, P et al., Principles of Evolutionary Medicine, S. 110
Speziell, empfindlich – und hungrig
Ein Gehirn hat die Aufgabe, den Körper zu steuern, und zwar so, dass sein Besitzer bestmöglich gedeiht und sich fortpflanzen kann. Das menschliche Hirn verfügt darüber hinaus über einzigartige kognitive und intellektuelle Fähigkeiten. Das alles hat seinen Preis: Aufgrund seiner besonderen Strukturen – viele Zellmembranen, viele hochempfindliche Fettsäuren wie die sechsfach ungesättigte DHA (siehe Seite 13) – ist es sehr entwicklungsfähig, aber auch sehr sensibel. Und schon allein aufgrund seiner Größe benötigt es sehr viel Energie, ununterbrochen, Tag und Nacht.
Die gut 2 Prozent Hirnmasse eines Erwachsenen verschlingen rund 25 Prozent des Grundumsatzes, das ist der Energieverbrauch in Ruhe. Bei einem Säugling sind es jedoch etwa 75 Prozent!6 Das heißt: Drei Viertel aller Kilokalorien, die ein Neugeborenes in seinen ersten Lebensmonaten verbraucht, benötigt es für sein Gehirn – und dabei ist es noch nicht einmal in der Lage, wesentliche kognitive Leistungen oder koordinierte Bewegungen zu vollbringen. Es benötigt auch deshalb viel Energie, weil sein Hirn nach der Geburt noch erheblich wachsen muss und weil wichtige Strukturen erst noch ausgebaut und verfeinert werden müssen.
Genau dafür sind Ketone wichtig, denn über Glukose allein ließe sich der Energiebedarf des (kindlichen) Gehirns kaum decken! Daher ist die menschliche Leber besser als die Leber anderer Tiere dazu befähigt, viele Ketone zu bilden, die unser Hirn leicht aufnehmen und verwerten kann. Nach Einschätzung des Hirnforschers Prof. Stephen Cunnane von der Sherbrooke Universität in Québec war das die »energetische Versicherung«, die im Lauf der Evolution die Entstehung des großen Menschenhirns erst ermöglichte.7
Körpergewicht – Hirngewicht – Energieverbrauch
Alter | Körpergewicht | Hirngewicht | Anteil am Körpergewicht | Energieverbrauch des Gehirns/d | Prozent vom Grundumsatz |
Neugeborenes | 3,5 kg | 400 g | 11,4 % | 118 kcal | 74 % |
4–6 Monate | 5,5 kg | 650 g | 11,8 % | 192 kcal | 64 % |
1–2 Jahre | 11 kg | 1045 g | 8,6 % | 311 kcal | 53 % |
5–6 Jahre | 19 kg | 1235 g | 6,5 % | 367 kcal | 44 % |
10–11 Jahre | 31 kg | 1350 g | 4,4 % | 400 kcal | 34 % |
14–15 Jahre | 50 kg | 1360 g | 2,7 % | 403 kcal | 27 % |
Erwachsene | 70 kg | 1400 g | 2 % | 414 kcal | 23 % |
mod. n. Cunnane, S: Survival of the Fattest, S. 63
Ketone dienen dem unreifen Gehirn eines Säuglings aber nicht nur als zweite wichtige Energiequelle neben der Glukose, sie dienen ihm auch als Grundstoff für die nach der Geburt noch nötigen »Bauarbeiten«. Denn Babygehirne verwenden Ketonkörper auch, um daraus Cholesterin, gesättigte (Palmitin- und Stearinsäure) und einfach ungesättigte (Ölsäure) Fettsäuren und sogar Proteine herzustellen.8 Cholesterin und Fettsäuren sind – neben etwas Eiweiß und speziellen Zuckern – die wichtigsten Bausteine für die neu zu errichtenden und noch auszubauenden Hirnstrukturen: insbesondere für Zellmembranen, Synapsen und Myelinscheiden.
Neue Hüllen braucht das Hirn
Nach der Geburt entstehen, bis auf wenige Ausnahmena, kaum noch neue Nervenzellen (Neuronen) im Gehirn. Die vorhandenen Neuronen wachsen jedoch und verknüpfen sich mit vielen anderen Hirnzellen. Und das ist auch gut so, sonst wäre weder das lebenslange Lernen noch die Regeneration nach Krankheiten oder Schädigungen des Gehirns möglich. Für ihr Wachstum und die Neuverschaltungen bilden die Neuronen verschiedene »Ärmchen« aus: die kurzen Dendriten für eingehende Signale und die langen Axone für ausgehende Signale sowie Synapsen als »Schaltstellen«, an denen die Signale von Zelle zu Zelle geleitet werden. Für alle diese neuen Strukturen braucht es jede Menge Zellmembranmaterial, denn ohne eine schützende und begrenzende Membran könnten die Zellfortsätze ihre Jobs nicht erledigen. Und damit sind wir wieder bei den Ketonen, denn erstens benötigt der Aufbau von Zellmembranen viel Energie, die von Ketonen auch dann bereitgestellt werden kann, wenn es an anderen Energieträgern mangelt. Und zweitens bestehen Zellmembranen vor allem aus Phospholipiden und Cholesterin.
Phospholipide enthalten zwei Fettsäuren, wovon eine gesättigt oder einfach ungesättigt ist, um die Membran zu stabilisieren. Die zweite Fettsäure ist mehrfach ungesättigt, meist handelt es sich um die vierfach ungesättigte Arachidonsäure oder die sechsfach ungesättigte Docosahexaensäure (DHA). Arachidonsäure und DHA werden mit dem Blut angeliefert und vom Gehirn nach Bedarf und selektiv aufgenommen.10 Das Cholesterin sowie gesättigte und die einfach ungesättigten Fettsäuren für die Zellmembranen stellt das Gehirn jedoch selbst her. Zur Begründung heißt es meist, sie würden nicht schnell genug oder nicht in ausreichender Menge durch die Blut-Hirn-Schranke gelangen.11 Das ist auch richtig, aber warum ist das so? Warum hat das Gehirn in den Jahrmillionen seiner Entwicklung keine schnellen Fettsäuretransporter entwickelt?
Schematischer Aufbau einer Zellmembran
Eine nachvollziehbare Antwort auf diese Fragen fand Prof. Cunnane aus Québec: Fettsäuren und das Cholesterin beeinflussen die Durchlässigkeit, die Flexibilität und die Funktionsfähigkeit von Zellmembranen derart und die Zellmembranen beeinflussen wiederum die Hirnfunktion so entscheidend, dass es äußerst ungünstig wäre, wenn sie, je nachdem, was gegessen wurde, in variierenden Mengen und wechselnder Zusammensetzung ins Hirn fluten würden. Unter diesen Gesichtspunkten ist es mehr als sinnvoll, wenn das Gehirn ihr Vorhandensein durch Eigensynthese direkt vor Ort exakt steuern kann.12 Es benötigt dafür Baustoffe, die problemlos und...