1 • Camp Moriah
„Ich werde nicht gehen!“ Der Protest des Mädchens zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. „Ihr könnt mich nicht zwingen!“
Die Frau, die sie anschrie, versuchte den Teenager zu beruhigen. „Jenny, hör mir doch mal zu.“
„Ich werde nicht gehen!“, kreischte Jenny. „Es ist mir egal, was du sagst, ich werde nicht gehen!“
Mit diesen Worten drehte sich das Mädchen um und wandte sich einem Mann mittleren Alters zu, der hin- und hergerissen war, ob er sein Kind in die Arme nehmen oder sich unbemerkt davonschleichen sollte. „Daddy, bitte!“, bettelte sie.
Lou Herbert, der die Szene von der anderen Seite des Parkplatzes aus beobachtete, wusste noch vor Jennys Flehen, dass dies ihr Vater war. Er konnte sich selbst in dem Mann wiedererkennen. Er kannte die Zwiespältigkeit, die er seinem eigenen Kind gegenüber verspürte, dem 18-jährigen Cory, der angespannt neben ihm stand.
Cory hatte gerade eine einjährige Strafe in einem Jugendgefängnis verbüßt, wegen Drogenmissbrauchs. Keine drei Monate nach seiner Freilassung wurde er wegen des Diebstahls verschreibungspflichtiger Schmerzmittel im Wert von tausend Dollar festgenommen. Dies hatte noch mehr Schande über ihn, und wie Lou meinte, über die Familie gebracht. Dieses Verhaltensprogramm hier sollte sich etwas einfallen lassen, um Cory wieder zurechtzubiegen.
Er schaute zurück zu Jenny und ihrem Vater, an den sie sich verzweifelt klammerte. Lou war froh, dass Cory per Gerichtsbeschluss in dieses Programm geschickt worden war. Ein Aufstand wie der Jennys hätte Cory einen weiteren Aufenthalt im Gefängnis eingebracht. Lou war überzeugt, dass der Morgen ohne Zwischenfälle verlaufen würde.
Lous Frau Carol signalisierte ihnen, zu ihr zu kommen. Er zog an Corys Arm: „Komm, deine Mutter möchte etwas von uns.“
„Lou, das ist Yusuf Al-Falah“, stellte sie den Mann neben sich vor. „Herr Al-Falah hat uns geholfen, alles für Cory zu arrangieren.“
„Natürlich“, erwiderte Lou mit einem gezwungenen Lächeln.
Yusuf Al-Falah war die arabische Hälfte einer ungewöhnlichen Partnerschaft in der Wüste Arizonas. Er war in den 1960er Jahren aus Jerusalem kommend via Jordanien in die USA emigriert, um seine Ausbildung fortzusetzen. Als Pädagogik-Professor an der Arizona State University ließ er sich dann in den USA nieder. Im Sommer 1978 freundete sich Yusuf mit einem jungen und verbitterten Israeli namens Avi Rozen an, der nach dem Tod seines Vaters im Jom-Kippur-Krieg 1973 in die Staaten ausgewandert war. Damals erhielten er und weitere Jugendliche, die Probleme mit ihren schulischen Leistungen hatten, in einem experimentellen Programm die Chance, ihre College-Karrieren während eines langen Sommers in den Bergen und Wüsten Arizonas zu retten. Der fünfzehn Jahre ältere Al-Falah leitete das Programm.
Es handelte sich damals um ein 40-tägiges Überlebenstraining, die Art Erfahrung, die Araber und Israelis aus der Generation von Al-Falah und Rozen seit ihrer Kindheit geprägt hatte. In diesen 40 Tagen entstand eine Verbindung zwischen den beiden. Zwischen Moslem und Jude, die beide ein Land – mitunter denselben Grund und Boden – als heilig ansahen. Aus diesem gemeinsamen Respekt für das Land entwickelte sich über die Zeit ein Respekt füreinander, trotz der Glaubensunterschiede und dem Konflikt, der ihre Völker spaltete.
So zumindest wurde es Lou erzählt. In Wahrheit war Lou skeptisch, was dieses Bild des Friedens anbetraf, das für die Beziehung von Al-Falah und Rozen gezeichnet wurde. Für ihn roch das nach einer Werbekampagne, die Lou nur zu gut aus der Marketingerfahrung seines eigenen Unternehmens kannte. „Komm, werde geheilt von zwei ehemaligen Feinden, die nunmehr zusammen in Frieden in ihren Familien leben.“ Je länger er über die Al-Falah/Rozen-Geschichte nachdachte, desto weniger glaubte er an sie.
Hätte er in dem Moment über sich selbst nachgedacht, hätte er zugeben müssen, dass es genau dieses Flair des Nahen Ostens um Camp Moriah herum war, das ihn dazu verlockt hatte, zusammen mit Carol und Cory das Flugzeug zu besteigen. Sicherlich hatte er allen Grund, nicht mitzukommen. Fünf Führungskräfte hatten kürzlich seine Firma verlassen und die Organisation in Gefahr gebracht. Wenn er schon zwei Tage am Stück woanders verbringen musste, wie es von Al-Falah und Rozen verlangt wurde, dann benötigte er Entspannung auf einem Golfplatz oder an einem Pool statt für eine Gruppe verzweifelter Eltern Mitleid zu empfinden.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, heuchelte er gegenüber Al-Falah. Lou beobachtete das Mädchen aus seinen Augenwinkeln. Sie protestierte zwischen Schluchzern und hing und zerrte an ihrem Vater. „Sieht so aus, als hätten Sie hier alle Hände voll zu tun.“
Al-Falahs Augen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich denke schon. Eltern können bei Anlässen wie diesen ein wenig hysterisch werden.“
„Eltern?“, dachte Lou. „Das Mädchen ist hier die Hysterische.“ Aber Al-Falah hatte bereits ein Gespräch mit Cory angefangen, bevor Lou darauf hinweisen konnte.
„Du musst Cory sein.“
„Das bin ich wohl“, antwortete Cory flapsig. Lou zeigte seine Missbilligung, indem er seine Finger in Corys Bizeps grub. Cory spannte als Antwort die Muskeln an.
„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Junge“, erwiderte Al-Falah ohne von Corys Ton Notiz zu nehmen. „Ich habe mich schon lange auf diesen Moment gefreut.“ Er beugte sich vor und ergänzte: „Wahrscheinlich mehr als du. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du dich freust, hier zu sein.“
Cory antwortete nicht direkt. „Nein, nicht wirklich. Nein“, gab er schließlich zu und zog seinen Arm aus dem Griff seines Vaters. Er strich reflexartig über seinen Arm, als ob er die letzten möglichen Fasern seines Vaters entfernen wollte.
„Ich kann dir das nicht verübeln“, entgegnete Al-Falah und schaute zu Lou und dann zurück zu Cory. „Ich nehme dir das gar nicht übel. Aber weißt du was?“, Cory sah ihn misstrauisch an. „Es würde mich wundern, wenn du dich sehr lange so fühlen würdest. Vielleicht ja. Aber es würde mich wundern.“ Er gab Cory einen Klaps auf den Rücken. „Ich bin nur froh, dass du hier bist, Cory.“
„Ja, ok“, sagte Cory etwas weniger scharf als zuvor. Dann zurück in alter Form säuselte er: „Was immer Sie sagen.“
Lou warf Cory einen verärgerten Blick zu.
„Also, Lou“, sagte Al-Falah, „Sie sind wahrscheinlich auch nicht allzu begeistert, hier zu sein, oder?“
„Im Gegenteil“, entgegnete Lou mit einem gezwungenen Lächeln. „Wir sind sehr froh, hier zu sein.“
Carol, die neben ihm stand, wusste nur zu gut, dass das überhaupt nicht stimmte. Aber er war mitgekommen. Das musste sie ihm zugestehen. Er beschwerte sich oft über Unannehmlichkeiten, aber am Ende entschied er sich meistens für die unbequeme Option. Sie ermahnte sich selbst, sich auf diese positiven Dinge zu konzentrieren – auf das Gute, das nicht allzu weit unter der Oberfläche lag.
„Wir sind sehr froh, dass Sie hier sind, Lou“, antwortete Al-Falah. Sich Carol zuwendend fügte er hinzu: „Wir wissen, was es für eine Mutter bedeutet, ihr Kind in die Hände anderer zu geben. Es ist eine Ehre, dass Sie uns das Privileg einräumen.“
„Ich danke Ihnen, Herr Al-Falah“, erwiderte Carol. „Es bedeutet mir sehr viel, das von Ihnen zu hören.“
„Naja, so sehen wir das hier“, antwortete er. „Und bitte, nennen Sie mich Yusuf. Und du auch, Cory“, sagte er und drehte sich in Corys Richtung. „Genau genommen, gerade du. Bitte nenn mich Yusuf. Oder ‚Yusi‘, wenn du möchtest. So nennen mich die meisten jungen Menschen hier.“
Anstelle des überheblichen Sarkasmus’, den er bisher an den Tag gelegt hatte, nickte Cory einfach nur.
Wenige Minuten später beobachteten Carol und Lou, wie Cory in einen Bus stieg, zusammen mit den anderen Jugendlichen, die die nächsten 60 Tage in der Wildnis verbringen würden. Mit allen außer Jenny. Sie rannte über die Straße und setzte sich streitsüchtig auf eine Mauer, als sie merkte, dass ihr Vater sie nicht retten würde. Lou bemerkte, dass sie keine Schuhe trug. Er blickte gen Himmel in die morgendliche Sonne Arizonas. „Es wird nicht lange dauern und sie wird ein wenig Verstand beigebracht bekommen“, dachte er bei sich.
Jennys Eltern schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Lou sah, wie Yusuf zu ihnen hinüberging. Einige Minuten später betraten die Eltern das Gebäude und schauten sich noch einmal nach ihrer Tochter um. Jenny heulte laut auf, als die Eltern durch die Tür gingen und aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Lou und Carol verweilten noch etwas auf dem Parkplatz und machten sich mit einigen der anderen Eltern bekannt. Da waren Pettis Murray aus Dallas, Texas, das Ehepaar Lopez aus Corvallis, Oregon und eine Frau namens Elizabeth Wingfield aus London. Frau Wingfield lebte zurzeit in Berkeley, Kalifornien, wo ihr Ehemann eine Gastprofessur für Studien des Mittleren Ostens innehatte. Ähnlich wie bei Lou bestand für sie die Attraktion des Camp Moriah vorwiegend darin, die eigene Neugier bezüglich der Gründer und ihrer Geschichte zu befriedigen. Sie begleitete ihren Neffen nur widerwillig, dessen Eltern sich die Reise von England nach Arizona nicht leisten konnten.
Carol machte eine Bemerkung über die geographische Vielseitigkeit der Gruppe, aber obwohl alle zustimmend nickten und lächelten wurden diese Gespräche kaum registriert. Die meisten Eltern waren viel zu sehr mit ihren Kindern in dem Bus beschäftigt und warfen ihnen alle paar...