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Ich hatte gehofft, wir können fliegen

Die Geschichte einer tragischen Flucht im Frühling 1989

AutorCaroline Labusch
VerlagPenguin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641240394
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eine unglaubliche Flucht- und Liebesgeschichte aus der DDR
Ostberlin im Frühjahr 1989: Ein junges Paar will fliehen. Der Ingenieur Winfried Freudenberg und seine Frau, eine Chemikerin, fassen einen abenteuerlichen Plan - in einem selbst gebauten Ballon wollen sie über die Mauer in den Westen fliegen. In einer kalten Neumondnacht brechen sie auf. Am nächsten Morgen findet die Westberliner Polizei in einem Villengarten die Leiche des Mannes. Todesursache: Sturz aus großer Höhe. Von der Frau fehlt jede Spur. Die Ermittlungsbehörden auf beiden Seiten der Mauer stehen vor einem Rätsel. Was ist in jener Nacht geschehen?

25 Jahre später wird die Autorin Caroline Labusch von einem Freund auf diesen wahren Fall aufmerksam gemacht. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren des letzten Berliner Mauertoten. Dabei stoßen sie auf die bewegende Liebesgeschichte eines ungleichen Paars.

Nach ihrem Studium der Soziologie, Bildenden Kunst und Fotografie arbeitete Caroline Labusch viele Jahre als Drehbuchautorin, Konzepterin und Evaluatorin für preisgekrönte TV-Produktionen. Dann begann sie eine Detektivausbildung, die sie aus Ungeduld abbrach. Seitdem arbeitet sie als freie Autorin, Künstlerin und Hobbydetektivin in Berlin. Bei Penguin veröffentlichte Caroline Labusch das aufwendig recherchierte Buch »Ich hatte gehofft, wir können fliegen« über den letzten Mauertoten Winfried Freudenberg, welches auch als preisgekröntes Hörspiel erschien. Ausgewählte Ermittlungen für das Buchprojekt »Caro ermittelt« wurden als dokumentarische Hörspielserie veröffentlicht (ARD-Podcast: »Caro ermittelt«). Die Radioproduktion wurde 2022 in der Kategorie »Beste Comedy« für den Deutschen Radiopreis nominiert.

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Leseprobe

2

Ein Mann fällt vom Himmel

Mai. Es ist einer dieser ersten warmen Tage, die man im April so sehnsüchtig vermisst. Ich fädele mein wendiges neues Klapprad durch den Feierabendverkehr in der Friedrichstraße, radle mit geradezu ignoranter Selbstverständlichkeit von Ost-Berlin nach West-Berlin, am Kanzleramt vorbei zur Straße des 17. Juni, durchkreuze den zart blühenden Tiergarten zwischen Joggern, Strichern, Obdachlosen, Studenten und fröhlichen Großfamilien zum Zoo rüber, wo mir träge Linienbusse den Weg nach Wilmersdorf versperren.

Ernst will etwas mit mir besprechen. Bei sich zu Hause. Es gehe weder um ihn noch um mich.

Wir treffen uns selten. Unsere Freundschaft ist eine Reliquie aus den Wendejahren. Damals waren wir beide unlängst nach Berlin-Mitte gezogen – ich aus Niedersachsen, er aus West-Berlin. Neue Wessis im wilden Osten: selbst ernannte Lifestyle-Pioniere, die DDR-Möbel von den Sperrmüllbergen zerrten, um ihre WG-Küchen damit einzurichten. Morgens im Bademantel zum Bäcker; DDR-Münztelefone knacken und Ferngespräche nach Amerika führen; Cocktails trinken in Kellerbars unter Ruinen – ich im Secondhand-Lackmantel, Schlaghosen zu goldenen Sandalen; Ernst, als Wirtschaftsstudent, damals schon im Anzug. Für billige Mieten und das Aufbruch-Ost-Gefühl nahmen wir lange Wege zur Uni, zum Arzt oder Supermarkt in Kauf. Mehr Freiheitsgefühl ging nicht.

Die Stadt veränderte sich rasant: Lenin wurde in Friedrichshain geköpft, aus Filterkaffee wurde Cappuccino, aus dem staubigen Kohleofen eine knackende Zentralheizung.

Ernst wohnt längst wieder im Westteil der Stadt, wo er als Partner einer großen Beraterfirma arbeitet. Ich blieb dem Künstlerleben im metamorphischen Ost-Berliner Zentrum treu, blicke heute aus dem Küchenfenster meiner sanierten Altbauwohnung auf unbewohnte Luxus-Penthäuser und kann auf der anderen Seite zuschauen, wie sich uniformierte Privatschulkinder auf dem Spielplatz die Knie aufschlagen. Keine Spur mehr vom »Berlin, Hauptstadt der DDR«.

»Du bist zu spät …«

Angedeutete Küsse links, rechts. Ernst, in dunkler Anzughose zum gebügelten weißen Hemd, macht sich hervorragend vor der groß gemusterten Edeltapete im Wohnzimmer. Stünde da nicht wandfüllend das vollgestopfte Bücherregal und wüsste ich nicht, dass hinter dem Wohnzimmer eine selbst gebaute Küche liegt, in der ich schon Krümel gesehen habe, wäre mir Ernst suspekt. Die Krawatte hat er für mich abgelegt.

»’tschuldigung«, sage ich. »Die Busse in der Kantstraße …«

Faule Ausrede. Er überspringt sowieso den Small Talk, holt alkoholfreies Bier aus der Küche und will, dass ich mich gleich an den großen Tisch im Wohnzimmer setze, wo eine verblichene Schnappgummi-Mappe bereitliegt.

»Ich hab eine Geschichte gefunden«, sagt er. »In meiner Schublade.«

Er öffnet die Mappe mit Samtfingern und schiebt sie zu mir rüber.

»Vorsicht …«

Frechheit.

»… die bröseln schon.«

In der Mappe liegt ein Stapel vergilbter Zeitungsseiten, obenauf eine B. Z. vom 9. März 1989. Ich falte sie vorsichtig auseinander:

Der Ballontote!

»Da geht’s um eine Flucht. März 89. Ahnte man damals nicht, aber das war der letzte Berliner Mauertote. Du wirst den nicht erinnern.«

»Nie gehört.«

Es gab eine Familie in den Siebzigern, auch im Ballon geflohen. Mit Kindern in meinem Alter. Das weiß ich noch. Ich mochte den bunten Stoff, aus dem er genäht war. Und das Happy End. Ernst breitet die Artikel auf dem Tisch aus:

»Dieser Mann hatte es in der Nacht vom 7. auf den 8. März 1989 in seinem selbst gebauten Ballon über die Mauer geschafft. Erst mal unbemerkt. Der muss über die ganze Stadt gefahren sein. Und dann ist er abgestürzt. Das war’s. Acht Monate vor Mauerfall.«

»Tragisch«, sage ich, obwohl ich das nicht empfinde. Zu weit weg.

»Nachdem ich den Bericht in der SFB Abendschau gesehen hatte«, erzählt Ernst, »habe ich in alle Zeitungen reingelesen. Jeden Tag. Und wenn was drin war, gekauft.«

»Wieso?«

»Weiß ich nicht. Irgendwas hat mich irritiert. Und berührt. Willst du’s lesen?«

Die Berliner Morgenpost schrieb:

Als der Morgen dämmerte, beobachteten Augenzeugen den vermeintlichen Wetterballon, beschrieben ihn als etwa so groß wie die Sonne.1

Die taz:

Anwohner hatten beobachtet, dass der Ballon aus südöstlicher Richtung gekommen war, bevor er sich kurz vor acht Uhr morgens in dem dörren Geäst der Eichenbaumreihe auf der Mittelinsel der Potsdamer Chaussee nahe der Spanischen Allee verfing.2

Der Ballon war nachts über West-Berlin geschwebt. Die Stadt hatte geschlafen, Ernst hatte geschlafen, die amerikanischen Soldaten auf dem Teufelsberg hatten geschlafen. Der Berliner Luftraum war ja gut überwacht, nur befand sich wohl zu wenig Metallisches am Ballon, als dass der Radar ihn hätte erfassen können.3 Eine Passantin hatte die Überreste am frühen Morgen im Baum hängen sehen und der taz das Objekt beschrieben:

… eine aus vielen Einzelstücken zusammengeklebte Plastikplane, wie man sie hier zum Renovieren benutzt.4

Kriminaldirektor Dieter Piethe, Leiter des Staatsschutzes, verurteilte das Gebastel, obwohl er kaum etwas über die Herkunft oder die Verwendung des Objekts wusste:

Er war dilettantisch angefertigt.5

Auf einem Tatortfoto in der B. Z. sieht man zwei uniformierte Polizisten, die mit zwei weiteren Herren im Trenchcoat ins Gespräch vertieft sind.6 Lagebesprechung. Im »dörren« Geäst eines eigentlich ganz normalen Baums hängt die schlaffe Ballonhülle, verbunden mit einem langen Seil, an welches Bündel, Taschen, Tüten und eine Lederjacke geknotet wurden.

»Fällt dir was auf?«, fragt Ernst.

Eine Tüte trägt den Schriftzug des Bekleidungsgeschäfts Exquisit. Dort konnten DDR-Bürger zu überteuerten Preisen die etwas besseren Klamotten kaufen. Eine andere Tüte ist mit dem Logo von Dual-Plattenspielern bedruckt und kam offensichtlich nicht aus der DDR, wahrscheinlich eine Trophäe. Wo hatte er die ergattert? Meine Schwestern und ich haben damals auch Marken-Tüten gesammelt; ein herabgesetztes T-Shirt bei Marc O’Polo gekauft und die bedruckte Plastiktüte monatelang spazieren getragen. Trotzdem deprimiert mich irgendwie, dass ein toller West-Plattenspieler zum Symbol für ein besseres Leben wird.

Die Polizei vermutete, dass es sich bei den Fundgegenständen um Spuren einer DDR-Flucht handelte, nur fehlte der Flüchtling. Ballon, Tüten und Taschen wurden zur Analyse in die polizeitechnische Untersuchungsstelle gebracht. Weitere hilfreiche Puzzlesteine trudelten auf den Dienststellen ein:

Gegen Mittag las eine Bürgerin vor ihrem Haus unweit der Spanischen Allee den Personalausweis eines DDR-Bürgers auf und gab ihn pflichtbewusst bei der Polizei ab. Laut Tagesspiegel hatte ein Anwohner der Zehlendorfer Limastraße am Morgen des 8. März, gegen sieben Uhr dreißig, ein »plumpsendes Geräusch« gehört, dem aber weiter keine Bedeutung beigemessen.7 Dazu passend machte ein Zehlendorfer Professor gegen fünfzehn Uhr dreißig hinter seinem Haus einen entsetzlichen Fund: Er entdeckte in seinem Garten die Leiche eines unbekannten Mannes.

Zerschmettert in einem Gebüsch auf dem Hammergrundstück Limastraße, in unmittelbarer Nähe des Waldsees.8

Die Aufprallwucht war so groß, dass der Körper des schlanken mittelgroßen Mannes eine tiefe Delle im Erdreich zurückließ.9

Der Professor rief die Polizei. Alles passte zusammen: Das Passbild im Personalausweis zeigte den Toten, und unter den Fundgegenständen am Ballon befanden sich Dokumente, die ebenfalls dieser Person zugeordnet werden konnten: Winfried Freudenberg, geboren am 29. 8. 1956 in Osterwieck, 1,61 Meter groß, gemeldet in Lüttgenrode-Halberstadt, DDR. In mehreren Zeitungen wurde sein Passbild abgedruckt: ein sympathischer Mann mit dunklen Augen, dunklen Haaren, einem sinnlichen Mund und Vollbart.

Am Abend des 8. März 1989 wurde die Öffentlichkeit darüber informiert, dass der DDR-Bürger Winfried Freudenberg in einem selbst gebauten Ballon von Ost- nach West-Berlin geflohen und dabei abgestürzt war.

»So einsam«, sagt Ernst. »Und so real. Die Situation hinter der Grenze plötzlich ins Bewusstsein gerückt.«

Ernst ist in West-Berlin geboren und aufgewachsen. Er sagt, er habe die Teilung der Stadt im Alltag oft vergessen. Man konnte sich ja nicht tagtäglich daran stoßen. Man richtete sich ein. Und im Gegensatz zu den Ost-Berlinern waren die West-Berliner zwar eingemauert, aber frei. Mit etwas Zeitaufwand konnten sie die Stadt verlassen und reisen, wohin sie wollten; mit dem Mehrfachberechtigungsschein sogar vergleichsweise unkompliziert in die DDR. Das hat er als junger Erwachsener wahrgenommen:

Dostojewski-Romane in der Karl-Marx-Buchhandlung geshoppt, eine megalomane Friedrichstadt-Palast-Revue besucht oder sich bis Mitternacht durch bohemes Partyvolk im Prenzlauer Berg gedrängelt und die verbliebenen Münzen seiner...

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