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Die Hauptstraße meines Lebens
„Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“ …
Viktor Frankl1
Wenn wir eine Reise unternehmen, legen wir uns Landkarten zu, studieren Stadtpläne und informieren uns mithilfe von Reiseführern oder -portalen im Internet. Wir benötigen Informationen und Anhaltspunkte, um uns orientieren zu können. Ohne sie besteht die Gefahr, dass wir uns verlaufen. Wenn wir bereits für eine Reise oder eine Autofahrt Orientierungshilfen benötigen, wie viel mehr brauchen wir sie für unsere Reise durchs Leben? Sie ist viel komplexer als die Fahrt von einer Stadt zur anderen. Dennoch treten wir sie manchmal an, ohne uns vorher genau zu orientieren oder ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Oder wir lassen uns auf einen Weg leiten, ohne zu bedenken, ob dies der richtige für uns ist.
Wer im Auto ein Navigationssystem benutzt, wird hin und wieder feststellen, dass man sich nicht blind auf die Streckenführung verlassen kann, weil nicht immer die sinnvollste Route ausgewählt wird. Genauso ist es im Leben.
Im Laufe des Lebens wechseln viele Menschen ihren Wohnort. Wenn wir neu in einer Stadt sind, helfen uns meist die großen Hauptstraßen, uns zu orientieren. Sie führen manchmal vom Umland in die Stadt hinein und möglicherweise an einer anderen Stelle wieder aus der Stadt heraus oder in einen anderen Stadtteil.
Eine solche Straße ist auch unser Leben: Sie hat ihren Anfangspunkt, ihren Ursprung, und wir bewegen uns stetig auf ihr fort. Die Straße steht für die Ziele, die wir im Laufe des Lebens ansteuern und erreichen. Sie symbolisiert auch die Werte, die uns wichtig sind und unser Leben bestimmen.
Nicht immer geht die Hauptstraße geradeaus. Manchmal ist sie sogar recht kurvenreich. Wenn wir unsere Lebensziele immer auf dem direkten Weg erreichen würden, würde uns deren Wert gar nicht bewusst. Etwas, das man ohne Mühen erreicht, wird alltäglich und ist keine Herausforderung. Eine Straße, die nur geradeaus geht, kann dazu führen, dass wir unachtsam werden. Genauso ist es im Leben.
Hin und wieder machen wir Umwege, wir nehmen nicht den direkten Weg. Gerade diese sind wichtige Erfahrungen, denn durch sie lernen wir möglicherweise Neues kennen, das wir sonst nicht entdeckt hätten. Die Umwege zeigen uns, dass es verschiedene Routen gibt, um zum Ziel zu kommen. Nicht immer ist der direkte Weg der beste.
Auch in Sackgassen können wir landen. Das haben wir alle sicherlich schon erlebt. Plötzlich führt der Weg nicht mehr weiter. Dann müssen wir wenden. Dies ist nicht immer leicht. Wenn man erkennt, dass dieser Weg nicht weiterführt, muss man sich herausmanövrieren. Dies schafft man nicht immer allein. Manchmal benötigt man dazu die Unterstützung eines anderen, der uns hilft, an engen Stellen zu wenden, oder uns rückwärts wieder herauslotst.
Es ist menschlich, dass wir manchmal vom rechten Weg abkommen. Wenn wir dies erkennen, sollten wir das Steuer nicht panisch herumreißen. Am besten halten wir erst einmal auf einem Parkplatz oder am Straßenrand an und überlegen in Ruhe, wie wir die Abwege verlassen und behutsam einen anderen Weg einschlagen können, der uns wieder zu unserer Hauptroute führt. Denn wir selbst sind Wegbereiter unseres Lebens und entscheiden, wo es lang geht.
Viktor Frankl macht dies in seinem Zitat, das diesem Kapitel vorangestellt ist, deutlich: Es geht nicht darum, was wir vom Leben zu erwarten haben, sondern was wir aus unserem Leben machen.
Wer das Steuer selbst in der Hand hält, ob zu Fuß, per Rad oder per Auto, kann aktiv über seine Route bestimmen. Er kann seine Lebensziele wahrscheinlich größtenteils selbstbestimmt und vielleicht auch direkter erreichen. Nach etwas zu streben, gibt dem Leben einen Sinn. Und Sinnerfüllung schafft Befriedigung.
Natürlich leben wir nicht isoliert und sind manchmal Einflüssen ausgesetzt, die wir nicht steuern können: Ampeln springen auf Rot und zwingen uns zum Halten. Oder wir stecken im Berufsverkehr und kommen nur stockend voran. Manchmal gibt es auch Umleitungen, die uns zunächst einmal von unserer Hauptstraße wegführen. Dies muss jedoch nicht immer etwas Schlechtes bedeuten. Einflüsse von außen können uns neue Erkenntnisse bescheren oder dazu führen, dass wir unsere Ziele noch einmal überdenken. Wer offen ist, hat auch die Chance, neue Impulse aufzunehmen und aus einer Palette an Möglichkeiten zu wählen.
Ohnehin ist es wichtig, dass wir uns regelmäßig die Frage stellen: Wohin soll mich meine Hauptstraße führen? Ist das Ziel, das ich erreichen möchte, noch sinnvoll?
Die wichtigsten Lebensstationen
Ich möchte Sie einladen, sich der Hauptstraße Ihres Lebens bewusst zu werden. Eine zeichnerische Methode ist dabei sehr hilfreich: Dazu nehmen Sie zunächst einen langen Papierstreifen, auf den Sie eine gerade verlaufende, breite Straße zeichnen, die von links nach rechts führt. Markieren Sie den Mittelstreifen, so wie Sie ihn vom Straßenverkehr kennen. Nun unterteilen Sie die Straße in einzelne Abschnitte. Diese symbolisieren die Etappen Ihres Lebens. Die Straßenabschnitte erhalten entsprechende Überschriften, die mit dem Verlauf Ihres Lebens korrespondieren, z. B.:
Der erste Straßenabschnitt wird „Herkunftsfamilie“ benannt; der zweite Straßenabschnitt „Kindheit“; der dritte „Jugend“; der vierte „Schule“; der fünfte „Junger Erwachsener“; der sechste „Ausbildung“; der siebte „Partnerschaft“; der achte „Beruf“; der neunte „Familie“ usw., usw. Vielleicht finden Sie auch Bezeichnungen, die besser zu Ihrem Lebenslauf passen. Die beiden letzten Straßenabschnitte Ihrer Zeichnung sollten mit den Begriffen „Heute“ und „Zukunft“ versehen werden. Und denken Sie daran, dass Sie für die Zukunft auf der Straßenzeichnung genügend Platz vorsehen, denn die Straße soll Sie ja noch zu Lebensetappen führen, von denen Sie heute noch gar nichts wissen.
Oberhalb des Mittelstreifens vermerken Sie nun stichpunktartig diejenigen Ereignisse der entsprechenden Lebensphase, die Ihnen positiv in Erinnerung sind, beispielsweise Dinge, die Ihnen in dieser Zeit besonders Freude bereiteten, oder Menschen, denen Sie eng verbunden waren, usw. Versuchen Sie, sich möglichst viele positive Ereignisse in Erinnerung zu rufen und diese niederzuschreiben. Unterhalb des Mittelstreifens notieren Sie die negativen Ereignisse, an die Sie sich noch erinnern.
Ganz wichtig ist jedoch: Geben Sie den positiven Ereignissen mehr Raum und vermerken Sie die negativen Ereignisse nur knapp. Dies hat nichts mit Schönfärberei zu tun. Vielmehr verdeutlicht ein wohlwollender Rückblick auf unser Leben die Dinge, die uns stark gemacht haben. Diese Ressourcen können wir für die Zukunft positiv nutzen und gezielter einsetzen.
Wer die Zeichnung später noch weiter ausarbeiten möchte, kann im Laufe der Zeit Abzweigungen, Parallel- und Querstraßen oder Sackgassen einbauen. Für einen Überblick über die wichtigsten Lebensstationen genügt aber zunächst die Zeichnung der Hauptstraße.
Alternativ zu der Straßenzeichnung könnte man auch ein Zentimetermaß verwenden und damit „maßgenau“ die Längen der einzelnen Lebensabschnitte auf einem Blatt Papier markieren und benennen.
Auch ein (rotes) Band kann ein gutes Hilfsmittel sein. Man kann dort die Lebensetappen in Form von Einschnitten an den Kanten symbolisch verdeutlichen.
Die Straßenzeichnung ist jedoch die detaillierteste und einprägsamste Methode.
Was wiederholt sich im Leben?
Nehmen Sie sich die Zeit und betrachten Sie die Hauptstraße Ihres Lebens mit Muße. Dies ist eine wichtige Phase des Innehaltens, die einem die Chance gibt, so manchen Schritt nochmals zu überdenken und für die Zukunft daraus zu lernen. Es ist eine wertvolle Zeit, keine Pflichtübung. Nehmen Sie Ihre „Etappenerfolge“ wahr und schätzen Sie diese wert. Hadern Sie nicht, sondern richten Sie den Fokus auf die Frage: Was war gut? Was habe ich geschafft? Was verdanke ich meinem bisherigen Weg?
Die Zeichnung der Hauptstraße wird Ihnen vermutlich auch Dinge vor Augen führen, die sich in Ihrem bisherigen Leben wiederholten. Dies können beispielsweise Werte sein, die für Sie maßgebend sind. Es können auch Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur sein, denen Sie immer wieder begegnen.
Dieser Überblick kann Klarheit schaffen, kann eine Vermutung bestätigen, die Sie schon lange mit sich herumtrugen, er kann Ihnen aber auch deutlich machen, dass an mancher Stelle eine Veränderung sinnvoll wäre.
Manche Dinge passieren einem immer wieder, obwohl man sie verändern möchte. Hier hilft das Bild der Hauptstraße, das eigene Profil zu entdecken und zu überlegen, wo man ein wenig die Richtung wechseln kann. Dies sollte behutsam und nicht mit Zwang erfolgen. Um Veränderungen anzugehen, muss man sich aus den gewohnten Denk- und Verhaltensweisen herausnehmen. Hilfreich ist dabei, weg aus der gewohnten Umgebung an einen Rückzugsort zu gehen, der es ermöglicht, dass das Denken „eine andere Richtung einnehmen“ kann. Auch unvoreingenommene Gesprächspartner sind dabei oft eine große Hilfe.
Fragen zur Hauptstraße des Lebens
» Was waren meine bedeutendsten Lebensetappen?
» Was habe ich geschafft, worauf kann ich stolz...