SICH BEFREIEN
UND
GANZ WERDEN
BEWERTUNGEN LOSLASSEN
Das Wichtigste bei den Atemsitzungen ist es, alle Bewertungen loszulassen. Das ist gar nicht so einfach, weil unser inneres Betriebssystem stark auf Bewertungen ausgerichtet ist. Bewertungen helfen uns schnell zu handeln, und das ist überlebensnotwendig, nach dem Motto: Das ist gut, das nicht, das mache ich, das nicht, da gehe ich hin, da weg, das stößt mich ab, das zieht mich an. Dadurch können wir uns im Alltag relativ schnell orientieren. Weil Bewertungen aus vergangenen Erfahrungen hervorgehen und wir damit das Gegenwärtige womöglich falsch einschätzen oder verzerren, kann es auch zu Irritationen kommen. Die Handlungsfähigkeit, die eng mit Bewertungen verknüpft ist, steht im evolutionären Überlebensprogramm immer an erster Stelle, auch wenn dabei neue Erfahrungen auf der Strecke bleiben.
Beim Atmen und in der Meditation ist das Loslassen von Bewertungen aber eine wichtige Voraussetzung, um uns an der Grenze unseres Bewusstseinsraumes für neue Erfahrungen zu öffnen. Weil wir sie dann nicht in alte Muster und alte Schemata pressen. Deshalb sage ich den Teilnehmern immer: Geht davon aus, dass, sobald ihr auf der Matte liegt, Erfahrung stattfindet, egal wie ihr dazu steht. Genau wie in der Kommunikation – laut Watzlawick gibt es keine Nichtkommunikation – gilt: Es gibt auch keine Nichterfahrung. Jeder Mensch, der in diesen Prozess einsteigt und sich auf die Matte legt, wird Erfahrungen machen. Natürlich kann die Erfahrung sein, mit seinem eigenen Kontrollsystem in Kontakt zu kommen. Natürlich kann die Erfahrung sein, sich zu ärgern, weil ich nicht das erlebe, was ich mir vorgestellt habe.
Aber dann bleibt der Ärger, die Ohnmacht, die innere Auseinandersetzung mit diesem Kontrollsystem. Dann ist das die Erfahrung. Es gilt immer: Geh in das hinein, was ist. Lass zu, was ist, und folge dann der Energie. Was immer sich ausdrücken möchte, sich zeigen möchte. Wir erleben sozusagen eine gefühlsmäßige und leibnahe Fokussierung der Energie, um die tiefsten inneren Anliegen, die damit verknüpft sind, vergegenwärtigen zu können. Eine gute Atemerfahrung ist immer die Erfahrung, die ist, ganz gleich, ob sie laut oder leise, bewegt oder ruhig verläuft. Aber falls Töne, Bewegungen sich zeigen möchten – einfach zulassen! Wenn Ruhe, Stille und Bewegungsarmut da sind: zulassen! Es ist ganz egal. Heiß oder kalt, laut oder leise, bewegt oder ruhig, es ist vollkommen egal. Lass dich wirklich in der Situation von dem mitnehmen, was ist.
Keine Atemsitzung ist wie die andere. Wichtig ist, alles loszulassen, auch Ideen und Wünsche, die für eine Atemsitzung da sind. Lass es geschehen, wie ES seinen Weg gehen möchte. Die Innere Prozessweisheit übernimmt die Regie. Es gibt kein »Ich bin nicht im Prozess«. Sobald du dich hinlegst, verändert sich der innere Zustand. Wenn du den Eindruck hast, die anderen stören dich, oder die Musik stört dich, dann ist das das Thema. Wenn es dich ärgert, ungeduldig, resignativ oder traurig macht, dann geh in dieses Gefühl hinein. Im tiefsten Punkt der Erfahrung ist der Weg zu finden, auf dem wir weitergehen. Es findet in diesem Moment nichts anderes statt als eine Auseinandersetzung mit deinen Kontrollsystemen. Das Atmen stellt eine starke Auseinandersetzung mit inneren Kontrollmechanismen dar. Denn durch das Atmen beginnen sich die inneren Koordinaten und Strukturen zu weiten. Daraufhin rebellieren dann vielleicht die Kontrollmechanismen, die Konzepte, die wir mitunter ein Leben lang mit sehr viel Mühe aufgebaut haben. Die wollen sich nicht so einfach verabschieden. Manchmal gibt es geradezu einen Kampf in unserem Inneren, eine Auseinandersetzung mit unseren Kontrollmechanismen. Erlaube dir, dabei zu bleiben, tiefer dort hineinzugehen und alles zuzulassen, wirklich jedes Gefühl, das dort entsteht. Wenn du Angst bekommst, weil dir etwas begegnet, was zwar in dir, aber dir fremd ist, dann lass es auf dich zukommen. Öffne deinen inneren Raum, sodass es ins Zentrum deines Bewusstseins kommen kann. Dort im Zentrum sind Veränderung, Assimilation, Transformation und auch Integration möglich. Alles, was wir wieder von uns weisen, wird sich irgendwo verstecken und zurückziehen und in einer unbewussten Art und Weise seine Wirkung auf uns ausüben.
Alles, was wir gesehen, wahrgenommen und gefühlt haben – diese Energie wird uns wieder verfügbar. Das bereichert wieder unser inneres Wesen und unsere Möglichkeit, in unserem Alltag ein breiteres und sinnvolleres Leben führen zu können.
VERTRAUEN INS ERLEBEN HABEN
Ein Beispiel: In Atemsitzungen können viele Erfahrungen passieren, von denen wir bewusst gar nichts mitbekommen. Sie können so subtil verlaufen, dass uns erst später – nach Wochen – klar wird, was da passiert ist. Es gibt immer wieder auch die Erfahrung der sogenannten »Nichterfahrung«. Jemand sagt, er komme nicht in einen veränderten Bewusstseinszustand und es sei überhaupt schwer für ihn, etwas zu erleben.
Vor Kurzem bekam ich eine E-Mail von einem Mann, der mich fragte, ob das Seminar sein Geld wert sei und ob er nachher wirklich auch verlässlich den Eindruck haben könne, dass es etwas gebracht habe. Ich antwortete ihm, dass ich ihm das nicht versprechen könne. Ich könne ihm aber versprechen, dass wir von unserer Warte aus alles vorbereiteten, sodass die Erfahrung stattfinden könne, die für ihn die beste sei. Er hat sich dann angemeldet.
In der Sitzung ließ er mich schon nach einer halben Stunde rufen und sagte zu mir: Das ist alles nichts. Die Musik ist zu laut, die Leute schreien, er könne sich nicht konzentrieren und das schnellere Atmen sei ihm zu anstrengend. Als psychospiritueller Begleiter habe ich in den Jahren meiner Erfahrung gelernt, dass es ganz wichtig ist, dem zuzustimmen, was ist, und mit dem zu arbeiten und das zu vertiefen, was auftaucht. Und meine Intervention war folgende Frage: »Was löst das aus, wenn es zu laut, zu hektisch und zu anstrengend ist?« Da antwortete er: »Ärger.« Dann intervenierte ich: »Dann geh hinein in den Ärger, drücke den Ärger voll aus, bleib bei dieser Ungeduld, bei diesem Ärger.« Und tatsächlich war es dann so, dass er sich voll auf die Situation eingelassen hat und alles innerlich durch Töne und Bewegungen zum Ausdruck brachte. Er hat diesen Zustand akzeptiert – nicht im Sinne von »Alles ist gut«, sondern im Sinne von »Alles, was ist, ist.« Und es ist, wie es ist. Ich erlaube mir, diese Erfahrung in diesem Moment zu vertiefen. Nach ein paar Stunden hat er am Ende gesagt, dass es so wichtig für ihn war, dass er mit dieser Struktur, die er auch im Leben kennt, innerlich in Kontakt gekommen ist. Er kennt die Erfahrung, dass er irgendwas Neues macht und damit unzufrieden ist und generell Schwierigkeiten hat damit. Danach haben sich bei ihm starke Öffnungen ergeben. Nicht immer geht es natürlich so elegant.
Über das Atmen können wir so tief liegende Blockaden lösen und in der Tat gleichzeitig durchlässiger werden für neue, sensible Bereiche, auch sensitive Bereiche, die über die gewöhnlichen Wahrnehmungen hinausgehen.
SPIRITUALITÄT ALS LEBENSGRUNDLAGE
Spirituelle Wege und Spiritualität haben manchmal mit berechtigten Vorurteilen zu leben oder haben sich zumindest mit diesen Vorurteilen auseinanderzusetzen.
Spiritualität, so wird immer wieder erwähnt, sei unsinnlich, scheinheilig, konfliktverleugnend, weltabgewandt und dogmatisch. Das ist auch der Grund, warum manchmal Menschen in der Atemsitzung große Schwierigkeiten haben, zum Beispiel christliche Musik, etwa gregorianische Chöre, zu hören. Unversehens kommen sie beim Atmen in Kontakt mit Belastungen, die sie im religiösen Kontext erfahren haben, wie Machtmissbrauch und Übergriffen. Es geht um Weltbilder, denen man zu folgen hätte, die aber von denen, die diese verkünden, nicht gelebt werden usw. Wir müssen zwei Fragen stellen: Wie entsteht eine Doktrin, eine Ideologie, die sich gegen den Menschen wendet, und an welcher Stelle haben wir zu akzeptieren, dass wir unfertig sind und immer auch unseren Bildern und Visionen hinterherhinken.
Letzeres zu akzeptieren, ist gerade für den spirituellen Weg wichtig. Denn wenn wir unsere Unvollkommenheit, unsere innere Begrenztheit zulassen, dazu stehen, dann kann dies zu einem wichtigen Aspekt in der Spiritualität führen: zu Bescheidenheit. Wenn ich mich in Bezug auf das größere Ganze zu transformieren vermag und anerkenne, dass ich einem Weg folge, dass ich aber dabei unfertig, unverwirklicht bin, dann hilft mir das immer wieder, ein Stück gesunder Bescheidenheit zu leben. Das hat nichts zu tun mit einer religiös verordneten Bescheidenheit, bei der wir unsere Autonomie, unsere Fähigkeiten oder unsere Werte zurückzustellen, sozusagen unser Licht unter den Scheffel zu stellen hätten. Das würde auch nicht im Einklang mit Spiritualität stehen.
Es geht darum, das, was uns an...