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Dr. Michael Diener
Warum dieses Buch?
»Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche, Mängel bei ihrem »evangelizzesthai« würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen führen. Der Kreislauf des kirchlichen Lebens würde hypotonisch werden. Wer an einem gesunden Kreislauf des kirchlichen Lebens interessiert ist, muss deshalb auch an Mission und Evangelisation interessiert sein. Weithin ist die ausgesprochen missionarische Arbeit zur Spezialität eines ganz bestimmten Frömmigkeitsstils geworden. Nichts gegen die auf diesem Felde bisher besonders engagierten Gruppen, nichts gegen wirklich charismatische Prediger! Doch wenn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wieder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung.«2
Was Eberhard Jüngel vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 1999 in Leipzig vortrug, ist bis heute nicht vergessen. Fast zwanzig Jahre sind seit Jüngels Vortrag vergangen. Zeit, einmal zu fragen, wie es denn heute im Blick auf die Zukunft (!) um »Mission und Evangelisation«, um den Herzschlag »der Kirche« in unserem Land steht, die hier zuerst einmal als »Kirche Jesu Christi« und nicht »konfessionell« verstanden werden muss.
Ulrich Eggers und mich verbindet die feste Überzeugung, dass sich diese Fragestellung aufdrängt, weil sich theologische und praktische Übereinstimmungen in Sachen Mission sowohl zwischen den immer noch großen Volkskirchen und vielen Freikirchen als auch zwischen unterschiedlichen Frömmigkeitsprägungen, ob liberal oder konservativ, pietistisch oder evangelikal, abzeichnen, die vor einigen Jahren noch kaum vorstellbar waren. Für diese Entwicklung gibt es natürlich nicht nur eine Ursache, sondern mehrere. Vier, die sich mir in besonderer Weise nahelegen, will ich kurz benennen:
• Die Kirche Jesu Christi ist überzeugt davon, dass das Wesentliche in ihr zuerst und vor allem immer Geschenk ist, Antwort auf Gebete und Gabe des Heiligen Geistes.
• Der fortschreitende Prozess der Säkularisierung und Individualisierung, ganz unabhängig davon, wie man diese Phänomene im Einzelnen deuten mag, führt in den Volkskirchen zu schmerzlichen Einbrüchen in der Mitgliedschaft. Damit verbunden ist ein kaum mehr aufzuhaltender Traditionsabbruch in der Weitergabe von Glaubensformen und Glaubensinhalten zwischen den Generationen. Auch die klassischen Freikirchen bleiben von dieser Entwicklung nicht verschont und stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Die katholische Kirche reagiert auf diese Entwicklung etwa seit 1985 mit einem Ansatz zur »Neu-Evangelisation«, insbesondere in Europa.
• Das 500. Jubiläum der Reformation im Jahr 2017 war geprägt von dem Gedanken, Menschen wirklich mit den Kernüberzeugungen der Reformation zu erreichen, und stärkte die gar nicht so neue Erkenntnis, dass Kirche vor allem dann wahrgenommen wird, wenn sie sich außerhalb ihrer eigenen Mauern auf die Lebenswelt der Menschen einlässt und die Begegnung, das Gespräch mit ihnen sucht.
• Wir erleben das Heranwachsen einer neuen Generation von Christenmenschen aus Bistümern, Landes- und Freikirchen, welche – unabhängig von konfessionellen oder denominationellen Unterschieden – aus einem gemeinsamen Christusbekenntnis heraus miteinander Glauben entdecken, leben und weitergeben.
Wir wollen mit diesem Buch dazu beitragen, dass diese Entwicklung einerseits wahrgenommen und verstärkt, andererseits aber auch gründlich reflektiert und auf ihre innere Substanz überprüft wird. Wie belastbar ist das gemeinsame Fundament in Sachen Mission und Evangelisation? Füllen wir zentrale Begriffe mit gleichen oder zumindest ähnlichen Inhalten oder handelt es sich nur um eine »Äquivokation«, werden dieselben Wörter für letztlich nicht Vereinbares verwendet? Ist das immer noch zu beobachtende und zu spürende »Fremdeln« vieler Menschen in den Volkskirchen, wenn Worte wie »Mission« oder »Evangelisation« fallen, wirklich nur dem nicht zu leugnenden Missbrauch auf diesem Gebiet zu verdanken oder verbirgt sich dahinter eine gänzlich andere theologische Einschätzung? Und wie nachhaltig und gegründet ist der Weg, den viele evangelikal geprägte Christenmenschen in den vergangenen Jahrzehnten zu einem differenzierteren Missionsverständnis gegangen sind?
Zu den Autorinnen/Autoren und Gliederung
Wir sind deshalb sehr dankbar, dass sich so viele unterschiedliche kompetente Autorinnen und Autoren dazu haben einladen lassen, einen Beitrag für dieses Buch zu verfassen. Es ist mit Sicherheit nicht selbstverständlich, dass der Ratsvorsitzende der EKD und bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dessen Stellvertreterin und Präses der westfälischen Kirche Annette Kurschus und der geistliche Vizepräsident im Kirchenamt der EKD Thies Gundlach hier ebenso vertreten sind wie Christoph Stiba, Generalsekretär der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden, Ansgar Hörsting, Präses der Freien evangelischen Gemeinden, und Präses Ekkehart Vetter, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und sich außerdem mit Christian Hennecke, Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim, Bernhard Meuser, Initiator des katholischen Jugendkatechismus YOUCAT, und George Augustin SAC, Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar ganz unterschiedliche, aber relevante Stimmen aus der katholischen Kirche einbringen. Als Professoren, die sich mit Hingabe den Fragen von Mission und Kirchenentwicklung widmen, kommen Michael Herbst, Professor für Praktische Theologie an der Universität Greifswald, und Johannes Reimer, Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach zu Wort. Mit Mission und Evangelisation »von Berufs wegen« befassen sich auch Hans-Hermann Pompe, bis Ende 2018 Leiter des EKD-Zentrums für Mission in der Region (ZMiR), Gerold Vorländer, Leitender Mitarbeiter Mission bei der Berliner Stadtmission, Sandra Bils, Pfarrerin der hannoverschen Landeskirche und Referentin der ökumenischen Bewegung Kirchehoch2, Klaus Douglass, Theologischer Referent im Zentrum Verkündigung der Evangelischen Kirche von Hessen-Nassau und der Vorsitzende des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Württemberg, die Apis, Steffen Kern.
Ganz wichtig war es uns darüber hinaus, »Basis«-Stimmen mit ihrem ganz eigenen Klang zu Wort kommen zu lassen: die evangelische Theologin und Schriftstellerin Christina Brudereck, den Referenten bei Willow Creek Deutschland Jörg Ahlbrecht, Andreas »Boppi« Boppart, den Leiter des Schweizer Zweigs von »Campus für Christus« und den Pastor der Schaumburg-Lippischen Landeskirche Dominik Storm. Den Abschluss bildet eine Vielfalt von Beiträgen zur praktischen Umsetzung (dazu gleich mehr).
Wie gliedert man ein Buch, wenn man so viele unterschiedliche Autorinnen und Autoren nach Grundlegendem und Bewegendem zum Thema »Mission« befragt? Wir haben uns für folgende Aufteilung entschieden:
• Die Artikel im ersten Teil befassen sich mit dem theologischen Verständnis von Mission als »missio dei«.
• Der zweite Teil stellt die unausweichliche Frage nach einer Ethik der Mission.
• Im dritten Teil finden sich Beiträge, die unterschiedliche konzeptionelle Überlegungen zur Mission anstellen.
• Im vierten und letzten Abschnitt ist ein bewusst buntes Potpourri von Praxiserfahrungen und Neuaufbrüchen versammelt.
Dabei handelt es sich jedoch nur um eine ungefähre und subjektive Zusammenstellung. Die Offenheit der Anfrage »Einsichten zu Mission und/oder Impulse für einen missionarischen Aufbruch« hat natürlich dazu geführt, dass in vielen Texten grundsätzliche, konzeptionelle und praktische Elemente gleichermaßen enthalten sind. Die Zuordnung der wertvollen Beiträge zu einem der vier Teile wollen wir deshalb nur als kleine Lesehilfe verstanden wissen. Dabei war es uns allerdings wichtig, im ersten und dritten Teil jeweils evangelisch-landeskirchliche, römisch-katholische und evangelisch-freikirchliche Stimmen nacheinander erklingen zu lassen.
Der vierte Teil stellt so etwas wie einen Höhepunkt des Buchs dar, weil in ihm ganz unterschiedliche und ermutigende Beispiele vorgestellt werden, wie ein missionarischer Aufbruch, theologisch grundsätzlich, ethisch und konzeptionell verantwortet, aussehen kann. Hier finden sich evangelisch-landeskirchliche, evangelisch-freikirchliche, römisch-katholische und ökumenische Ansätze in bunter Vielfalt, daher ist dieses Kapitel alphabetisch nach den Autorennamen geordnet: Konstantin von Abendroth hinterfragt mit dem Berlinprojekt das »Wir-und-die«-Denken, Steffen Beck kritisiert das Narrativ vom »harten Boden« und führt in den Ansatz des ICF Karlsruhe ein, Bettina Becker schreibt sehr persönlich über Ansatz und Arbeit der »Villa Wertvoll« in Magdeburg, Birgit Dierks lässt uns teilhaben an ihren biografischen Aufbrüchen und dem Teilbereich der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste, der sich mit »fresh expressions« befasst, Alexander Garth, evangelischer Pfarrer in der Lutherstadt Wittenberg und Gemeindegründer, schildert mit Herzblut freikirchliche Aufbrüche und wie sehr er sich derartige Entwicklungen in den Landeskirchen wünscht, Patrick Knittelfelder inspiriert mit seinen Ausführungen zur Loretto Gemeinschaft und der HOME...