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Erinnerung, sprich

Wiedersehen mit einer Autobiographie

AutorVladimir Nabokov
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
ReiheNabokov: Gesammelte Werke 22
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783644002241
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nabokov schrieb die Fassung seiner Lebenserinnerung zwischen 1943 und 1951 in den Vereinigten Staaten. Sie umfasst die Jahre 1899 bis 1940, die Kindheit in Russland und die Exiljahre in Europa. Er gab ihr den Titel «Conclusive Evidence» («... schlüssige Beweise dafür, dass es mich wirklich gegeben hat ...»). 1964 wurde dann eine zweite, wesentlich erweiterte Fassung in den USA publiziert, die 1984 in Deutschland unter dem Titel «Sprich, Erinnerung, sprich» herauskam. Es war nicht Nabokovs Ziel, eine Chronik der Erinnerung zu schreiben. «Ich gestehe, dass ich nicht an die Zeit glaube», sagte er einmal. Ihn interessierte es, «die thematischen Muster das Leben hindurch zu verfolgen». So erzählen die fünfzehn Kapitel die ersten Jahre der Kindheit zwar chronologisch, greifen aber dann zuweilen vor: Die Erinnerung führt aus den Wäldern um Wyra, dem Landsitz der Familie, über die französische Atlantikküste auf die Berghänge von Telluride, Colorado, aber immer wieder greift sie zurück auf das verlorene Paradies der Kindheit. «Vor der völligen Auslöschung konnte er das Verlorene nur auf eine Weise bewahren: indem er es in einer extravaganten Anspannung des Gedächtnisses genau und farbig rekonstruierte.» (Dieter E. Zimmer)

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

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Leseprobe

3


Mit ganzer Kraft zu lieben und den Rest dem Schicksal zu überlassen, war die einfache Regel, der sie gehorchte. «Wot sapomni [vergiss mir das nicht]», pflegte sie mit verschwörerischer Stimme zu sagen, wenn sie meine Aufmerksamkeit auf irgendetwas in Wyra lenkte, das sie liebte – auf eine Lerche, die an einem trüben Frühlingstag in einen Himmel aus Dickmilch aufstieg, auf das Wetterleuchten, das des Nachts Aufnahmen von entfernten Baumreihen machte, auf die Palette der Ahornblätter auf braunem Sand, auf die keilschriftförmigen Spuren eines kleinen Vogels im Neuschnee. Als fühle sie, dass in wenigen Jahren der greifbare Teil ihrer Welt untergehen würde, kultivierte sie einen außergewöhnlichen Sinn für die Spuren der Zeit, die überall auf unserem Gut zu finden waren. An ihrer eigenen Vergangenheit hing sie mit der gleichen rückgewandten Inständigkeit, mit der ich heute an ihrem Bild und an meiner Vergangenheit hänge. In gewisser Weise bekam ich so ein einzigartiges Scheinbild mit auf den Weg – die Schönheit ungreifbaren Besitzes, unirdischer Immobilien –, und das erwies sich als vorzügliche Übung, spätere Verluste zu ertragen. Alle ihre Etiketts und Abdrücke wurden mir genauso lieb und ehrwürdig, wie sie ihr es waren. Da war der Raum, der früher der Lieblingsbeschäftigung ihrer Mutter vorbehalten gewesen war, ein chemisches Laboratorium; da war die Linde neben der Straße, die sich zu dem Dorf Grjasno (Betonung auf der letzten Silbe) hinaufwand und an deren steilster Stelle man besser das «Rad bei den Hörnern» (byka sa roga) nahm, wie mein Vater, ein hingebungsvoller Radfahrer, gerne sagte, die Linde, die den Ort bezeichnete, wo er um ihre Hand angehalten hatte; und da war im sogenannten «alten» Park der obsolete Tennisplatz, jetzt eine Region aus Moos, Maulwurfshügeln und Pilzen, der in den 1880er und 90er Jahren Schauplatz fröhlicher Ballwechsel gewesen war (selbst ihr finsterer Vater legte seinen Rock ab und schüttelte abschätzend den schwersten Schläger), den die Natur bis zu meinem zehnten Lebensjahr indessen so gründlich ausgelöscht hatte, wie ein Filz eine Geometrieaufgabe wegwischt.

In der Zwischenzeit war von Facharbeitern, die eigens zu diesem Zweck aus Polen herbeigeholt worden waren, am Ende des «neuen» Parks ein hervorragender moderner Platz gebaut worden. Der Maschendraht einer reichlichen Umzäunung trennte ihn von einer Blumenwiese, die seine rote Asche einrahmte. Nach einer feuchten Nacht nahm die Oberfläche einen bräunlichen Glanz an, und Dmitrij, der kleinste und älteste unserer Gärtner, ein sanftmütiger Zwerg mit schwarzen Stiefeln und rotem Hemd, zog die weißen Linien mit flüssiger Kreide aus einem grünen Eimer nach, indem er, den Kopf tief gesenkt, mit seinem Pinsel längs des Striches langsam zurückwich. Eine Erbsenstrauchhecke (die «gelbe Akazie» Nordrusslands) mit einer Öffnung auf halbem Wege, die den Zugang zur Drahttür des Courts frei ließ, verlief parallel zu der Einzäunung und hin zu einem Pfad, der wegen der Schwärmer, die in der Abenddämmerung die wuscheligen blauen Fliederbüsche entlang seinem der Hecke gegenüberliegenden und gleichfalls auf halbem Wege unterbrochenen Saum besuchten, tropinka sfinksow (Pfad der Sphingiden) genannt wurde. Dieser Pfad bildete den Querbalken eines großen T’s, dessen Senkrechte die Allee schlanker, mit meiner Mutter gleichaltriger Eichen war, die (wie schon gesagt) den neuen Park in seiner ganzen Länge durchzog. Sah man vom Fuß des T’s nahe der Auffahrt diese Allee hinunter, so konnte man die helle kleine Lichtung fast fünfhundert Meter entfernt genau erkennen – oder fünfzig Jahre entfernt von meinem heutigen Aufenthaltsort. Unser jeweiliger Hauslehrer oder, wenn er bei uns auf dem Land war, mein Vater spielte in unseren eigenwilligen Familiendoppeln unweigerlich mit meinem Bruder zusammen. «Play!», rief meine Mutter nach der Art von ehedem, wenn sie ihren kleinen Fuß nach vorn schob und ihren Kopf mit dem weißen Hut senkte, um einen eifrigen, aber schwachen Aufschlag wie mit einer Kelle zu servieren. Ich ärgerte mich leicht über sie und sie sich über die Balljungen, zwei barfüßige Bauernkinder (Dmitrijs stupsnasiger Enkel und der Zwillingsbruder der hübschen Polenka, der Tochter des ersten Kutschers). Um die Erntezeit herum wurde der nördliche Sommer tropisch. Tiefgerötet klemmte Sergey seinen Schläger zwischen die Knie und wischte umständlich seine Brille ab. Ich sehe mein Schmetterlingsnetz am Zaun lehnen – für alle Fälle. Wallis Myers’ Tennisbuch liegt aufgeschlagen auf einer Bank, und pedantisch erkundigt sich mein Vater (ein erstklassiger Spieler mit einem kanonenkugelgleichen Aufschlag im Stil von Frank Riseley und einem wunderschönen lifting drive) nach jedem Ballwechsel bei meinem Bruder und mir, ob wir des follow through, jenes Stands der Gnade, endlich teilhaftig geworden seien. Und zuweilen ließ uns ein mächtiges Gewitter unter einer Überdachung an der Ecke des Platzes Zuflucht suchen, während der alte Dmitrij zum Haus geschickt wurde, um Schirme und Regenmäntel zu holen. Eine Viertelstunde später tauchte er unter einem Berg von Kleidungsstücken am Ende der langen Allee wieder auf, die bei seiner Annäherung ihre Leopardenfleckung zurückgewann, da die Sonne aufs neue brannte und seine gewaltige Last nicht mehr benötigt wurde.

Sie hatte eine Vorliebe für alle Glücks- und Geschicklichkeitsspiele. Unter ihren erfahrenen Händen bildeten die tausend Teile eines Puzzlespiels langsam eine englische Jagdszene; was wie der Teil eines Pferdes ausgesehen hatte, erwies sich als einer Ulme zugehörig, ein bis dahin nicht unterzubringendes Stück fügte sich genau in ein Loch im gesprenkelten Hintergrund und gewährte einem die köstliche Empfindung abstrakter und doch greifbarer Befriedigung. Eine Zeitlang spielte sie gern Poker, der über diplomatische Kreise in die Petersburger Gesellschaft gedrungen war, sodass einige der Kombinationen hübsche französische Namen trugen – brelan für Triplet, couleur für Flush und so weiter. Gewöhnlich wurde regulärer Draw-Poker gespielt, und gelegentlich gab es den zusätzlichen Reiz eines «Potts» und einen generalbevollmächtigten Joker. In der Stadt pokerte sie im Haus von Bekannten oft bis drei Uhr morgens, eine Society-Vergnügung der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg; und später im Exil stellte sie sich (mit der gleichen Verwunderung und Bestürzung, mit der sie an den alten Dmitrij zurückdachte) den Chauffeur Pirogow vor, der im unnachgiebigen Frost einer endlosen Nacht immer noch auf sie zu warten schien, obwohl in seinem Fall Tee mit Rum in einer gastlichen Küche einiges dazu beigetragen haben dürfte, diese Nachtwachen zu lindern.

Eins ihrer größten Sommervergnügen war der sehr russische Sport des chodit po griby (der Pilzsuche). In Butter gedünstet und mit saurer Sahne angedickt, erschienen ihre delikaten Funde regelmäßig auf dem Mittagstisch. Nicht dass es besonders auf das Geschmacksmoment ankam. Ihre Hauptfreude war die Suche, und die hatte ihre Regeln. Blätterpilze etwa wurden nie gesammelt; sie nahm nur einzelne Arten, die zum essbaren Teil der Gattung Boletus gehörten (den gelbbraunen edulis, den braunen scaber, den roten aurantiacus und ein paar enge Verbündete), welche von manchen als «Röhrenpilze» bezeichnet und von den Pilzforschern kalt als «auf dem Erdboden wachsende, fleischige, saprophytische Pilze mit Mittelstiel» definiert werden. Ihre kompakten Hüte – eng anliegend bei Baby-Exemplaren, robust und appetitlich gewölbt bei reifen – haben eine glatte (nicht gefächerte) Unterseite und einen sauberen, kräftigen Stiel. In der klassischen Einfachheit ihrer Form unterscheiden sich die Röhrenpilze beträchtlich vom «echten Pilz» mit seinen hanebüchenen Lamellen und der schlaffen Manschette um den Stiel. Auf gerade diesen jedoch, auf den gemeinen und hässlichen Blätterpilz, beschränken Völker mit furchtsamen Geschmacksnerven ihre Kenntnis und ihren Appetit, sodass die aristokratischen Röhrlinge für den angloamerikanischen Laienverstand bestenfalls umerzogene Giftpilze sind.

Regenwetter brachte diese schönen Pflanzen unter den Tannen, Birken und Espen unseres Parks im Überfluss ans Licht, vor allem in seinem älteren Teil östlich des Kutschweges, der den Park in zwei teilte. In den schattigen Tiefen herrschte dann jener eigentümlich boletische Geruch, der einem Russen die Nüstern weitet – eine dunkle, dumpfige, wohltuende Mischung aus feuchtem Moos, satter Erde, verfaulendem Laub. Doch man musste eine ganze Weile Ausschau halten und im nassen Unterholz stochern, bevor etwas wirklich Hübsches wie eine Familie von haubenbedeckten Babysteinpilzen oder die marmorierte Abart des Birkenpilzes entdeckt war und sorgsam aus dem Erdreich gelöst werden konnte.

An bedeckten Nachmittagen ging meine Mutter ganz allein im Nieselregen mit einem (innen von Waldheidelbeeren blau gefleckten) Korb auf eine lange Pilzsuche. Zur Abendessenszeit sah man sie dann aus den diesigen Tiefen eines Parkweges auftauchen, ihre kleine Gestalt in grünlich braune Wollsachen gemummt, auf denen kleine Wassertropfen eine Art Nebel um sie bildeten. Wenn sie unter den triefenden Bäumen näher kam und meiner ansichtig wurde, lag in ihren Zügen ein seltsamer, freudloser Ausdruck, der Misserfolg hätte bedeuten können, hätte ich in ihm nicht die angespannte, eifersüchtig beherrschte Seligkeit des erfolgreichen Sammlers erkannt. Kurz bevor sie mich erreichte, ließ sie dann mit einer abrupten, matten Arm- und Schulterbewegung und einem «Phhhh!»...

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