Wie aus einem dicken Kind und Teenager ein normalgewichtiger Diätassistent wurde – das ist meine Geschichte. Danach erkläre ich Ihnen, warum Übergewicht nicht einfach Disziplinlosigkeit ist und wieso es gar nicht so einfach ist, die ungeliebten Pfunde loszuwerden. Eines schon vorweg: „Gar nicht einfach” heißt nicht unmöglich!
Es war der Tag meiner Musterung, der 30. Juni 1994. Ich hockte in einem Zimmer des Kreiswehrersatzamts in Karlsruhe. Da saß ich nun, 1,98 Meter groß, 73 Kilogramm schwer, auf dem unbequemen Stuhl, um demnächst einem Arzt gegenüberzutreten, der herausfinden sollte, ob dieser Hagerling tauglich für den Dienst an der Waffe sei. Mit 19 wusste ich noch nicht im Ansatz, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Was für mich jedoch feststand, war, dass ich nie wieder 141 Kilogramm wiegen wollte. Vor der Bundeswehr hatte ich hauptsächlich Angst, weil ich befürchtete, dort meine Diät nicht fortführen zu dürfen.
Ich arbeitete damals als Austräger bei der Deutschen Post. Mein Frühstück nahm ich um halb vier Uhr morgens ein, es bestand aus einem halben Liter Kaffee und zwei Scheiben Pumpernickel mit Marmelade. Die nächste Mahlzeit stand mittags um drei an, oft nur eine Dose Karotten oder Erbsen. Manchmal gab es noch etwas Obstsalat mit fettarmem Joghurt, an guten Tagen eine Banane. Abends aß ich drei Brötchen mit Marmelade. Ich hatte mir alles exakt ausgerechnet: Ich nahm jeden Tag 1600 Kalorien zu mir, und das schon über ein Jahr lang. Nur am Wochenende gab es ab und zu einen Exzess mit einem Berg Chicken Nuggets plus zwei Cheeseburgern bei McDonalds.
Für einen Mann meiner Größe bedeuteten 1600 Kalorien Mangelernährung, vor allem, wenn man mein intensives Sportprogramm miteinbezieht. Als Austräger legte ich Strecken von zwölf bis 15 Kilometern am Tag zurück, zusätzlich ging ich viermal in der Woche zehn Kilometer joggen.
Hier saß ich nun und hinter mir lag eine der wichtigsten Phasen meines Lebens. Vor über einem Jahr hatte ich mein Leben radikal verändert und die vergangenen 16 Monate waren geprägt von einem Kampf, den ich mit dem Wissen, das ich heute habe, nie auf diese Art und Weise ausgefochten hätte.
Über ein Jahr lang nahm ich täglich nicht mehr als 1600 Kalorien zu mir.
Die radikale Umstellung meines Lebens hatte natürlich einen Grund. Sie begann mit einer Feststellung, die jeder Patient macht, der heute den Weg in meine Praxis findet. Es ist der Moment, wenn anstelle eines undef nierten Problembewusstseins der ehrliche Wille zur Veränderung tritt: „So kann es nicht weitergehen.” Bei mir war es der 2. März 1993. Ich wog 141 Kilogramm, trug Jogginghosen mit Gummibund, hatte 60 Zentimeter lange Haare und war der festen Überzeugung, dass ein zerfleddertes Batik-Shirt der Heavy-Metal-Band Morgoth als Alltagskleidung völlig in Ordnung war. An jenem Tag fasste ich den Entschluss, dass sich etwas ändern musste.
Im März 1993 wurde mir klar, dass sich etwas ändern musste.
Meine Gewichtsprobleme fingen bereits in meiner Kindheit an. Die Informationslage über Softdrinks war in den 1980er-Jahren noch dünn. Als ich klein war, betrieben meine Eltern einen Getränkehandel, die Folge war ein unbeschränkter Zugang zum süßklebrigen Flüssig-Gift für den kleinen Sven. Hinzu kam die gute Milch von den Nachbarskühen. „Der Junge muss weniger essen” – das war damals die einzige Empfehlung des Hausarztes, als deutlich wurde, dass ich deutlich dicker als meine Klassenkameraden war. Doch so viel aß ich gar nicht. Meine Mutter ist eine fantastische Köchin, aber übermäßig groß waren meine Portionen damals nicht. Trotzdem zeigte die Waage 81 Kilogramm an. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt.
In meiner Jugend waren Softdrinks meine ständigen Begleiter.
In der Pubertät setzte dann ein kaum zu bändigender Hunger ein und die Softdrinks waren weiterhin meine ständigen Begleiter. Hätte man meiner Mutter gesagt, dass ihr Junge jeden Tag knapp 300 Gramm reinen Zuckers (drei Liter Softgetränke) trank, sie hätte wohl direkt Schnappatmung bekommen. Flüssigkeit verschleiert Energie. Das Ergebnis ist heute bei einem großen Teil meiner Patienten zu sehen und war auch damals bei dem kleinen Sven eindeutig. „Einfach weniger essen” funktioniert nicht, wenn die Gründe für Übergewicht in bunten Durstlöschern verborgen liegen.
15 Jahre alt, 120 Kilogramm schwer. Ich war nicht mehr pummelig, ich war fett. Mein Freundeskreis hatte kein großes Problem mit meinem Gewicht. Noch war ich viel draußen, spielte Fußball. Doch die Hänseleien und angewiderten Blicke in meinem Umfeld nahmen zu. Dass sich mein Gewicht zu einem ernsten Problem entwickelte, war mir damals in meinem jugendlichen Leichtsinn noch nicht klar. Ich aß oft exzessiv, vor allem in den Ferien. Drei Liter Spezi plus zehn Leberkäswecken an einem Vormittag waren normal. Ich weiß noch, wie ich einmal mit meinem besten Kumpel Lucky in zehn Tagen Pfingstferien wirklich 100 von den fettriefenden 400-Kalorien-pro-Stück-Ungeheuern wegmampfte, ohne den Anflug eines schlechten Gewissens. Der ernährungsphysiologische Nutzen von – den im Schwabenland so beliebten „LKWs” ist vergleichbar mit dem Austrinken eines Bechers Frittieröl. 8000 Kalorien am Tag – eine Energiemenge, die sonst nur die härtesten Extremsportler der Welt zu sich nehmen.
In meinen Hochzeiten aß ich 4500 Kalorien pro Tag!
Außerhalb der Ferien lag meine Energiezufuhr im Durchschnitt immer noch bei etwa 4500 Kalorien – rund 1000 Kalorien über meinem eigentlichen Bedarf. Die Rechnung, welche Auswirkungen ein derartiges Übermaß an Energiezufuhr auf den Körper hat, ist relativ einfach: Ein Kilogramm Körperfett trägt die Energie von 7000 Kalorien in sich. Wenn also ein erwachsener Mensch jeden Tag 1000 Kalorien mehr zu sich nimmt, als er verbrennt, bedeutet das eine Gewichtszunahme von rund 50 Kilogramm im Jahr. Das war für mich die harte Realität.
Alles kein Problem, ich befand mich immer noch im Wachstum, trieb regelmäßig Sport mit meinen Freunden. Ernst wurde die Lage erst, als mein Mofa den Geist aufgab. Meine Mobilität war dahin, mit ihr auch der Wille, wirklich etwas an meiner Situation zu ändern. Mein Gewicht wurde zum Gefängnis. Es gab keine passenden Hosen mehr für mich, also hörte ich mit dem Tanzen auf. Den Anblick von einem Hünen in Jogginghosen, der Disco-Fox tanzt, wollte ich niemandem zumuten. Im Winter fraß ich mir 20 Kilogramm Frust auf die Rippen. Nur auf Partys ging ich noch ab und zu. Dort war als Abendration ein halber Kasten Weizenbier pro Person keine Seltenheit. 2500 flüssige Kalorien innerhalb von zwölf Stunden.
Am 2. März 1993 war ich auf solch einer Party. Mein bester Kumpel Lucky feierte Geburtstag. Ich wollte nach einer Freundin sehen, die Migräne hatte, in dem Zimmer stand eine Waage, eines dieser alten Dinger mit Ziffernblatt, das sich im Kreis dreht. Ich stellte mich darauf. Das Ziffernblatt wurde von meinem Bauch fast verdeckt, doch selbst bei freier Sicht konnte ich mein Gewicht von dem Gerät nicht ablesen. Die Analogwaagen der 1990er-Jahre zeigten nur Werte bis 120 Kilogramm an, als ich auf dem Ding stand, war der Zeiger auf Anschlag. Es war das erste Mal, dass ich mir wirklich eingestand: „Das passt alles nicht mehr.” Mein Vater hatte schon vor Jahren gesagt, dass es bei mir irgendwann mal „eine Waage verreißt”. Der Spruch war zur bitteren Realität geworden. Auf der Party sagte ich zu jemandem: „Die Waage ist kaputt.” Die Antwort sollte ich nie wieder vergessen: „Nee. Du bist einfach zu fett geworden.”
Irgendwann war ich zu dick für die Waage.
Zugegeben, die Erfahrung auf der Waage war nicht der einzige Grund. Es gab da noch Katja – eine Gymnasiastin, für die ich schwärmte. Die Vorstellung vom 141 Kilogramm schweren Typen mit Hauptschulabschluss, der mit einer hübschen Gymnasiastin händchenhaltend am Neckar entlangschlendert, war für mich so realistisch wie sprechende Sumpfhühner. Wollte ich ihr gefallen, musste ich von den 141 Kilogramm runter. Den letzten Anstoß gab dann die Reaktion einer Azubine in der Volksbank Horb, die trotz offensichtlicher Mühe ihr Entsetzen über meine wenig schmeichelhafte Erscheinung nicht kaschieren konnte.
Ich wollte abnehmen. Doch wie sollte ich das anstellen? Ich wusste eigentlich nur, dass ich weniger essen musste und dass der Konsum von Limo wahrscheinlich doch etwas mit dem Umfang meines Bauches zu tun hatte. Meine erste Kalorientabelle fand ich in der Apothekenumschau. Anfangs aß ich nur Joghurt und trank Mineralwasser, denn ich hatte gehört, dass Joghurt satt macht und wenig Kalorien hat. Nach und nach entwickelte ich meine Pumpernickel-Möhren-Diät. Mein geliebtes Spezi...