1. Ist das noch Liebe, oder helikoptere ich schon?
Oder: Warum dieses Buch geschrieben werden musste
Ich stehe in der Nähe eines typischen Klettergerüstes aus der Spielplatz-Bootcamp-Ära der Siebzigerjahre (scharfes Metallgestrüpp, darunter scharfkantiger, steinharter Waschbeton) und beobachte angestrengt, wie mein Sohn immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren droht. Ich spüre, wie mein Körper zuckt, weil er hineilen möchte, um da zu sein, wenn mein Sohn fällt. Damit ich ihn auffangen kann und er sich nichts Schlimmeres zuzieht als einen ordentlichen Schreck. Der Fuß meines Sohnes rutscht ab, mein Herz bleibt einen Augenblick lang stehen, mein Sohn fängt sich. Wieder zuckt mein Körper, doch erneut unterdrücke ich den Impuls und bleibe betont gelassen gut fünf Meter entfernt stehen. In diesem Moment verschätzt sich mein Sohn, greift daneben und stürzt ab. Sein Kopf prallt auf den Boden, er schreit. Während ich zu ihm hinhechte, ihn in den Arm nehme und tröste, weil ihm ein übles Horn auf der Stirn wächst, schäme ich mich und fühle mich wie der schlechteste Papa der Welt.
Was ist passiert?
Gehen wir einen Schritt zurück.
Seit einiger Zeit kann man in Deutschland ein Phänomen beobachten, für das es keinen adäquaten Begriff gibt (dazu ist es zu neu) und das ich mal etwas polemisch als »Eltern-Bashing« bezeichnen möchte. Nicht nur auf Spiegel Online oder den Wissensseiten der Süddeutschen Zeitung, sondern auch in den vielen gleichlautenden Erziehungsratgebern, die die Regale deutscher Buchhandlungen füllen und die Bestsellerlisten anführen, liest man seitenlang über die Fehler, die heutige Eltern in der Erziehung angeblich machen. Regelmäßig ist von einer Überfütterung an elterlicher Fürsorge die Rede, die als die größte Gefahr für den Fortbestand der deutschen Gesellschaft ausgemacht wird, von einem als Liebe getarnten Würgegriff. Laut der gängigen Meinung setzen heutige Eltern keine Grenzen mehr, nehmen ihren Kindern dadurch die Orientierungsmöglichkeiten und schaffen es gleichzeitig, den Nachwuchs durch ihre angstgeleitete Überfürsorge so einzuengen, dass er am Ende zum kleinen Egomonster wird, komplett verzogen und lebensunfähig. Der gleichlautende Vorwurf: Die Eltern des 21. Jahrhunderts rauben ihren Kindern die Chance, eigene Erfahrungen zu sammeln und halten sie davon ab, sich artgerecht zu entwickeln.
Irgendwann tauchte der Begriff der »Helikopter-Eltern« auf, der Mütter und Väter bezeichnet, die in einer Mischung aus übertriebener Zuwendung und Angst um ihre Kinder in besonders absurden Bahnen um sie herumschwirren. Es gibt mittlerweile gefühlt zigtausend Bücher, in denen solche Fälle von beinahe hysterischen Eltern geschildert werden, die ihren Kindern Peilsender in die Unterhosen nähen, nicht mehr schlafen können, wenn in der Grundschule die Eins in Chinesisch wackelt, oder die ohnmächtig zusammenbrechen, weil Melitta oder Kaspar oder Cassian (klar, so heißen Helikopter-Kinder) versehentlich in die Nähe einer Tasse Milch geraten sind, die nicht nachweislich nachts bei Mondschein auf einem Demeterhof aus dem Euter kam. Diese Eltern nerven ihr Umfeld mit übergriffigen Forderungen (der Lehrer soll bitte dafür sorgen, dass das Kind je nach Außentemperatur den entsprechenden Pullover trägt; auf dem Kindergeburtstag der Freundin darf bitte nix Süßes verteilt werden) und schaden ihren Kindern nachhaltig.
Ich kenne wirklich viele Eltern, und alle sind auf ihre Art verschieden; es gibt lässige, es gibt ängstliche, es gibt laute, es gibt arrogante, es gibt viel zu nette (denn natürlich: Wenn ein Kind einem anderen Kind die Metallschaufel über den Kopf zieht, sollte der Erziehungsberechtigte eingreifen und die aus welcher Motivation heraus auch immer ausgeführte Attacke nicht mit »Ach, das hat er/sie doch nicht böse gemeint« abtun, obwohl Blut aus der Platzwunde schießt. Wobei ich bezweifle, dass so was tatsächlich so gehäuft vorkommt, wie im gängigen Vorwurf behauptet wird. – Dazu gleich mehr.), und es gibt auch ein paar doofe Eltern. Aber nie habe ich Eltern erlebt, die wirklich so bekloppt sind, wie sie in »Wir-lachen-über-Helikopter-Eltern«-Büchern und -Blogs vorkommen.
Das Problem an diesen Karikaturen ist, dass sie a) letztlich nur befeuern, was der gesellschaftliche Mainstream über Eltern zu denken hat, und b) dass sich eben dieser Mainstream davon provoziert fühlt (was wiederum gut belegt, dass besonders fürsorgliche Eltern anderen ein schlechtes Gewissen zu bereiten scheinen, ähnlich wie Vegetarier sich regelmäßig rechtfertigen müssen, als wäre ihre Ernährungsweise nur dem Ziel entsprungen, Fleischesser als schlechtere Menschen dastehen zu lassen). Helikopter-Eltern sind ein Mythos, ein gern genommenes Totschlagargument, wenn es darum geht zu zeigen, was Eltern heute angeblich alles falsch machen, so wie man die Uhr danach stellen kann, dass bald die nächste »Generation XYZ« gebrandmarkt wird als wie auch immer orientiert und konditioniert. Das Gefährliche daran ist, dass die Helikopter-Debatte das Verhältnis von Eltern zu Kindern beeinflusst, ohne dass es den Vätern und Müttern bewusst ist. Ich jedenfalls frage mich aufgrund der absurden Debatten oft: Ist das noch Liebe oder helikoptere ich schon? Und sicher bin ich nicht der Einzige.
Kommen wir noch mal zurück auf die Spielplatzszene zu Beginn.
Mein Sohn hängt an einem in die Jahre gekommenen Klettergerüst, an dem es viele Verletzungsmöglichkeiten gibt, falls er runterfällt. Mein Körper signalisiert mir sehr deutlich, dass ich eigentlich am liebsten neben und unter meinem Sohn stehen würde, um ihn im Falle des Falles vor Knochenbrüchen, Platzwunden und einer Gehirnerschütterung zu bewahren. Trotzdem bleibe ich in deutlicher Entfernung stehen. Warum?
Damit es keinesfalls so aussieht, als würde ich helikoptermäßig über meinen Sohn wachen, weil ich kein Vertrauen in seine Fähigkeiten besitze. Dadurch würde ich ihn – nach Anti-Helikopter-Meinung – verunsichern und den von mir befürchteten Unfall selbst erst provozieren. Äußerlich bleibe ich also ein vorbildlicher moderner Papa voller Zutrauen in das Klettergeschick meines Sohnes, während ich im Inneren mit der kaum auszuhaltenden Panik kämpfe, er werde gleich kopfüber zu Boden segeln. Aber: Bloß nicht in seine Nähe kommen! Er könnte sich plötzlich einer Gefahr bewusst werden, die er vorher nicht gesehen hat, Angst bekommen und augenblicklich panisch das Gerüst loslassen. Dass mein Sohn sich eher sicherer fühlt, wenn ich dicht bei ihm stehe, und sich sogar Sachen traut, die er sonst nie probieren würde, übersieht die Helikopter-Debatte. Und auch ich zweifele plötzlich daran. Kann doch sein, dass ich mich irre, oder? Was weiß denn schon ein Vater?
Ich war verunsichert, und als mein Sohn Augenblicke später weinend in meinem Arm lag, schämte ich mich, weil ich mich tatsächlich mehr um mein öffentliches Bild gesorgt hatte als um mein fünfjähriges Kind.
An dieser Stelle möchte ich dem Helikopter-Vorwurf folgende Behauptung entgegenstellen: Nie gab es eine Eltern-generation, die fürsorglicher und achtsamer mit ihren Kindern umging, als wir das heute praktizieren. Unsere Kinder stehen im Mittelpunkt unseres Lebens, und ich behaupte, dass es an diesem Punkt nichts gibt, das ihnen schadet. Im Gegenteil: Die Art und Weise, wie wir unseren Kindern begegnen, wird dafür sorgen, dass sie zu achtsamen und verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen. Und viel schädlicher als unsere vermeintliche Überbehütung ist die Diskussion darüber.
Eine Auswahl: Im Juni 2018 war im Deutschlandfunk ein Gespräch mit dem Pädagogen Herbert Renz-Polster mit »Zuviel Fürsorge schadet Kindern« überschrieben. Und Josef Kraus, immerhin Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt auf vielen Kanälen regelmäßig vor gluckenden Eltern und gibt in seinem Buch Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung zu, dass zwar nur ein Sechstel aller Elternpaare überfürsorglich sei (wo werden eigentlich solche Zahlen ermittelt?), die Mehrheit sich also »vernünftig« verhalte – der Schaden an der Allgemeinheit durch verhelikopterte Heranwachsende jedoch immens sei. Eine steile These, die einem verantwortungsbewussten, extrem fürsorglichen, aber eben auch sehr selbstkritischen Vater wie mir allerdings nicht die Frage beantwortet, ab wann aus vernünftiger Vorsicht unvernünftige Überbehütung wird und man in das verschriene Sechstel abdriftet. Im Gegenteil – solche Behauptungen säen Zweifel und führen zu unnötigen Beulen wie im Fall meines Sohnes.
Heute herrscht der weitverbreitete Konsens, dass man Kinder nicht schlägt. Die Grenze ist klar gezogen, da gibt es keine Missverständnisse; aber wo aus einer liebevollen Erziehung eine zu liebevolle wird, darüber gibt es keine Klarheit. Wie auch? Es kann gar keine geben, denn jedes Eltern-Kind-Verhältnis ist so individuell, dass Aussagen darüber totaler Quatsch sind. Sie beeinflussen einen jedoch, und da beginnt das Problem. Manche Kinder brauchen ganz viel Nähe, Zärtlichkeit, Unterstützung, andere eben nicht. Wie viel Zuwendung ein Kind braucht, entscheiden wir Eltern, und wir haben eine natürliche Befähigung dazu. Wer heute aber eines der monströs großen Regale mit Pädagogikliteratur in einer durchschnittlichen Systembuchhandlung betrachtet, könnte zu einer anderen Überzeugung gelangen; zum Beispiel, dass heutige Eltern nach der Geburt zwar mindestens um ein Kind reicher sind, jedoch auch um zwei Gehirne ärmer.
Wer in Biologie gut aufgepasst hat, der weiß, dass die Natur Menschen, die gerade Eltern geworden sind, mit einigen temporären Zusatzskills ausstattet. So wie das in Videospielen funktioniert, wenn der Held...