1. Sechs Kerzen, ein Wunsch
Wir alle müssen unsere Heimat verlassen,
um eine realere und größere Heimat zu finden.
Richard Rohr1
Es war der Tag, den ich nie vergessen werde, in dem Jahr, das ich am liebsten für immer vergessen würde.
Ich stand auf Zehenspitzen und schaute über den Rand ihres großen grünen Zeichentisches. Ich sah meiner Mutter zu, wie sie sorgfältig zehn Kunstwerke erschuf. Konzentriert beugte sie sich vornüber, damit sie näher an ihrem Bleistift arbeiten konnte. Wir waren in ihrem geräumigen Atelier, das in unserem neuen, mit Zwischengeschossen ausgestatteten Haus an das Schlafzimmer meiner Eltern angrenzte. Unsere fünfköpfige Familie wohnte erst seit Kurzem dort, in der letzten Straße einer neu erbauten Siedlung im Westen von El Paso, Texas, und wir Kinder hatten alle ein eigenes Zimmer.
Das Atelier war ein fast vierzig Quadratmeter großer Raum mit gewölbten Decken und natürlichem Tageslicht, das durch die Fenster hereinströmte. Zwei Brennöfen standen darin und es gab Staffeleien, Leinwände, Acryl- und Ölfarben sowie Schränke, in denen noch weitere Materialien waren. Ein Kassettenrekorder und einige Schachteln voll mit klassischer Musik sorgten dafür, dass der Raum mit dem Klang von Symphonien erfüllt war, während wir arbeiteten. Meine beiden Schwestern und ich waren wahrscheinlich die einzigen drei kleinen Mädchen, die dazu ermutigt wurden, Grußkarten selbst zu gestalten, statt welche zu kaufen. Wenn Verwandte Geburtstag hatten, ein Jubiläum oder Feiertage bevorstanden, holte Mutter die Malutensilien heraus und ließ uns ganz persönliche Karten anfertigen. Glitter und Klebstoff allein reichten nicht; wir mussten ein Thema, eine Illustration und eine Botschaft haben, genau wie bei einer richtigen Grußkarte. Für mich war dieser Raum in unserem Haus immer eine Art Liebesbrief meines Vaters an meine Mutter. Er wollte, dass sie sich hier entfalten konnte, wenn sie schon in die texanische Wüste verpflanzt worden war.
El Paso war die Heimatstadt meines Vaters und meine Mutter war ein Jahrzehnt zuvor von North Carolina hierher gezogen, aus reiner Liebe zu ihm. Alle Häuser in unserer Nachbarschaft waren grundsätzlich im Stil einer Ranch erbaut, mit zusätzlichen architektonischen Elementen aus dem Westen: Ziegeldächer, bunte Lehmziegel und Holzbalken, die über bogenförmigen Fenstern herausragten. So als ob man sich für sein Haus ein Fiesta-Paket zum Draufsatteln bestellen würde. Jeder Vorgarten sah ähnlich aus: eine Landschaft aus Kakteen und Felsen. Nur unserer war anders. Mutter hatte die Felsen etwas sanfter gestaltet mit dem Besten, was ihr Heimatstaat zu bieten hatte: Sie hatte auf unser tausend Quadratmeter großes Grundstück Rosenbüsche und Bradford-Birnbäume gepflanzt. Ich bin sicher, dass man in der örtlichen Baumschule noch nie etwas von Bradford-Birnbäumen gehört hatte, als meine Mutter vier davon bestellte.
Mutter war ganz und gar in ihre Arbeit vertieft, während ich sie an ihrem Zeichentisch beobachtete. Ihre schlanken Finger – die Nägel dezent lackiert – drückten fest auf den Bleistift, als sie sorgfältig die Worte auf die Vorderseite der Klappkarte schrieb, die sie aus weißem Tonpapier ausgeschnitten hatte. Diese Vorzeichnung mit Bleistift war nur ein grober Entwurf, der sicherstellen sollte, dass die Buchstaben mittig und in gleichmäßigem Abstand angeordnet waren.
Als Nächstes nahm sie ihren Füller mit der tiefschwarzen Tinte und malte langsam die Linien nach, bis die Buchstaben einer nach dem anderen erschienen. Wenn sie eine Karte vollendet hatte, nahm sie die nächste zur Hand, bis alle zehn Karten in perfekt angeordneter Schrift die Worte verkündeten:
Herzliche Einladung zum 6. Geburtstag
von Katherine Grace Green
Wochenlang hatte meine Mutter ihre gesamte kreative Energie investiert, um einen unvergesslichen Tag für mich zu planen. Sie selbst konnte sich nicht daran erinnern, als Kind auch nur einen Kuchen zum Geburtstag bekommen zu haben, nicht einmal einen gekauften. Und so hatte sie sich geschworen, dass ihre eigenen Töchter sich immer an ihre Geburtstagsfeiern würden erinnern können. Sie begann, indem sie ein Motto auswählte; alles, was meine Mutter tat, hatte ein bestimmtes Motto. Ob Einladungen, Spiele, Kuchen oder kleine Geschenke zum Mitgeben – alles passte zusammen und wurde für den großen Tag mühsam geschrieben, gemalt oder gebacken. Zu meinem sechsten Geburtstag, so hatte sie beschlossen, sollten alle Motive aus Comics stammen. Wochenlang hatten wir entsprechende Zeitschriften gesammelt und nun drückte meine Mutter mir eine abgerundete Bastelschere in die Hand, damit ich einen fünfzehn Zentimeter langen Cartoon-Streifen mit Goofy ausschneiden konnte. Ich klebte ihn auf die Innenseite einer Klappkarte und fügte noch ein paar abgetippte Informationen hinzu, um meiner besten Freundin Andrea klarzumachen, dass sie nicht nur zu meiner Party eingeladen war, sondern auch in Verkleidung dieser Disney-Figur erscheinen sollte. Auf jeden Fall würde es Preise für die besten Kostüme geben.
Meine Mutter ließ mich meine Comicfigur aussuchen. Ich entschied mich für Linus, damit ich eine blaue Decke herumtragen und Snoopy (meiner Freundin Susie) folgen konnte. Meine Schwester Allyson, nur eineinhalb Jahre älter als ich, war ganz verrückt nach Disney-Prinzessinnen und wollte gern Cinderella sein, damit sie ihr blondes Haar zu einem Knoten binden und in einem langen blauen Mantel herumlaufen konnte.
Meine Mutter aber sprach sich dagegen aus, denn Cinderella ist schließlich keine Comicfigur. Also ließ Allyson sich widerwillig als Lucy von den Peanuts verkleiden. Meine älteste Schwester Louise war zwölf Jahre alt und schon meilenweit davon entfernt, an der Geburtstagsfeier ihrer kleinen Schwester teilzunehmen. Sie erklärte sich jedoch bereit, mit auf die kleinen Gäste aufzupassen. Verkleiden wollte sie sich allerdings nicht, was für meine Mutter eine herbe Enttäuschung war, wo sie es doch so sehr gern hatte, uns drei Mädchen für den Gottesdienst sonntags im Partnerlook anzukleiden.
Schließlich kam der große Tag und ich konnte vom Küchenfenster aus sehen, wie meine Freundinnen an unserer Haustür erschienen. Andrea kam als Goofy, Nancy als Minnie Maus, Beth als Beetle Bailey. Mütter und Töchter bevölkerten unsere vordere Veranda, bestaunten die kreativen Kostüme der Gäste, vor allem aber den genialen Erfindungsreichtum meiner Mutter.
„Lindsay, ich weiß gar nicht, wie du immer auf all diese Partyideen kommst!“
„Ich kann noch nicht einmal eine gerade Linie zeichnen, geschweige denn Kalligrafie.“
„Woher nimmst du nur die Zeit dafür?“
Meine Mutter winkte nur ab, senkte den Blick und berührte verlegen ein paar Strähnen ihres kastanienbraunen Haares, das im Friseursalon mithilfe von Haarspray kunstvoll fixiert worden war. Innerlich aber platzte sie fast vor Stolz. Sie konnte die Komplimente vielleicht nicht annehmen, aber sie stimmten alle. Sie gehörte fest zum Gremium der Elternvertreter, war im Vorstand der Football-Juniorenliga, Chormitglied und Sonntagsschullehrerin in der First Presbyterian Church und eine außergewöhnliche Ehefrau und Mutter.
Wie schaffte sie das nur alles?
Die Geburtstagsparty verlief wie immer perfekt.
Als es Zeit wurde, die Kerzen auf der Geburtstagstorte auszupusten, drängten meine Freundinnen sich rund um unseren Küchentisch. Der Kuchen war ein weiteres Kunstwerk aus der Hand meiner Mutter. Sie zündete die Kerzen an, während meine Freundinnen und Schwestern sangen: „Happy Birthday, liebe Kathy!“
„Wünsch dir was!“, rief meine Mutter mir zu.
Ich hoffe, ich bekomme einen Spielzeugherd.
Mutter wusste, was ich mir wünschte. Als ich meinen Berg an Geschenken in Angriff nahm, entdeckte ich eine rechteckige Schachtel, die mit Comic-Seiten eingepackt war, sodass auch das Geschenk zum Motto des Festes passte. Darin befand sich mein eigener kleiner Herd.
Das war der BESTE TAG ÜBERHAUPT.
Als der letzte Gast nach Hause gegangen war, konnte ich sehen, dass meine Mutter vollkommen erschöpft war. Schnell lief ich zu ihr hin und presste mein Gesicht an ihre Beine; ich umarmte sie fest, während wir dort im Flur standen. Der Boden unter unseren Füßen bestand aus Plexiglas-Fliesen, die aussahen wie türkisfarbene und hellgrüne Muscheln, die auf dem klaren Ozean treiben.
In diesem Moment war ich wirklich überzeugt davon, dass meine Mutter auf dem Wasser gehen konnte.
Sie strich über mein dünnes dunkelblondes Haar, und als ich zu ihr aufsah, zupfte sie wie abwesend die Strähnen meines Ponys gerade. Mit ihren Gedanken schien sie ganz woanders zu sein, während sie die feinen Haare gerade strich, die eigentlich gar nicht frisiert zu werden brauchten. Ihr Blick wanderte von meinem Haar hin zu etwas, das in der Küche war. Sie löste sich langsam von mir, weil sie etwas erledigen wollte. Sie ging zu der über zwei Meter breiten Arbeitsfläche, auf der ein grünes Telefon in der Farbe einer Avocado stand. Es passte zu allen anderen Geräten in der Küche, die exakt in demselben Farbton bemalt waren. Beim Telefon lag der Poststapel einer ganzen Woche, neben Mutters Kalender, ihren Notizkarten und der Bibel.
Diese drei Dinge wurden von meiner Mutter besonders verehrt – denn mit Kalender und Notizkarten organisierte sie ihren Alltag und mit der Bibel ihr ewiges Schicksal.
Ihre Pflichten hielt Mutter immer auf...