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E-Book

Jugend - Pop - Kultur

Eine transnationale Geschichte

AutorBodo Mrozek
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl866 Seiten
ISBN9783518754580
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Scheppernde Sounds, lautes Benehmen und schrille Mode: Das Vokabular, mit dem Zeitgenossen Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue Jugendszene beschrieben, markiert einen Kulturbruch. Ästhetische Konflikte kulminierten in Straßenkrawallen, Polizeimaßnahmen und Zensurgesetzen. Zugleich etablierten Tourneen, Piratensender und Fanclubs grenzüberschreitend neue Inhalte. Bodo Mrozek analysiert einen Wandel, der sich in den 1950er und 1960er Jahren vollzog und die Gesellschaft prägte: Was zunächst als Jugenddelinquenz bekämpft wurde, galt zehn Jahre später als Inbegriff urbaner Kultur. Dokumente aus sechs Staaten bilden das Material dieser transnationalen Geschichte der Popkultur.

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Bodo Mrozek ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kolleg Kalter Krieg des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin.

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Leseprobe

111. Einleitung


Als der New Yorker Journalist Tom Wolfe 1963 eine Sammlung seiner Reportagen veröffentlichte, klagte er im Vorwort des Buches, die Themen seiner ungewöhnlichen Sujets würden weitgehend ignoriert. »Niemand schenkt auch nur die geringste Aufmerksamkeit unseren neuen, unglaublich nationalen Freizeitbelustigungen.« Erscheinungen wie »Serienwagen-Rennen, Sprintwagen-Rennen, Himmelfahrts-Rennen […], Maßautos und natürlich der Jerk, der Monkey, die Rock-Musik scheinen immer noch nicht wert, ernst genommen zu werden«. All dies werde »als Vorzugsbeschäftigung von Gammlern« betrachtet. Tatsächlich aber verändere sich »das Leben des ganzen Landes auf eine Weise, die anscheinend niemand wahrnimmt, geschweige denn analysiert«.[1] Wolfe, dessen Reportagen den new journalism mitbegründeten, hatte zweifellos ein Gespür für das Kommende. Was seine Gegenwart betraf, irrte er jedoch gleich in zweierlei Hinsicht. Zum einen zeugten mehrere Auflagen seines Buches in schneller Folge sowie Übersetzungen in andere Sprachen vom gestiegenen Interesse der Zeitgenossen an den bisweilen fremd wirkenden Ausformungen des eigenen Alltags. Zum anderen handelte es sich durchaus nicht nur um »nationale« Erscheinungen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa und in eingeschränktem Maße in den Ländern des globalen Südens, selbst hinter dem »eisernen Vorhang« ließen Jugendliche getunte Motoren aufheulen, hörten und machten Rockmusik, tanzten den Monkey, den Jerk und den Twist – und schufen kulturelle Praktiken und Produkte, die teils in die USA reimportiert 12wurden.[2] Auch außerhalb der USA notierten Chronisten ganz ähnliche Beobachtungen. In den Arbeitervierteln von Ost- und Süd-London etwa meinte der Sozialwissenschaftler Tosco R. Fyvel rund um die Jukeboxes von Cafés die Entstehung einer neuen Kultur auszumachen, und in Frankreich, Deutschland und anderen Teilen Europas bemerkte man die Manifestationen neuer Jugendtypen ebenfalls.[3]

Wurden diese kulturellen Phänomene Mitte der 1950er Jahre noch im Zusammenhang mit Massenkonflikten auf Straßen, in Kinos und bei Konzerten diskutiert, für die sich vor allem Kriminologen und Sozialpsychologen interessierten, so sollte sich die Wahrnehmung binnen nur einer Dekade gründlich verändern. »Niemand weiß so recht, wie man diese neue Gesellschaft nennen soll, aber der Name Pop-Society taucht auf«, bemerkte Wolfe 1963.[4] Nur drei Jahre später, im April 1966, prangten auf der Titelseite des Magazins Time ebenjene Objekte, die er als Insignien gesellschaftlicher Veränderung beschrieben hatte: Schallplatten, schnelle Autos, kurze Frauenröcke, lange Männerhaare.[5] Unter dem Slogan »London: The Swinging City« beschrieb die Titelgeschichte das Phänomen, das zehn Jahre zuvor noch als Ausdruck von Jugenddevianz verhandelt worden war, nun ganz selbstverständlich als eine »farbenfrohe und übersprudelnde pop culture«.[6] Dieser rasche kulturelle Umbruch ist Thema dieses Buches. Es handelt von der Entstehung einer transnationalen Jugend- und Popkultur im ungeraden Jahrzehnt zwischen 1956 und 1966 – und von den Reibungs- und Störgeräuschen, die den Prozess ihrer Etablierung begleiteten. Nicht nur auf dem Gebiet von Sounds – etwa lauter Motoren und elektrisch verstärkter Gitarren –, sondern auch auf anderen sensorischen Feldern waren ästhetische und soziale Diskurse eng miteinander verschränkt.

13Der Prozess der Etablierung dessen, was heute als Popkultur gilt, gehört der »Epoche der Mitlebenden« an. Pop prägte Biographien, ist Bestandteil der Erinnerungskultur, erfreut sich als Gegenstand von Histotainment-Formaten[7] zunehmender Beliebtheit und dient als Epochenlabel (»Rocking Fifties«, »Swinging Sixties«). Damit scheint er mittlerweile im Zentrum der Gesellschaft angekommen. Aus der Perspektive einer Gegenwart, die selbst als dissonant oder grell wahrgenommenen kulturellen Ausdrucksformen vergleichsweise tolerant begegnet, erscheinen die scharfen Debatten um Klänge, Bilder, Texte und Performances aus der Mitte des 20. Jahrhunderts seltsam entrückt. Rigide Mittel wie Kleider-, Tanz- und Musikverbote wirken aus heutiger Sicht wie Maßnahmen eines ancien régime. Ziel dieses Buches ist es daher, die Debatten um Jugend- und Popkultur in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Zusammenhängen zu analysieren – nicht nur als eine »eigendynamische« Kulturrevolution, sondern auch als relationale Phänomene, die zeitgebunden waren und vor dem Hintergrund anderer historischer Faktoren gelesen beziehungsweise gehört werden müssen. Diese Kontextualisierung dient auch der Historisierung von Popkultur, die oftmals pauschal der Gegenwart zugeordnet wird. Eine solche ahistorische Betrachtungsweise führte jedoch zu kurz.[8]

Pop hat Geschichte. Sie betrifft nicht nur die jeweils vergangene Gegenwart der zu behandelnden Umbrüche, sondern auch deren Vorgeschichte. Viele der damals als neu wahrgenommenen Phänomene stehen in Kontinuitäten, die in ältere Epochen zurückweisen. Auch diese längeren Linien müssen aufgezeigt werden, um die verhärteten Positionen der Kulturkämpfe Mitte des 20. Jahrhunderts zu analysieren.

141.1. Jugend- und Popgeschichte: Fragestellung und Problemaufriss


Wer nichts von Popgeschichte versteht, könne die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht begreifen: Mit diesem Diktum unterstrich Thomas Lindenberger unlängst die Bedeutung von Pop vor allem für die Zeitgeschichte.[9] Hat sich der gegenwartsorientierte akademische »Popdiskurs« der vergangenen zwei Jahrzehnte wenig mit Geschichte befasst,[10] so gilt der umgekehrte Befund umso mehr: Bis auf wenige Ausnahmen haben auch die Historiker Pop vernachlässigt. Und auch die in jüngerer Zeit entstandenen Popular Music Studies haben vergleichsweise wenig zur Zeitgeschichte der Popkultur beigetragen, da ihre Werkanalysen oftmals ohne dezidierte zeithistorische Kontextualisierung auskommen.[11] In diesem Buch möchte ich diese bislang getrennten Sphären einander näher bringen, indem ich einerseits Phänomene des Pop für die Geschichtsschreibung erschließe und andererseits historiographische Fragestellungen, Quellen und Methoden in den Popdiskurs einbringe. Mein Ziel ist es, einen Beitrag zur Popgeschichtsschreibung zu leisten,[12] was auch bedeutet, massenkulturelle Produkte 15wie Sounds, aber auch Phänomene der visual history wie Comics, Filme, Plakate oder der material culture wie Mode und Design ins Blickfeld zu rücken. Popgeschichte setzt andere Schwerpunkte und Zäsuren als eine an primär politischen Ereignissen orientierte oder eine dem Primat des Sozialen verpflichtete Historiographie; sie orientiert sich stärker an massenmedialem und kulturindustriellem Wandel. Aus popgeschichtlicher Perspektive erscheinen die Jahre um 1956/57 als eine Zäsur, die zwischen erinnerungskulturell etablierten gesellschaftspolitischen Einschnitten wie 1945 oder 1968 liegt. Mitte der Fünfziger verbreiteten sich nach Massenkrawallen neue Stereotype von Jugend, und technisch-mediale Innovationen veränderten Produktion und Konsum von Kultur nachhaltig: die Durchsetzung der Schallplatte aus Vinyl, die Erhebung und Veröffentlichung von Musik-Charts, neue Fernseh- und Rundfunkformate wie das TOP 40-Radio ebenso wie neue transnationale Musiken, etwa der Rock’n’Roll.[13] Die zunächst stark audiophon geprägte Popkultur unterliegt seitdem einem Prozess der rasanten Medialisierung,[14] vorangetrieben nicht nur durch die Phonographie, sondern auch durch die Verschriftlichung in neuartigen Zeitschriften und die Visualisierung durch Kino und Fernsehen, aber auch durch ein bildorientiertes Grafikdesign in Printmedien. Rezeptionspraktiken bildeten weitgehend kohärente Gruppen, die – so werde ich zeigen – zwar altersspezifisch strukturiert waren, sich aber grenzüberschreitend formierten.[15] Pop ist im fraglichen Zeitraum damit in zunehmendem Maße Gegenstand gewandelter Wahrnehmungsstrukturen, die sich in verschiedenen und teils neuartigen...

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