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1. Die Seele auf Wanderschaft
Die Suche nach uns selbst
und nach dem Ort,
wo wir zu Hause sind,
gestaltet sich deshalb
so schwierig,
weil wir letztlich nicht
auf das Finden aus sind –
sondern auf das Gefunden-Werden.
HANS-JOACHIM ECKSTEIN3
Das »gewisse Etwas« und eine Fata Morgana
Hin und wieder, unverhofft und mitten im Alltag, überkommt mich das Gefühl, dass mir irgendetwas fehlt. Es gibt Tage, an denen dieses Gefühl besonders stark ist. Zum Beispiel, wenn meine Unterrichtsstunde in der Schule schiefgeht oder ich das Gefühl habe, dass mein Bemühen, etwas gut zu machen, umsonst war, oder wenn ich Kopfweh habe, etwas Dummes getan habe oder das Begräbnis von jemandem, der mir viel bedeutet, plötzlich in meinem Terminkalender unterbringen muss. An solchen Tagen ist offensichtlich, dass mir etwas fehlt.
Aber das Gefühl überkommt mich auch an sonnigen Tagen, an denen meine Schülerinnen und Schüler mich lieben, die Familie harmonisch ist, das Konto gefüllt, alle rundherum gesund sind und ich von lieben Menschen umgeben bin. Ich empfinde dieses unterschwellige Nörgeln, im Leben nicht ganz angekommen zu sein. Das Gefühl, dass um die nächste Ecke oder hinter dem Horizont irgendetwas auf mich wartet, das mir die Erfüllung aller Träume verspricht, das Erlebnis, bei dem mein Herz aufatmet und jubelt: »Endlich habe ich es gefunden! Meine Suche ist zu Ende!«
Wenn ich in solchen Momenten zu lange grübele, werde ich melancholisch. Ohne konkreten Anlass trauere ich geliebten Menschen nach, die verstorben sind und deren Tod ich eigentlich längst verarbeitet habe. Ich frage mich, wie unser fünftes Kind sich entwickelt hätte, das ich vor achtzehn Jahren durch eine Fehlgeburt verloren habe. Begriffe wie Midlife-Crisis und Lebensmüdigkeit treiben durch meinen Kopf. Ich fühle mich mit vergangenem Schmerz, der nicht ganz verschwinden will, alleingelassen, als ob irgendjemand mich in Stich gelassen hätte und ich nun verwaist in dieser Welt unterwegs wäre. Irgendwann raufe ich mich zusammen, habe ein schlechtes Gewissen, weil ich eigentlich alles im Leben habe und jeden Grund hätte, dankbar zu sein, wende mich meinen Aufgaben wieder zu und das Leben geht weiter.
Die beschriebene nagende Niedergeschlagenheit der Seele lässt sich schwer definieren. Einsamkeit, aber mehr als nur Einsamkeit. Die Romantiker nahmen sie sehr ernst und versuchten, sie in Gedichten und Gemälden einzufangen. Sie hatte diffuse Namen wie Wanderlust, Fernweh, Melancholie und Nostalgie und lieferte Inspiration für üppige Bilder einer fernen Heimat, die einsame Wanderer mit verführerischen Melodien lockt.
Der Dichter Joseph von Eichendorff schrieb:
Wohin du auch in wilder Lust magst dringen,
Du findest nirgends Ruh,
Erreichen wird dich das geheime Singen
Ach, dieses Bannes zauberischen Ringen, –
entfliehn wir nimmer, ich und du!4
In einem Tutorium während meines Deutschstudiums an einem Frauencollege in der Universität von Cambridge mussten wir einmal Gedanken darüber zusammentragen, was Eichendorff mit diesem Gedicht gemeint haben könnte. Ideen purzelten durcheinander. »Das geheime Singen«, »dieses Bannes zauberischen Ringe« – das Arbeiterparadies von Karl Marx? Grünende Wälder und sauberer Regen? (Greenpeace war damals gerade in die Gänge gekommen und das Waldsterben ein großes Thema.) Eine gelingende kirchliche Ökumene, das Ende des Kalten Krieges, die Abschaffung von Armut, guten Sex, eine große Liebe, Ruhm und Ansehen?
Gedichtinterpretation, die von allein läuft, der Traum jedes Pädagogen. Der Dozent lehnte sich mit einem breiten Grinsen in seinem Sessel zurück und wandte sich irgendwelchen anderen Texten zu, während seine kleine Schar von Möchtegern-Akademikerinnen um die Wette diskutierte. Er beendete die Runde mit seinem üblichen Spruch: »You make the poem mean, what you want it to mean« (»Ihr lasst das Gedicht das bedeuten, was ihr wollt, dass es bedeutet«), und verabschiedete uns.
Wahrscheinlich hatte er recht. Das »geheime Singen«, das die Seele lockt und Ruhe verspricht, kann alles Mögliche bedeuten. Dichter und Liedermacher sind nicht die Einzigen, die zu jeder Zeit der Geschichte mit der Rastlosigkeit der menschlichen Seele ihr Brot verdient haben. Machtgierige Führer haben es verstanden, sie für eigene Zwecke zu missbrauchen und in ein gemeinsames Streben nach einer Utopie zu verwandeln. Der Mensch muss nicht auf Wanderschaft gehen und sich dem Bann heimlicher Melodien ausliefern, um Heimat zu finden, flüstern sie ihrer Anhängerschaft zu. Das Paradies liegt vor der Tür – es muss nur erobert werden.
Wir umgeben uns mit unseresgleichen und gestalten die Welt so, wie wir sie gern hätten. Staatsideologen haben begriffen, dass in der Sehnsucht eines Menschen nach Zugehörigkeit eine ungeheure Kraft steckt. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung von Kulturen und Nationen. Es werden in ihrem Namen Kriege geführt.
Diese Sehnsucht hinterlässt ihre Spuren nicht nur auf den Landkarten und in den Geschichtsbüchern dieser Welt, sondern zieht sich auch durch die Biografien einzelner Menschen. Nicht zuletzt findet sie sich in den üppigen Villen und Palästen, welche die Schönen und Reichen durch die Jahrhunderte hindurch wie für die Ewigkeit errichten. Traumfabriken, die aus der Ferne winken, Anschaffungen, die nie genug sind. Beziehungen, die wie alte Kleider weggeworfen und gegen neue ausgetauscht werden, wenn sie nicht das große Glück bringen. Auch mit allen Besitztümern, Errungenschaften und Vergnügungen, welche die Welt zu bieten hat, bleibt die Seele einsam und leer.
Eine schockierende Entdeckung
Ein Prediger im Alten Testament beschreibt seine fatale Suche nach Befriedigung folgendermaßen:
Alles, was meine Augen begehrten, entzog ich ihnen nicht. Ich versagte meinem Herzen keine Freude, denn mein Herz hatte Freude von all meiner Mühe, und das war mein Teil von all meiner Mühe.
PREDIGER 2,10
»Wenn ich nur dies oder jenes hätte, dann wäre ich endlich glücklich!«, so denken wir. Die große Liebe, das Wunschkind, den Traumjob, das Haus, den Urlaub, die Freunde, die Figur, die Begabung … Dieser Mann hatte einen Zugang zu weltlichem Glück, der vermutlich die meisten Menschen gelb vor Neid werden lässt. Er verfügte über einen Reichtum, mit dem er sich jeden Wunsch erfüllen konnte. Doch er beging einen Fehler: Er fing an, nachzudenken:
Und ich wandte mich hin zu all meinen Werken, die meine Hände gemacht, und zu der Mühe, mit der ich mich abgemüht hatte. Und siehe, das alles war Nichtigkeit und ein Haschen nach Wind.
PREDIGER 2,11-12
Ein trauriges Fazit.
Der Prediger macht dieselbe schockierende Entdeckung, die manch ein millionenschwerer Superstar in Drogenorgien zu verdrängen versucht: dass man die ganze Welt besitzen und trotzdem seine Seele verlieren kann. Nachdem man alles erreicht hat, was dieses Leben zu bieten hat, steht man orientierungslos und einsam vor der gleichen Leere und Sinnlosigkeit wie davor. Das hungrige Herz bleibt hungrig. Der Traum ist ausgeträumt, es gibt keine Ziele mehr, die es zu erreichen gilt. Oben auf dem Gipfel des Erfolgs ist die Einsamkeit noch schlimmer. Eine Sache konnte der Prediger mit seinem riesigen Vermögen nicht kaufen: Zugehörigkeit, Freundschaft, Heimat.
In seine düsteren Grübeleien über den Sinn des Lebens streut er verlockende Anspielungen, dass es irgendwo eine Antwort auf sein Dilemma geben muss. Er redet davon, dass Gott »die Ewigkeit in ihr Herz« gelegt hat (Prediger 3,11) und dass »alles, was Gott tut, für ewig sein wird« (Vers 14). Keine Belehrungen, keine dramatischen Aha-Momente. Nur Feststellungen, kleine Hinweise, fast beiläufig und leicht zu übersehen. Sie klingen trocken, akademisch. Mit vier nüchternen, aber gewichtigen Worten schließt er seine Studie ab. »Denke an deinen Schöpfer« (Prediger 12,1).
Als es die Einsamkeit noch nicht gab
Die Ewigkeit im Herzen. Gedanken an den Schöpfer. Der Prediger, am Ende seines Lebens ein gebrochener Mann und eingefleischter Zyniker, lässt einen Hauch von Heimweh in seiner verkrusteten Seele zu. Mitten in der Sinnlosigkeit seines Daseins wittert er Überreste von einer Heimat, die es einmal gegeben hat. Die ferne Erinnerung an einen gemeinsamen Gang durch einen Garten in der Kühle des Abends, in der Begleitung des Schöpfers, in dessen Nähe der Begriff Einsamkeit seine Bedeutung verliert.
Wer Einsamkeit verstehen will, muss vor der Schöpfung beginnen. Die Gemeinschaft zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist war die vollkommenste Heimat, die es jemals gegeben hat: drei getrennte Persönlichkeiten, die in völliger Harmonie ineinanderflossen, miteinander, aber auch füreinander lebten, herrschten, schöpferisch handelten. Es war ein Miteinander frei von Kalkül. »Ich helfe dir – aber nur, wenn du mir hilfst« – auf solche Gedanken wären sie nie gekommen. Hin und wieder gibt uns die Bibel einen kleinen Einblick in diese Dreier-Freundschaft, vor allem in den Reden von Jesus. Aus seinen Worten sprüht immer wieder seine Verehrung für seinen Vater, eine Mischung aus Zuwendung, Faszination, Ehrerbietung und purem Glück.
Glaubt mir, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist; wenn aber nicht, so glaubt um der Werke selbst willen!
JOHANNES 14,11