Zwei Arten der Angst
Ängste sind auf der einen Seite überlebenswichtig, auf der anderen Seite sind sie ein Hemmnis. Sie verhindern bei vielen Menschen, dass sie aus der Komfortzone heraustreten und mit Neugierde hinsehen, was sich jenseits eines regulierten Alltags verbirgt. Wären unsere Vorfahren nicht neugierig genug gewesen, um von Afrika aus weiterzuwandern, wären auch die folgenden Generationen wahrscheinlich noch eine Zeit lang im Immergleichen stecken geblieben. Sie hätten von einem guten Leben geträumt, sich aber dennoch mit den kargen Bodenverhältnissen abgefunden. Sie hätten auf das Klima, die Umgebung, die Chancenlosigkeit geschimpft und wären darüber traurig geworden, vielleicht hätte der Burnout in dieser Epoche seinen Ursprung gefunden. Aber sie taten das, was wir bewundern können: Sie trauten sich eine Selbstentwicklung zu. Sie übertraten die Schwelle der Angst. Was sie allerdings noch nicht vermochten, weil ihnen die Erfahrung und auch die Fähigkeit fehlten, waren eine Bestandsaufnahme der Angst und das nachdrückliche Entscheiden, wie sie mit dieser Angst umgehen sollten.
Zum Glück verfügen wir heute über diese Weitsicht und können aufgrund der hohen Reflexionsfähigkeit und der ausgefeilten Vernunft unsere Ängste vom Sofa aus betrachten. Wir dürfen die Expertise der Forschung miteinbeziehen, dürfen zwischen probaten Methoden wählen, um uns zu beruhigen und mehr Lebensfreude zu erfahren. Und genau darum geht es: die Ängste auf ein minimales, gesundes Maß zu stutzen, um den Blick frei zu halten für die schönen und wertigen Themen im Leben. Allerdings – das zeigt die Praxis – überwuchern bisweilen dunkle Gefühle diese innere Freiheit. Dann wird Angst zur Gewohnheit oder eine Disposition zur Furcht engt den Handlungsrahmen ein.
Psychologen unterscheiden zwischen den beiden Dimensionen:
kontextunabhängige Angst als unangenehmes, diffuses Gefühl, das einer konkreten Grundlage entbehrt, und
kontextabhängigen Ängsten, die sich auf bedrohlich eingeschätzte Situationen oder Objekte beziehen.
Kontextunabhängige Angst als ein unangenehmes, diffuses Gefühl, das sich keiner konkreten Grundlage zuordnen lässt, ist häufig begleitet durch: flachen Atem, trockenem Mund, erhöhtem Herzschlag und Blutdruck, verengen Bronchien und Gefäßen. Der Gesichtsausdruck verändert sich, die Pupillen werden weit, Blässe oder Röte sichtbar, Schweiß tritt auf die Stirn. Der Körper macht sich bereit, um das Überleben zu sichern. Flüchten oder angreifen? So lautet die Frage.
Erst bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass keine Gefahr existiert, sondern nur das Gefühl, irgendwo versteckt sich etwas, das Sie als bedrohlich empfinden und im Moment nicht deuten können. Sie leben in der Erwartung, es könnte etwas Unangenehmes passieren. In dieser Haltung sehen Sie sich in einer nebulösen Welt. Als wäre die Kamera nicht scharf gestellt, nur diffuses Licht ist erkennbar. Auf Dauer lernt das Gehirn, in diesem Zustand zu verharren. Das verändert die neuronale Chemie im Kopf und die Stoffwechsel im Körper.
Gesunde, kurzfristige Angst kann lebenserhaltend sein, weil sie vor Leichtsinn schützt. Diffuse Angst aber raubt die Freude, weil sie zum Dauerzustand wird.
Übung
Der Angst auf der Spur
Sobald Sie eine solche diffuse Angst verspüren, werden Sie sich ihrer bewusst, nehmen Sie sie an und fühlen Sie in sich hinein. Richten Sie Ihren Aufmerksamkeitsfokus auf Ihren Körper: Wie ist Ihre Körperhaltung? Welche Spannung fühlen Sie in den unterschiedlichen Teilen Ihres Körpers? Und dann atmen Sie einige Male tief und ruhig durch. Verändern Sie Ihre Körperhaltung. Spielen Sie mit kleineren und größeren Bewegungen und beobachten Sie, welche Wirkung dies auf Ihre Emotion hat. Strecken Sie sich, machen Sie sich groß und – wenn es die Situation zulässt – nehmen Sie für zwei Minuten die aus dem Sport bekannte Siegerpose des Gewinners ein. Also: Arme hoch, die Brust herausgestreckt und ein fester Stand mit gestreckten Beinen. Sie werden merken, welchen Einfluss die Körperhaltung auf Ihr emotionales Erleben hat und sich ein ängstliches Gefühl mit einer Siegerpose nur schwer vereinbaren lässt.
Vielleicht können Sie spüren, dass das Gefühl der Angst schon kleiner geworden ist. Ein guter Zeitpunkt, auf die Suche nach früh erlernten Überzeugungen und Glaubenssätze zu gehen. Machen Sie sich klar, dass sich Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen gegenseitig bedingen. Wer die Überzeugung hat »Wenn ich einen Fehler mache, werden andere das ausnutzen«, wird ängstlich seinen Aufgaben nachkommen und jegliches Risiko vermeiden.
Kommen Sie also Ihren negativen Grundannahmen auf die Schliche und schreiben Sie auf, welche Gedanken Ihnen in angstvollen Situationen durch den Kopf gehen. Und anschließend nehmen Sie sich diese Gedanken der Reihe nach vor und hinterfragen Sie sie kritisch. Nehmen Sie bewusst eine kritische Perspektive ein und seien Sie Ihr eigener Gesprächspartner in einem hinterfragenden Disput. Stellen Sie sich Fragen wie zum Beispiel:
Wer sagt das eigentlich?
Wann habe ich diese Erfahrung wirklich gemacht?
Welche anderen Erfahrungen habe ich gesammelt?
Denken andere auch so?
Wie nützlich ist der Gedanke für mich?
Welche alternativen Gedanken könnten ebenfalls richtig sein?
Und dann führen Sie sich vor Augen, dass Ihre bisherige Überzeugung nur eine von vielen möglichen war und Sie frei darin sind, jederzeit eine andere Perspektive einzunehmen und sie zu ergänzen, zu relativieren, oder zu ersetzen, ganz so, wie Sie es für sich stimmig und nützlich erleben.
Nur eines ist noch wichtig: Rufen Sie die neu formulierte Überzeugung ein paar Wochen lang mehrmals täglich ab und fühlen Sie dabei die befreiende Kraft dieses Gedankens. So kann er zu einer nachhaltigen Ressource für Sie werden.
Übrigens: Zuversicht und Freude auf eine neue Herausforderung sind die besten Mittel gegen aufkeimende diffuse Ängste.
Kontextabhängige Ängste hingegen werden durch eindeutig definierte Situationen hervorgerufen: Da steht ein bissiger Hund vor Ihnen und bleckt die seitlichen Reißzähne. Da schrillt der Feueralarm im Unternehmen. Auf der Autobahn knallen zwei Autos ineinander. Die in solchen Situationen entstehende Furcht ist die normale Reaktion auf kritische Situationen. Sie suchen Schutz, Sie suchen eine Abwehr, Ihr Körper aktiviert alle Ressourcen. Aber Sie erwarten nicht, dass sich dieses Ereignis wiederholt. Diese Form der Angst bleibt objektbezogen, ist niemals diffus und schützt Sie vor realen Gefahren.
Aber auch kontextabhängige Ängste können zu großen Einschränkungen im Alltag führen. So kann aus einer situativ begründeten Furcht ein Dauerzustand werden. Familien, die ein Trauma erlebten – wie zum Beispiel Krieg oder Flucht – können dieses existenzielle Gefühl von plötzlicher Unsicherheit weitervererben. Generationsübergreifend bleibt das Thema Furcht ein zentraler Punkt, der das Denken und Handeln steuert. Oder die Angst ist zwar auf ein konkretes Objekt oder eine spezielle Situation bezogen, die jedoch objektiv betrachtet keine Gefahr mit sich bringt. Dies ist zum Beispiel bei Ängsten vor öffentlichen Plätzen, Fahrstühlen oder der Begegnung mit fremden Menschen der Fall. Diese Szenarien sollten Sie dringend durchkreuzen! Suchen Sie sich professionelle, also therapeutische Hilfe zum Beispiel in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie. Ein Perspektivenwechsel allein wird in diesem Fall keine Lösung bringen.
Daher richte ich in diesem Buch die Kamera auf die Möglichkeiten, die Sie selbst in der Hand haben, um hinter der störenden Angst die innere Freiheit wiederzuentdecken.
Übung
Kino-Übung: Die Macht des Filmvorführers
Durch diese sehr wirkungsvolle Übung gelingt es Ihnen, Ihre Angst von einer auslösenden Situation zu trennen und zukünftig...