Januar 2017 - Sixpacks und Trainingspläne
-5 °C Außentemperatur. Ich verlasse gemeinsam mit meiner Frau Conny das angenehm warme Fitnessstudio. Gerade eben hatten wir unseren Athleten Andi, Michi und Martin 15 Muffins in den ersten Stock der „New Fitness World“ gebracht. Wie immer machen die Drei noch ihre Bauchmuskeln so richtig platt, schließlich wollen sie für das Oster-Trainingslager in Tirrenia, zehn Kilometer südlich von Pisa, ihren Sixpack auf Vordermann bringen. Dabei hat Andi bereits jetzt einen Waschbrettbauch, um den ihn die meisten Menschen – auch Sportler, egal ob Kraftsportler oder Fußballer - beneiden würden, doch als Leistungssportler, der sechs bis sieben Mal pro Woche trainiert und ganze vorne in Deutschland und Bayern über 400 m Hürden mitmischt, ist das bei Weitem nicht genug. „Ich habe über Weihnachten ein paar Kilo zugenommen, außerdem habe ich in den vergangenen zwei Wochen nur vier Mal was für meinen Bauch getan“, so die für ihn (und mich) plausible Erklärung. Bei Michi verhält sich das Ganze ähnlich, kaum ein Gramm Fett zu viel ziert seinen Athletenkörper. Doch als Läufer – und als bester Kumpel von Andi, der nicht nur ihn, sondern auch mich, immer zu Kraft- und Athletiktraining quasi zwingt – kann die Bauchmuskulatur gar nicht stark und ausdauernd genug sein. Fast mit Grausen erinnere ich mich an Anfang Oktober zurück, als Andi nach seiner verdienten Wettkampfpause wieder ins Training einstieg und ich ihm seinen Trainingsplan präsentierte. Auf diesem Plan standen nicht weniger als vier Stabi-Einheiten (Stabi = Stabilisation = Athletik) pro Woche. Detailliert hatte ich die Stabi-Einheiten auf dem Excel-Sheet notiert, zwölf Übungen mit jeweils 30 – 90 Sekunden Dauer und das alles ohne Pause: Von Liegestütz über Sit-ups, Unterarmstütz (neudeutsch „Planking“) bis zum „Käfer“ war alles dabei, ein komplettes Rumpfkrafttraining also, Bauch, Beine, Rücken, Po, Arme, 15 Minuten Quälerei und Schinderei.
Glücklicherweise war dieses Stabi-Programm nur für Andi und meine anderen Athleten gedacht. Doch er sah das natürlich ganz anders. „Auf geht’s Markus, du weißt ganz genau, dass du auch Stabi machen musst. Also runter auf den Boden und mitmachen. Keine Widerrede.“ Das war Andis unmissverständliche Ansprache, der man nicht viel entgegenzusetzen hat. Die ersten paar Male konnte ich mich noch mit Ausreden wie „ich bin gerade eben 15 Kilometer gelaufen“ oder „ich hab‘ noch von gestern Muskelkater“ oder, wenn Andi misstrauisch wurde und gar keine Ausrede mehr half, „ich muss heute schon 20 Minuten früher nach Hause“ vor dem Mitmachen drücken. Doch nach zwei Wochen und bereits sechs verpassten Athletik-Einheiten plagte mich dann doch mein schlechtes Gewissen, schließlich wusste ich genau, dass ich meine Körpermitte bereits seit Jahren vernachlässigt und im Sommer unter anderem deswegen die Quittung bekommen hatte. Ich war sechs Wochen lang verletzt, beide Knie waren entzündet, einfach überlastet gewesen. Im Oktober 2016 war ich also selbst erst wieder knapp sechs Wochen im Training und gegenwärtig waren meine Kniegelenke nicht komplett schmerzfrei, da konnten regelmäßige Stabi-Einheiten nicht schaden. Andi quälte mich und die anderen Athleten durch die Liegestütz, Sit-ups und dem von uns allen gehassten Unterarmstütz („Planking“). Er sah augenblicklich, wenn einer von uns die Hüfte in Richtung Boden absinken ließ um Kraft zu sparen oder wenn jemand von uns schummelte, indem er sich bei den Sit-ups mit den Händen an den Beinen festhalten wollte. Sofort ertönte es aus seinem Mund „Nick, lass‘ die Hüfte oben“ oder „Arsch hoch Albin, aufgeben gibt’s nicht“. Ich gebe dazu, dass er mich bei den ersten paar Stabi-Einheiten nicht so gut im Blick hatte, denn ab und zu konnte ich einfach nicht mehr bzw. meine Bauchmuskeln versagten ihren Dienst und ich gönnte mir unbemerkt eine kurze Pause von 10 – 15 Sekunden. Doch im Laufe der nächsten Wochen merkte ich, dass mir die Übungen immer leichter fielen – leichter ist vielleicht das falsche Wort, es war nur noch sehr hart, nicht mehr ultrahart – außerdem tat es mir gut: Meine Bauchmuskeln wurden fester, mein Hohlkreuz wurde immer weniger „hohl“ (meine Lendenlordose war nicht mehr so ausgeprägt), meine Hüfte richtete sich ein wenig auf, meine Schultern waren nicht mehr ganz so eingefallen, ich schaffte auch wieder relativ locker 30 Liegestütze und … ich ging aufrechter. Ich wurde also fitter und fitter und war bald der Einzige im Team, der Andi während des Trainings nicht darum bat, die Dauer der Übungen zu verkürzen. Eigentlich hätte das Athletik-Training laut des von mir erstellten Trainingsplans nur 15 Minuten dauern sollen, doch Andi hatte es relativ schnell auf 20 Minuten verlängert und ein paar Übungen hinzugefügt. Selbst in den Weihnachtsferien hatte ich dieses Programm alleine zu Hause mehrmals durchgezogen, wohingegen Andi und Michi zwei Wochen lang mit der Stabi-Einheit ausgesetzt hatten.
Ich konnte also in der ersten Woche des neuen Jahres mit Conny ruhigen Gewissens das Fitnessstudio früher verlassen, zudem hätte ich zusätzlich eine relativ gute Ausrede parat gehabt, warum ich mir die Extrabaucheinheiten sparen konnte. Ich musste unbedingt einen Trainingsplan schreiben. Mein Athlet Max brauchte einen 1.500-Meter-Trainingsplan. Zwar waren es fast noch sechs Monate bis zu den deutschen U23-Meisterschaften in Leverkusen, doch Max würde in zwei Tagen wieder für fünf Monate in die USA verschwinden. Sein sechstes Semester an der FGCU (Florida Gulf Coast University) in Fort Myers würde dort in wenigen Tagen wieder beginnen. Die vergangenen vier Wochen hatte er wieder in Penzberg verbracht und mit unserer Gruppe trainiert. Dabei fand er erstaunlich schnell zu seiner alten Form zurück, nachdem er nach einer erfolgreichen Cross-Saison in den USA eine vierwöchige Trainingspause eingelegt hatte. Trotz der für ihn mittlerweile ungewohnten Wetterbedingungen bei uns am Rande der Nordalpen (Minusgrade, Schnee, Regen, Wind, usw.) hatte er sich wieder recht schnell akklimatisiert und konnte bereits kurz vor Weihnachten mit seiner wahrscheinlich besten Schwellen-Einheit (Laufeinheit an der anaeroben Schwelle) seit mehr als vier Jahren nicht nur sich selbst, sondern auch mich, überraschen: 14 x 1.000 m im Wechsel in einem Durchschnittstempo von 3:24 Minuten pro Kilometer. Die schnellen 1.000er hatte er in etwa in 3:12 Minuten zurückgelegt, die „langsamen“ in 3:35 Minuten. Das Besondere daran war, dass er diese sog. „Canova-Einheit“ (benannt nach dem italienischen Erfolgstrainer Renato Canova) alleine durchziehen musste, da ich Elternsprechtag hatte – ich bin Realschullehrer - und die anderen Athleten entweder krank waren oder schlichtweg nicht mit ihm mithalten konnten. Nochmal zur genaueren Erklärung: Bei dieser Trainingseinheit gibt es keine Pausen, die Läufe gehen nahtlos ineinander über. Man läuft, wie Max bei seinem oben beschriebenen Training, 14 Kilometer am Stück und wechselt nach jeweils 1.000 Metern das Tempo. Max war also in guter Form und motiviert für die nächsten Monate. Da es sein letztes Jahr in der Altersklasse U23 sein würde, wollte er die Chance nutzen, sich für die deutschen Meisterschaften in dieser Altersklasse zu qualifizieren. Dafür müsste er im Sommer die Qualifikationsnorm von 3:57 Minuten unterbieten. Eine Zeit, die nur zwei Sekunden unter seiner Bestzeit liegt, die er bereits drei Jahre zuvor, noch als Jugendlicher, gelaufen war. Zwar hatte er an der Uni in Fort Myers mittlerweile eine eigene Trainerin, die nur für das Crosslauf-Team der FGCU angestellt war und die Pläne für die Läuferinnen und Läufer erstellte. Allerdings hatte sich Max im vergangenen Semester mit seiner Trainerin zerstritten, da er ihre unkonventionellen Trainingsmethoden (dazu später mehr) kritisiert und oftmals seinen eigenen Weg gewählt hatte. Diese Auseinandersetzung hatte ihm viel Ärger eingebracht, doch bei den Wettkämpfen demonstrierte er dann seine Stärke verhalf so maßgeblich seinem Team zum besten Ergebnis in der Geschichte seiner Universität. So ganz nebenbei wurde Max im Monat Oktober auch zum Athleten des Monats der ganzen Universität gewählt, was nicht nur an seiner sportlichen Leistungssteigerung lag, sondern auch daran, dass er in seinem Studienfach Psychologie zu den Besten seines Jahrgangs zählte.
Vor einer Woche hatte er mich dann gefragt, ob ich ihm denn nicht einen Trainingsplan erstellen könnte. Ich war von seiner Anfrage sehr erfreut, schließlich hatte ich ihn, bevor er in die USA gegangen war, bereits einige Jahre trainiert und ihn in den C-Kader des Deutschen Leichtathletik Verbandes gebracht. Damals wurde er als 17-Jähriger Vierter bei den deutschen Jugendmeisterschaften über 3.000 m (8:32 Minuten), konnte aber dann an diese Leistungen in den nächsten vier Jahren nicht mehr anknüpfen. In meinem Kopf drehte sich also bereits auf der Heimfahrt vom Fitnessstudio alles um diesen Trainingsplan: Wie viele Kilometer pro Woche sollte ich für ihn einplanen? Wie sollte ich die Belastungswochen mit den Regenerationswochen kombinieren? Wie sollte ich die einzelnen Trainingsblöcke aufteilen? Wie lange sollte der Long Jog (der lange Dauerlauf) am Wochenende sein? Wo liegt derzeit seine anaerobe Schwelle? Ab wann sollte ich spezifische Tempoläufe für die 1.500 m in seinen Trainingsplan integrieren? Wie viele Athletikeinheiten pro Woche sollte ich ihm zumuten bzw. antun? Wie …? Da fiel mir ein, dass ich ja Max gestern versprochen hatte, ihn heute noch anzurufen, schließlich wollten wir uns für morgen zu einem letzten gemeinsamen Dauerlauf verabreden. Ich fragte also Conny, die neben mir im Auto saß, wann ich denn mit Max am besten laufen sollte, schließlich wollten wir morgen ins Deutsche...