Sitzbeschwerden – ein Nervenproblem
Alle Welt, darunter auch etliche Rückentherapeuten, spricht heute über die chronischen Rückenbeschwerden, die beim Sitzen, speziell bei langer Sitzarbeit am Computer, entstehen. Da dieses gravierende Problem aber häufig lediglich aus der Perspektive der Anatomie betrachtet wird, schränkt man sich auf eine Sichtweise ein, die zu eng und rein auf die mechanische Komponente ausgerichtet ist. Selbstverständlich spielt der überaus komplizierte Aufbau der Wirbelsäule eine nicht unwesentliche Rolle bei dieser Volkskrankheit, die inzwischen zu einem Kernproblem in der Medizin geworden ist. Aber allein die Tatsache, dass durchgreifende therapeutische Erfolge bisher ausgeblieben sind, belegt die Aussage, dass zur Lösung des Problems bisher immer noch nicht die schlüssige Antwort gefunden worden ist, die der Wahrheit am nächsten kommt.
Natürlich ist das lange Sitzen, betrachtet man es aus dem Blickwinkel der Wirbelsäule mit all ihren Gelenken, Bändern, Muskeln und Bandscheiben, zunächst eine biomechanische Angelegenheit. Dem steht aber das gesamte Nervensystem gegenüber, das zum einen aus der Perspektive des Gehirns, zum anderen aus der der peripheren Nerven in Augenschein genommen werden muss. Insbesondere der durch langes Sitzen hervorgerufene chronische Rückenschmerz ist primär eine Einstellungssache, bedingt durch den Ablauf unserer gedanklichen Wahrnehmung. Und wenn die täglichen Gedanken nur noch um die Wirbelsäule mit ihren Sitzbeschwerden kreisen, wissen wir dank der Erkenntnisse der neuen Neurophysiologie: Unser Gehirn ist durchaus in der Lage, den chronischen Rückenschmerz zu lernen, ihn im Gedächtnisspeicher zu verankern, sodass die objektiven Befunde häufig deutlich hinter den subjektiven Beschwerden zurückbleiben.
Das ist die eine Seite der Medaille. Werfen wir unseren Blick auf die andere Seite, kommt die Anatomie ins Spiel, die klar zeigt, dass die Nerven in ihren peripheren Verläufen das druckempfindlichste Gewebe im Körper darstellen. Eine überaus wichtige Feststellung, die jeder von uns schon mehrmals im Leben am eigenen Leibe machen konnte, denken wir nur an den brennenden Schmerz an der Innenseite des geprellten Ellbogengelenks mit Signalwirkung bis in die Hand hinein. Aus gutem Grund spricht der Volksmund vom Musikantenknochen. Namensgebend ist ein singender Schmerz an der Innenseite eines Ellbogengelenkes, intensiv wirksam und lange in unserer Erinnerung haftend!
Das empfindliche Ulnarisrinnensyndrom
In der Handchirurgie kennt man das Ulnarisrinnensyndrom, das häufig einen »Golferellbogen« überlagert, nicht selten aber allein schon dadurch ausgelöst werden kann, dass nachts der Arm unter dem Kopf liegt. Möglicherweise wird dadurch der an der Innenseite des Gelenks liegende Ellennerv derart traumatisiert, dass ein Nervenkompressionsschmerz die Folge ist. Auch der unsachgemäße Büroschlaf am Mittag mit den abgestützten Armen auf der Tischplatte kann ein Ulnarisrinnensyndrom auslösen, weil der Ellbogennerv (Nervus ulnaris) an dieser Stelle sehr oberflächlich verläuft und äußerst druckempfindlich reagiert.
In der Handchirurgie wird dieser Schaden nicht in jedem Fall sofort operiert, oft genügt ein schützender Watteverband um das Gelenk herum, und das traumatisierte Nervengewebe erholt sich in wenigen Tagen.
Der Schamnerv, der unseren Sitzboden so empfindlich macht
Periphere Nerven existieren aber nicht nur in den Armen und Beinen, sondern auch in der Sitzfläche unseres Beckenbodens, auch wenn diese Region mit großen Muskelgruppen besetzt ist, denken wir nur an die kräftigen Gesäß- und Rückenmuskeln. Der Beckenboden gleicht mehr einer Muskelplatte, obwohl hier wichtige Lücken anzutreffen sind, durch die es häufig zu Harnblasenvorfällen, ja sogar zu Ausstülpungen von Darmschlingen oder gar der Gebärmutter kommen kann.
Beherrscht wird die gesamte Sitzfläche nicht etwa von einem einzelnen Nerv, sondern von einem ganzen Nervengeflecht, dem Plexus sacralis, aus dem der Plexus pudendus und schließlich der überaus druckempfindliche Pudendusnerv, unser Schamnerv, hervorgeht.
Der Pudendus- oder Schamnerv befindet sich an einer ähnlich exponierten Position wie der Ellennerv, wobei der Pudendusnerv sogar von einer inneren und einer äußeren Druckstufe erreicht werden kann. [2]
Im menschlichen Körper gibt es zwei grundlegende Entspannungs- und Versorgungszentren, die direkt mit unserem Energie- und Überlebenszentrum, dem vegetativen Nervensystem, in Verbindung stehen:
•Das obere Zentrum mit dem zehnten Hirnnerv Vagus, der aus dem Hirnstamm entspringt, wobei er durch den dritten, siebten und neunten Hirnnerv angesteuert werden kann, die neben motorischen Fasern auch gleichzeitig parasympathische Fasern aufweisen. Das Einflussgebiet sind die Brust- sowie die oberen Bauchorgane.
•Das untere Zentrum im Kreuzbeinbereich mit dem Plexus sacralis, aus dem der Pudendusnerv hervorgeht und der den unteren Bauchraum, die Beckenorgane und den gesamten Beckenboden parasympathisch und motorisch versorgt.
Muskelaktivitäten und Tiefenentspannung
Das Bedeutsame am Vagus- und Pudendusnerv ist die Tatsache, dass hier nicht nur motorische Fasern, sondern auch parasympathische Entspannungsfasern zusammen verlaufen, sodass ganz spezielle Muskelaktivitäten gleichzeitig eine Tiefenentspannung auslösen können. Die Vagus-Stimulation funktioniert aus dem Gesichts- und Halsbereich heraus, die Reizung des Nervus pudendus steht mit Muskelaktivitäten des Beckenbodens im Zusammenhang. Doch dazu später mehr.
Sympathikus und Parasympathikus
Stress und stressbedingte Erkrankungen prägen unsere Gegenwart. Dieser fehlerhafte Kreislauf ist lebensbestimmend, weil durch die hohe Dichte zentral zu verarbeitender Sinnesreize gegenwärtig der Kampf- und Fluchtnerv Sympathikus eindeutig die Dominanz im vegetativen Nervensystem aufweist.
Zwei Befehlszentralen bestimmen das vegetative Nervensystem, unser Überlebenszentrum: zum einen das sympathische Kampf- und Fluchtsystem, zum anderen das parasympathische Regenerations- und Entspannungssystem.
Der Sympathikus sichert unsere Existenz durch Kampf und Flucht, gefragt sind körperlich-geistige Antworten, die den ganzen Menschen erfordern. Schnelle und ganzheitliche Reaktionen sichern diesen Alarmzustand, der einen hundertprozentigen Einsatz auslöst, eine allgemeine Mobilmachung in Gang setzt, die uns stets wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft, überfallartig, total, oft sogar vernichtend.
Sein Gegenspieler, der Parasympathikus, hat als Regenerationsnerv alle Zeit der Welt. Er muss von uns persönlich in Aktion versetzt werden, und er begnügt sich auch mit Teilergebnissen, d. h., er fordert nicht in jedem Fall den ganzen Menschen.
Der Sympathikus ist der Kämpfer in uns, der Parasympathikus dagegen der vornehme Gentleman, der sich immer ein bisschen ziert und regelrecht auf die Bühne unseres Lebens gedrängt werden muss. Der wichtigste Nerv im parasympathischen System ist der zehnte Hirnnerv, der Vagus, der immerhin 75 Prozent aller parasympathischen Nervenfasern besetzt, weswegen der Parasympathikus gerne mit dem Vagus gleichgesetzt wird.
Das zeigt auch klar die Anatomie: Der Sympathikus gleicht einer kompakten, ganzheitlichen Kampfeinheit, während der Parasympathikus praktisch zweigeteilt ist, aufgeteilt in das obere, nervöse Leitsystem, das mit seinem Kerngebiet im Hirnstamm angesiedelt ist und aus dem der wichtige Vagusnerv hervorgeht. Das untere, nervöse Kreuzbeingeflecht bildet den Plexus sacralis, der sich im Plexus pudendus fortsetzt und schließlich im Pudendusnerv endet.
Der Sympathikus erreicht sein Zielgebiet aus dem Rückenmark heraus, wählt als Zwischenstation zahlreiche Ganglien, die im Grenzstrang neben der Wirbelsäule angesiedelt sind. Der Parasympathikus hat sein Kerngebiet im Hirnstamm. Seine Ganglien sind in Organnähe gleichmäßig zwischen Kopf, Hals, Brust- und Bauchraum verteilt. [3]
Die Anatomie spricht immer eine klare Sprache. Und wenn wir den Stress der Gegenwart unter Kontrolle bringen wollen, müssen wir uns dieser Tatsache stellen. Fakt ist, dass wir gegenwärtig unter Einbeziehung aller meditativen Entspannungsverfahren nur ca. 75 Prozent Abwehrkraft des Parasympathikus gegen den Sympathikus nutzen. Diese 75 Prozent ergeben sich allein aus der Abbildung durch die Stimulation des Vagus mit seinem Einflussgebiet auf die obere Körperhälfte, auf Herz, Lunge und Bauchraum.
Der durch den Sympathikus hervorgerufene Stress wirkt aber immer total zu 100 Prozent, unsere aktuelle Stressantwort liegt dagegen nur bei 75 Prozent. Allein das belegt, warum sich aktuell an der Stressfront kaum etwas Grundsätzliches ändert. Die stressbedingten Erkrankungen sind nach wie vor auf dem Vormarsch!
Stress trifft also den Sympathikus immer total, ganzheitlich zu 100 Prozent. Dem stellt die parasympathische Entspannungsfront aber nur 75 Prozent Gegenkraft entgegen, eine Rechnung, die nie aufgehen kann.
Dieser Vorgang ist mit einem Ruderboot in einem Fluss vergleichbar. Das Wasser fließt mit einer Fließgeschwindigkeit von 100 Prozent. Sie steuern entgegen, bringen es in Ihrem Boot aber nur auf 75 Prozent Gegenleistung. Was wird passieren? Sie kommen nicht nur nicht von der Stelle, Sie bewegen sich sogar rückwärts!
Neue Hoffnungssignale sind zu vernehmen, denn unser Körper verfügt über gewaltige Selbstheilungskräfte, die nur entdeckt und...