Das Zeitalter des Anthropozäns
Das Bestreben, über diese unkontrollierbaren Kräfte die Oberhand zu gewinnen, bedurfte vieler Jahrhunderte, um Erfolge zu zeitigen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten jedoch hat sich diese Situation nach und nach gewandelt. Heute hängt umgekehrt das Überleben und Wohlergehen des Planeten mit all seinen Lebensformen vom Menschen ab. Trotzdem verhalten wir uns noch immer so wie unsere Vorfahren, ohne zu erkennen, dass heute wir es sind, die für die weitere Entwicklung des Lebens auf der Erde die Verantwortung tragen. In früheren Epochen galt die größte Sorge dem Wohlergehen unserer eigenen Spezies, die wie gesagt der ständigen Bedrohung durch Naturgewalten ausgesetzt war, denen der Mensch ohnmächtig gegenüberstand. Heute befinden wir uns in der umgekehrten Situation: Unser Planet mit all seinen Lebewesen ist von uns abhängig, aber bisher waren wir nicht in der Lage, die neue Verantwortung gänzlich zu erfassen, die uns damit auferlegt wurde oder die wir uns selbst auferlegt haben. Unsere anthropozentrische Weltsicht erweist sich als zerstörerisch für die Umwelt und alle Lebewesen. Damit nicht genug, wird sie schließlich zur Bedrohung für unsere eigene Zukunft, wenn wir nicht aufwachen und uns unserer heiligen Pflicht stellen, für das Wohlergehen aller Lebensformen Sorge zu tragen.
Im Großen und Ganzen sind all unsere sozialen Systeme und Strukturen Überbleibsel aus einer Zeit, als wir uns ganz auf unsere eigenen Bedürfnisse konzentriert haben, ohne Rücksicht auf andere Spezies und die Natur zu nehmen. Wenn wir aber die Realität des aktuellen Erdzeitalters namens Anthropozän[2] nicht anerkennen, mit dem uns die Verantwortung für den Planeten übertragen ist, werden diese Strukturen und Systeme unsere eigene Vernichtung bewirken. Indem wir die Natur zerstören, stellen wir unser eigenes Überleben infrage.
Aus diesem Grund darf sich kein neues Entwicklungsparadigma wie das Bruttonationalglück allein auf das Glück aller Menschen konzentrieren, sondern muss auch das Wohlergehen aller anderen Lebensformen miteinbeziehen.
Die meisten alten Kulturen wussten um das enge Verwobensein und die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebensformen, einschließlich des Menschen, und waren sich ebenso der Heiligkeit der Elemente bewusst. In ihren Augen bestanden diese nicht nur aus Atomen und Molekülen oder waren lediglich Ressourcen zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, sondern lebendige Wesen mit einem eigenen Recht auf Leben und Entfaltung. Diese Verbundenheit mit der Natur und dem Planeten muss dringend zu neuem Leben erwachen, wenn wir eine glückliche Gesellschaft mit glücklichen Menschen erschaffen wollen. Wir können es uns nicht mehr leisten, unser Augenmerk allein auf die menschlichen Bedürfnisse zu richten, sondern müssen lernen, diese Bedürfnisse als eine Teilmenge in der Gesamtheit der Bedürfnisse aller Lebewesen zu begreifen.
Wie ich schon in der Einführung erwähnt habe, war ein wesentlicher Grund, warum ich meine Arbeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zugunsten des Umzugs nach Bhutan aufgab, die Einsicht, dass meine humanitäre Arbeit niemals die tieferen Ursachen der Probleme in Angriff nahm, deren Zeuge ich in den Konflikt- und Kriegsgebieten wurde. Die Krisen und die Art, wie sie sich zeigten, waren nur die Spitze des Eisbergs. Sie waren lediglich Symptome tiefer liegender kollektiver oder sozialer Übel, die bei dem Versuch einer Konfliktlösung im Allgemeinen unberücksichtigt blieben. Diese tieferen Ursachen lassen sich vor allem auf einer strukturellen und systemischen Ebene ausmachen, in der Art, wie wir uns in den vergangenen Jahrzehnten gesellschaftlich, wirtschaftlich und in unseren internationalen Beziehungen organisiert haben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen Europa und ein großer Teil der restlichen Welt in Schutt und Asche. Die Infrastrukturen waren weitgehend zerstört, die Wirtschaft lag am Boden, und die politischen Systeme versuchten, sich eine neue Basis in einer Welt zu schaffen, die nun in zwei miteinander konkurrierende Systeme gespalten war: die kommunistische Welt mit der Sowjetunion und China auf der einen Seite – und die sogenannte »freie Welt« mit den USA und Westeuropa auf der anderen. Die materiellen Bedürfnisse auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs waren immens, und die Notwendigkeit zum Wiederaufbau führte zwangsläufig zu einer starken Konzentration auf das wirtschaftliche Wachstum.
Im Jahr 1989 trat die Welt in eine neue Ära ein. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion eröffneten sich neue Möglichkeiten. Offenbar waren wir damals aber nicht in der Lage, nachhaltige und innovative Lösungen zu finden, die sich in diesem entscheidenden Augenblick der Geschichte hätten zeigen können. Zu viele Ökonomen und Politiker interpretierten den Untergang des Sowjetimperiums als einen Sieg des kapitalistischen Systems, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass es die Selbstzerstörung dieses konsumorientierten kapitalistischen Systems bedeutet, wenn es sich weltweit ausdehnt. Der Grund dafür liegt in dem fundamentalen Widerspruch zwischen der Vorstellung von einem unbegrenzten Wirtschaftswachstum und einem begrenzten Planeten. Die Krise, die wir gegenwärtig in vielen Bereichen erleben – ob in Wirtschaft, Ökologie und Politik oder in Form von Kriegen und Hungersnöten, um nur einige zu nennen –, ist aus meiner Sicht daher symptomatisch für ein System, das sich selbst überlebt hat und in eine Sackgasse geraten ist.
Bevor ich jedoch auf die Analyse der Probleme zu sprechen komme, die sich uns auf der Systemebene darstellen, möchte ich auf eine noch tiefere Ursache der Probleme eingehen, die wir gegenwärtig erleben, nämlich die Denkweise, der diese Systeme ihre Entstehung verdanken. All die gesellschaftlichen Systeme, in denen wir leben, wurden von uns Menschen als Manifestationen unseres eigenen Bewusstseins geschaffen: Sie sind Ausdruck der Art, wie wir denken, fühlen, handeln, miteinander umgehen, wie wir die uns umgebende Welt interpretieren, und der Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, um die Realität, in der wir leben, zu erklären. Gesellschaftliche Systeme sind weder gottgegeben, noch beruhen sie auf Naturgesetzen; sie sind menschengemacht und können daher verändert und transformiert werden. Um aber irgendein System nachhaltig verwandeln zu können, müssen wir zuerst unsere Denkweise, unser Bewusstsein transformieren. Um Einsteins berühmten Ausspruch zu zitieren:
»Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.«
Die ersten beiden Fragen, denen ich mich zuwenden möchte, lauten also: Welche Denkweise ist es, die diese Probleme geschaffen hat? Und noch wichtiger: Wie können wir unsere Art zu denken verändern?
Viele Denker und Philosophen, die in ihre Lehren eine spirituelle Dimension miteinbeziehen, beschreiben die Geschichte der Menschheit als eine Evolution des Bewusstseins. Auch wenn sie in unterschiedlichen Denktraditionen stehen und unterschiedliche Systeme entwickelt haben, stimmen Rudolf Steiner, C. G. Jung, Sri Aurobindo, Pierre Teilhard de Chardin, Jean Gebser und Ken Wilber doch in einem Punkt überein: dass die Menschheitsgeschichte eine Manifestation der Evolution des Bewusstseins ist.
Ich will nicht versuchen, hier ein umfassendes Bild dieser Evolution zu zeichnen. Auf eine Dimension jedoch, die eine zentrale Rolle spielt beim Verständnis der Situation, der wir uns heute als Menschheit gegenübersehen, möchte ich dabei hinweisen. Alle traditionellen Kulturen und Religionen haben eine bestimme Vision oder Vorstellung davon geschaffen, was es heißt, Mensch zu sein, ein Narrativ, das wir uns selbst und anderen – und über die Erziehung auch künftigen Generationen – erzählen und in dem es darum geht, wer wir sind und was es mit unserem Leben auf der Erde auf sich hat. Die verschiedenen Traditionen verwenden dabei unterschiedliche Worte, Bilder und Symbole und vertreten unterschiedliche Ideen, aber allen gemeinsam ist die Auffassung, dass der Mensch doppelten Wesens ist: Wir haben einen physischen Leib, der in der Welt der Materie verwurzelt ist, und wir haben eine spirituelle Dimension, die uns mit einer höheren Welt verbindet.
Innerhalb dieser Traditionen war man sich auch bewusst, dass Menschen einen inneren Verwandlungsprozess durchlaufen müssen, wenn sie Wissen und Weisheit erwerben wollen. Wissen wurde dabei niemals als etwas rein Rationales oder Intellektuelles betrachtet, sondern hatte immer auch eine ethische Dimension, zu der Herzensqualitäten gehörten wie Empathie, Mitgefühl, Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Fürsorglichkeit. Wissen und Weisheit waren nicht zweierlei. Ab dem Zeitalter der Aufklärung änderte sich diese Auffassung allmählich, bis die Einstellung gegenüber Wissen und Weisheit im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Vorherrschaft der Naturwissenschaften eine radikale Wendung erfuhr. Von nun an verlagerte sich die Zielrichtung beim Wissenserwerb von der inneren Verwandlung des Subjekts auf das Verständnis des Objekts. Mehr noch: Der Prozess des Wissenserwerbs musste von jeder Einmischung des Subjekts möglichst freigehalten werden – denn Subjektivität wurde nun als etwas angesehen, das im Widerspruch zu echtem Wissen stand, zu dem, was als objektiv galt. Zwar konnte die moderne Wissenschaft aufgrund dieser neuen und andersartigen Methodologie gewaltige Fortschritte und Erfolge erzielen, aber das hatte seinen Preis. Da ethische und humanistische Werte von wissenschaftlicher Erkenntnis ausgeschlossen waren, konnten die von der Wissenschaft erzielten Ergebnisse potenziell die größten Zerstörungen bewirken.
Die Grenzen und Gefahren einer...