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Ein halbes Jahr zuvor und in einer gänzlich anderen Zeit, denn noch herrscht Demokratie in Deutschland. Zum Mittag hin gibt es Unruhen an der Uni, wieder einmal – 1932, Herbst, ein Braunhemd hat Hakenkreuzbänder an die Kränze des studentischen Ehrenmals gehängt, ein Linker sie wieder abgeschnitten. Hasserfüllt stehen sich die verfeindeten Lager vor dem Hauptgebäude der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gegenüber, nur durch eine schmale Gasse getrennt, »bereit, sich jeden Augenblick aufeinanderzustürzen, wenn von irgendeiner Seite ein provozierendes Wort fiel«, wie sich ein Studienfreund Harros erinnert.[15] Auf der einen Seite positionieren sich die roten Studenten, die Sozialisten und Kommunisten und das kleine Häuflein der bürgerlichen Demokraten. Von rechts schreien die Nazis und die mit ihnen verbündeten nationalistischen Corpsstudenten ihre Kampflosungen gegen »Juda« und »das System«. So oft schon ist der Unterrichtsbetrieb in dieser unsicheren Weimarer Republik wegen politischer Proteste lahmgelegt worden. Auch dieses Mal ringt der Rektor hilflos die Hände, redet vergeblich auf beide Seiten ein.
Harro Schulze-Boysen ist ein junger Student der Staatswissenschaften und hat an diesem Tag ausgeschlafen in der rotgrauen garnison, einer der ersten WGs in Deutschland, in einer Achtzimmerwohnung in Kreuzberg untergebracht, in der Ritterstraße: keine Möbel, alles wird geteilt, Abwasch, Essen, Geld. Es ist ein sozialrevolutionäres Experiment von Eberhard Köbel, besser bekannt unter dem Pseudonym tusk. Er führt die »dj.1.11« an, eine Deutsche Jungenschaft, die Folgendes propagiert: verschwörung gegen verkrustete strukturen, unabhängigkeit, eigenständiges freies jugendleben, provokation gegen die alten herren, autonomes jugendreich: fahrt – kleidung – sprache – grafik – kleinschrift, ein gradliniger stil, weg mit sämtlichen übrig gebliebenen Resten an Miefigkeit der wilhelminischen Zeit. Neben Harro liegt Regine, seine »Räuberbraut«, eine schlanke junge Modedesignerin aus ehemals reichem Haus. Sie streicht sich die rotblonden Haare aus dem Gesicht, nur etwas Lippenstift trägt sie, sonst nichts, sagt aber plötzlich etwas derart Schockierendes, verliebt wie sie ist, dass Harro aufsteht, den notorischen blauen Pulli überstreift, erst mal das Weite sucht und in die Küche schlurft, wo er nach Essbarem fahndet, aber nichts findet, nur zwei trockene Brötchen. Egal, das Streben nach Besitz gehört sowieso überwunden; immerhin gibt’s einen guten Tee dazu. Ob er ein Kind wolle …? Hängt die Räuberbraut etwa bürgerlichen Idealen nach?
Harro ist dreiundzwanzig und will die Gesellschaft radikal umgestalten, zusammen mit Henry Erlanger und den anderen. Er dient nicht der Zukunft eines, sondern vieler Kinder – der Kinder von ganz Europa, der ganzen Welt. Da gibt es doch genug zu tun, zumal in der verheerenden Krise weltweit: Notstandsküchen überall, Bankenkollaps, die Mieten unbezahlbar, sechs Millionen Arbeitslose allein in Deutschland, Depression und Hoffnungslosigkeit quer durch alle Schichten, der drohende Sturz in den Abgrund ständig zu spüren. Eine ganz neue Gesellschaft muss her, die Lage ist polarisiert, die Parteien haben abgewirtschaftet und repräsentieren das Volk nicht mehr.[16] So empfindet Harro. Aber was soll an die Stelle der Parteien treten? Was soll das überhaupt sein, das Volk? Harro denkt mit seinem jungen Kopf viel zu komplex, um einfache Lösungen anbieten zu können. Noch ist seine Zielsetzung diffus, und er liebäugelt auch mit rechten Positionen, unterstützt beispielsweise den Kampf gegen das »Versailler Diktat«, das Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg mit hohen Reparationszahlungen belastet. Es sind solche Querfrontgedanken, die auch sein Hirn durchziehen, antiparlamentaristische Impulse, alles noch unausgegoren. In dieser Spätphase der Weimarer Republik sind die ideologischen Fronten nicht immer eindeutig, und wenn es heißt, dass im Gegner Texte aus allen Lagern veröffentlicht werden, führt das dazu, dass auch solche von Ernst Niekisch darin stehen, von Karl Otto Paetel und anderen Nationalbolschewisten oder von oppositionellen Nazis aus der SA. Auch Kommunisten, Abtrünnige der offiziellen Linie der KPD, kommen hier zu Wort, ebenso Katholiken oder auch der Vorsitzende des Berliner »Reichsbanners«, einer sozialdemokratischen Wehrorganisation. Es ist eine wüste Gemengelage, die am ehesten noch mit national bis revolutionär umschrieben werden kann. Wie soll man da verantwortungsvoll ein Kind großziehen, wo es so viel Grundsätzliches zu klären gilt? Dass Regine das nicht versteht! Harro blickt durch den Flur in das große Zimmer, wo sie auf der Matratze liegt, verführerisch. Doch er muss los, an die Uni.
Die Elektrische ist proppenvoll, Linie 88, Gören wuseln, Gerüche nach Schweiß und Tabak hängen in der Luft, Werbeplakate an den gelackten Türen aus hellem Holz: KAKADU – die beste Bar am Kurfürstendamm. Berlin weiß: Man kauft gut bei Karstadt. Ein Tippelbruder lehnt gegen ein Fenster und schläft, eine ausgemergelte Frau um die fünfzig starrt den blonden Harro mit seinen eins fünfundachtzig, dem sportlichen Körper, den blitzenden blauen Augen unverhohlen an. IA Grundseife – Philipp Kochmann, Grundseifen-Siederei. Pferdefuhrwerke, Droschken, Lastkraftwagen. Nazi & Junker – Schluss damit! Wählt Sozialdemokraten! Eine Schlange vor einem Arbeitsamt, die Leute überraschend gut angezogen, anders die Morphinisten dort auf einer Bank, mit großen, dunklen Augenhöhlen und schmächtigen Körpern: wie bestellt und nicht abgeholt, süchtig noch vom Krieg. Die fortschreitende Entwicklung: OSRAM. »Europa war die Uhr der Welt. Sie steht«, hat Harro letztens im Gegner geschrieben: »Die Räder dieser Uhr fangen an zu rosten. Ein Fabriktor nach dem anderen schließt.«[17] Überall wogen die ökonomischen Prozesse, die den Kartellen eine Macht gestatten, von der in der Weimarer Verfassung kein Wort geschrieben steht. Der Kapitalismus gehört weg! Aber der Kommunismus taugt auch nichts: zu starrer Apparat, moskauhörig. Nach Sowjet-Rußland!, ruft eine Werbeannonce: Billige Studienreisen für Ärzte, Pädagogen, Arbeiter. INTOURIST. »Ich stelle nochmals fest, dass ich kein Kommunist bin.« So hat er es seiner verunsicherten Mutter Marie Luise mitgeteilt, die einen bürgerlichen Haushalt in Mülheim an der Ruhr führt: »Die kommunistische Partei ist eine Ausdrucksform der sozialistischen Weltbewegung, die bolschewistische Partei zum Beispiel die typisch russische. Für Deutschland daher nicht annehmbar.«[18] Es ist eine wirre Stadt, durch die die 88 sich schlängelt. Die »Großstadtkrankheit« grassiert, wie Harro es nennt, Friedrichshain wird wegen seiner Gangsterbanden das Chicago Berlins genannt – eine verwirrte Zeit, die experimentierfreudig ist, in alle Richtungen.[19] Bietet vielleicht der Personalismus einen Ausweg, wie ihn Harros französische Philosophenfreunde von der Pariser Monatsschrift Plans propagieren? Der Personalismus: ein komplettes revolutionäres System, das sich als kritische Alternative zu kommunistischen und faschistischen Theorien versteht und den liberalen Individualismus ersetzen will durch eine Konzentration auf die Person. Nie dürfe der Staat das höchste Gut darstellen, nie dürfe der Mensch zum Individuum herabgestuft werden. Das klingt ebenso einleuchtend wie schwammig, da die Mechanismen zur Umsetzung dieser Ziele unklar bleiben, aber das stört Harro nicht. Für ihn gehört es dazu, dass diese Bewegung des Personalismus, der er sich vage zugehörig fühlt, offen ist und ebendies: eine Bewegung, mit der Vorstellung einer permanenten Revolution bei offenem Weltbild und sozialistisch orientierter Wirtschaft. Ein Weg, der die Freiheit der Entscheidung als Grundprinzip menschlichen Lebens postuliert. Belle-Alliance-Platz, Landwehrkanal, Anhalter Bahnhof. Doch was heißt das eigentlich, Freiheit der Entscheidung? Im Personalismus soll der Mensch zum Autor seiner eigenen Lebensgeschichte werden. In Gesprächen mit den jungen französischen Intellektuellen aus dem Ordre Nouveau hat Harro die Idee einer neuen europäischen Ordnung diskutiert, Europa als ein Europa der Regionen visioniert. Es sollte das Vorrecht der Jugendgruppen in Deutschland und Frankreich sein, den nationalistischen Tunnelblick der Alten und vor allem der Regierenden zu überwinden.
Um die Freundschaft zu vertiefen, die nationalen Verkrustungen zu überwinden, hat Harro ein Jugendtreffen organisiert, im Februar ’32 war das gewesen, an der Uni in Frankfurt. Ca. 100 Teilnehmer aus Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien und der Schweiz hatten teilgenommen, Heißsporn Harro in seiner Rede die Abschaffung des kapitalistischen Systems und die Liquidierung des »Diktats« von Versailles gefordert. Statt einer glatten Beseitigung der Verträge hatten die französischen Teilnehmer daraufhin vorgeschlagen, eine neue europäische Ordnung zu schaffen, um Deutschland einzubetten. Es war eines der wenigen öffentlichen Foren abseits der Treffen hochrangiger Politiker, bei dem sich Franzosen und Deutsche überhaupt zusammensetzten, wo doch beide Seiten ansonsten in Schützengrabendenken verharrten. Doch die Diskussion war schwierig verlaufen, die deutsche Seite hatte sich heillos zersplittert...