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Mit Dolchen sprechen

Der literarische Hass-Effekt

AutorKarl Heinz Bohrer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783518751466
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Gerade in letzter Zeit hat der »Hass«-Begriff eine Karriere an öffentlicher Bedeutung hinter sich gebracht. In der publizistischen und sozialhistorischen Kritik an der in Deutschland und Europa verbreiteten Reaktion auf die Flüchtlingskrise rückte er gemeinsam mit Begriffen wie »Identität« und »Rassismus« in die vorderste Linie des Diskurses.

Doch Karl Heinz Bohrers Studie in zwölf Kapiteln sucht im literarischen Hasseffekt etwas ganz anderes. Nicht um den Hass als die begleitende Emotion eines politisch-weltanschaulichen Programms geht es ihm, sondern einzig um den literarischen Ausdruckswert, um die Rolle des Hasses als eines Mediums exzessiv gesteigerter Poesie. Dabei zeigt sich eine privilegierte Rolle von Charakteren des Hasses und ihres Ausdrucksvermögens in der Literatur, an deren Vorbild sich die Expressivität literarischer Sprache selbst entwickelt.

Bohrers Studien führen vom Beginn der Neuzeit, von Shakespeare, Kyd und Marlowe, über Milton, Swift, Kleist, Baudelaire, Strindberg und Céline bis in die Gegenwart: zu Sartre, Bernhard, Handke, Jelinek sowie Brinkmann und Goetz. Und zu Houellebecq, in dem die bösartige Affirmation des Hassenswerten, eine Zeitgenossenschaft ohne Hoffnung, kulminiert.

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<p>Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in K&ouml;ln, war Literaturkritiker, Herausgeber, Wissenschaftler, Verfasser vieler Werke um die zentrale Idee des Momentanismus, der &raquo;Pl&ouml;tzlichkeit&laquo;. Langj&auml;hrige Aufenthalte in Frankreich und England als bewusste Erfahrung der &raquo;Fremde&laquo;. Hochschullehrer in Deutschland, Frankreich und den USA. Als scharfz&uuml;ngiger, auch polemischer Zeitkritiker stand er immer wieder im Zentrum heftiger Diskussionen. Bohrer verstarb am 4. August 2021 in London.</p>

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Leseprobe

Kyds und Marlowes Hass-Effekte


Anstatt einer Einleitung

Die Darstellung des Hasses ist ein Effekt des literarischen Stils. Das ist zu erkennen bei der Unterscheidung von imaginativer und diskursiver Hass-Rede. Erstere ist auf die Gefangennahme unserer Phantasie aus, letztere auf die Besetzung unseres Denkens durch politisch-ideologische Stereotype. Was es mit der imaginativen Hass-Rede in der großen Literatur auf sich hat, was im Inneren ihres Helden psychisch vorgeht, ist ein leicht zu verfehlender Vorgang, abhängig vom historischen Status des Helden. So ist der Hass, der das erste Literaturstück der Europäer, Homers Ilias, auszeichnet, nicht intern psychologisch, sondern extern götterentsprungen begründet. Homer spricht nicht vom »Hass«, sondern vom »Zorn«. Aber der »Zorn« des Achill zeigt, wie zwei fundamentale emotionelle Zustände eine einander integrierende Bewusstseinszone ausmachen.[3] Agamemnon nennt im ersten Gesang Achill den »Verhassten«, weil dieser den Hass immer suche. Der Zorn führt auf seinem jeweiligen Höhepunkt zum Hass-Affekt: Zu Beginn, wenn er beinahe den Zweikampf zwischen Achill und Agamemnon auslöst; am Ende, wenn er nach Patroklos' Tod bei Achill die Rage des Tötens provoziert. Entweder erscheint der Hass als das vom Dichter charakterisierte Gefühl oder als eine von ihm beschriebene Handlung, deren Intensität und Zielgerichtetheit den Leser durch ihren sprachlichen Ausdruck in Beschlag nehmen. Dann nämlich, wenn der Affekt zum Effekt wird. Nicht bloß als Spannungsfaktor einer Handlung, sondern als Auslöser von Vorstellungsketten.

Am stärksten wird die Intensität der Hass-Rede spürbar in Achills letzten Worten an Hektor, wie Homer sie ihm in den Mund legt, wenn Achill Hektors Bitte verwirft, ein jeder von ihnen möge im Falle des Sieges den toten Körper des anderen der Familie zur rituellen Bestattung übergeben. Statt dessen die ausgesuchteste, die bösartig-grausamste Ablehnung, gipfelnd in der Erklärung, die Achill dem von ihm tödlich mit der Lanze durchbohrten Sterbenden mitgibt: dass er nicht begraben werde, wie es sich gezieme, sondern die Hunde und Vögel ihn in Stücke reißen würden.[4] Bevor Achill dem toten Hektor die Füße durchbohrt, um ihn am Streitwagen festzubinden, und den von griechischen Kriegern noch einmal durchbohrten Körper von den Toren Trojas zu den griechischen Schiffen schleift, ist die hasserfüllte Handlung in der Hass-Rede schon vollzogen. Die Rede gibt – vor den Darstellungsformen der Charakteristik und des Handlungsberichts – dem Effekt des Affekts die stärkste Wirkung. Die historisch bedingte, von den Göttern geleitete Subjektivität ist dem Effekt des Hasses nicht abträglich. Seine ästhetische Wirkung ist nicht zu unterscheiden von der Begründung der Emotion Achills. Die Wirkung kommt vornehmlich vom Ausdruck seiner Rede.

Doch was für eine Wirkung hat sie? Shakespeares Hass-Reden sind zu Beginn der Moderne das sprechendste Beispiel, aus dem sich die offensichtliche Faszination des Lesers bzw. Zuschauers durch eine hasserfüllte Sprache erklärt. Denn Geschehen und Rede auf der Bühne bleiben eine grandiose Erscheinung, die unsere Vorstellungskraft als ein »Wunder«, nicht bloß als eine Handlungsfolge besetzt, eine Unterscheidung, die Nietzsche bezüglich des dionysischen Effekts der griechischen Tragödie traf.[5] Diese faszinierende Erscheinung erklärte er mit der Hass-Sprache des griechischen Lyrikers Archilochos.[6] In einem doppelten Schlag wider das moralisch-idealistische Kunstverständnis beförderte Nietzsche so zum einen den Begriff der schieren Imagination in den Vordergrund der Tragödien-Debatte, zum anderen ließ er die Imagination auf dem Hass-Ausdruck der archaisch-poetischen Rede beruhen.

Martin Scorsese, Erfinder abgründiger Filmgangster blutigsten Ausmaßes, überschrieb einen 2017 erschienenen Aufsatz zum Filmemachen als Kunstform mit dem Wort »imaginations«: Immer seien es die »images« der großen Filme gewesen, die ihm in Erinnerung blieben.[7] Sei es Peter O'Toole, wenn er in David Leans Lawrence of Arabia ein Zündholz ausbläst, sei es das Blut, das sich in Stanley Kubricks The Shining aus dem Fahrstuhl ergießt, oder sei es der explodierende Bohrturm in Paul Thomas Andersons There Will Be Blood. Diese einzelnen »images« sind inkorporiert in eine Folge anderer Filmbilder, die sie vorbereiten oder denen sie ein Echo geben. Worauf Scorsese aus ist – ohne dies theoretisch zu erläutern: die Struktur jedes großen »image« als des entscheidenden Moments im zeitlichen Ablauf, das unsere Phantasie in Bewegung setzt. Dasselbe gilt auch für das Drama, für die Literatur. Die unsere Phantasie in Bewegung setzende Kraft des »phantom image«, die besonders herausragende Bild-Erfindung, ist Scorseses Kriterium, ein Kriterium also, das nicht selbstverständlich ist, obwohl es sich zunächst so anhört. Man könnte auf ein anderes, psychologisches oder politisch-ideologisches Ausdrücklichkeitskriterium verfallen. Wenn der Film als Kunstform an Bedeutung verloren habe, dann, so Scorsese, weil er der Imagination nichts mehr zu tun lasse und nur einen zeitlichen oder vordergründigen Zauber über den Zuschauer werfe.

Nietzsche hat vom »Kunstzauber« gesprochen und diesen schließlich aus der Struktur des »Wunders« erklärt, das über den »ästhetischen Zuschauer« komme im Unterschied zum gewöhnlichen Zuschauer, der vor allem am psychologischen und historischen Handlungsablauf interessiert sei.[8] Das ist gewiss etwas anderes als der vordergründige Kinozauber. Offensichtlich versteht auch der amerikanische Regisseur ein bedeutendes Film-Image nicht als ein solches, das den Zuschauer als schiere Bildmontage überfällt, sondern als dasjenige, das ihn selbst wiederum zum Produzenten von Imagination erhebt. Darin liegt – ohne dass wir Nietzsches Begriff des »Wunders« reflektieren müssten – eine überzeugende Aktualisierung des Begriffs »Imagination«, auf den in der Folge zurückzukommen sein wird, vor allem bezüglich der imaginären Bildlichkeit der Hass-Rede einerseits und deren imaginativer Wahrnehmung durch Leser und Zuschauer andererseits.[9]

Wenn die Imagination des Theaterbesuchers vornehmlich von der grausamen Rede inspiriert wird und diese ihren großen Ausdruck in Shakespeares Monologen und Dialogen des Hasses gefunden hat, dann wird man ihrer besonderen Subversivität gewahr, sieht man auf die Hass-Rede und Hass-Szene seiner unmittelbaren Vorläufer und Anreger: Thomas Kyd, Christopher Marlowe sowie auch Ovid, Vergil, Seneca, Lucan und Machiavelli. Die griechischen Tragiker waren vor Thomas Stanleys Übersetzung von Aischylos' Dramen 1663 in England nur vom Hörensagen bekannt. Vor allem in Aischylos' 458 v. ‌Chr. aufgeführter Orestie tritt aus Klytämnestras lustvoller Beschreibung der blutigen Details ihres Mordes an Agamemnon der Hass als rhetorisch-ästhetisches Stimulans hervor, gefolgt von der Rede ihres Liebhabers Aigisthos, der den Hass seines Vaters Thyestes gegen dessen Bruder Atreus, den Vater des Agamemnon, erinnernd aufruft. Atreus hatte die Söhne des Thyestes getötet bzw. geschlachtet und sie dem Vater als Fleischgericht vorgesetzt. Das grauenhafte Motiv kannten Marlowe und Kyd sowohl aus der Lektüre von Senecas Drama Thyestes als auch in seiner mythologisch variierten Form aus dem sechsten Buch der Metamorphosen Ovids. Insofern dessen artifiziell gesetztes Grauen ein poetisches Leitmotiv der europäischen Literatur produziert hat, hört es auf den Namen »Itys«:[10] Dessen erschreckende Bedeutung wurde sowohl in Aischylos' Agamemnon als auch in T. ‌S. Eliots The Waste Land evoziert und hat gerade die Schrecken der elisabethanischen Tragödie um signifikante Phantasmen bereichert. Das Itys-Motiv hat seine archaisch-mythologische Herkunft also nicht bloß überlebt, es kam der modernen Literarisierung besonders entgegen: Ovids Interesse an Grausamkeit[11] war ein ausschließlich literarisches, er glaubte nicht mehr an die Götter.

Der...

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