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Der Brief an die Gemeinden in Galatien

AutorPeter von der Osten-Sacken
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783170333413
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis49,99 EUR
The Letter to the Galatians is intended to resolve a conflict. New missionaries are spreading the view that one has to be circumcised in order to belong to God=s people. Against this, Paul argues that through Jesus Christ, the son of Abraham and the son of God, and his sacrifice on the Cross, those who belong to him are also children of Abraham and at the same time children of God, and they are free from the Law. This view of the Gospel as representing freedom from the Biblical and Jewish Law went on to make history & often with anti-Jewish undertones. But in the Letter to the Galatians, Paul again advocates a very much wider understanding of the Hebrew Bible. On the basis of that understanding, he presses the view that devotion to Jesus Christ means liberation into a new life. In hermeneutic reflections and in a longer concluding section, the commentary enters into an engaging and critical discussion with the Pauline Gospel.

Peter von der Osten-Sacken is Emeritus Professor of New Testament and Christian&Judaic Studies and Director of the Church and Judaism Institute at Humboldt University, Berlin.

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Leseprobe

(b/8) Die Kette der Beispiele ließe sich um weitere wie z. B. dikaiosynē (Gerechtigkeit) und douleia/douleuein (Sklavendienst/Sklavendienste leisten) ergänzen.159 Hier mag nur noch eins angeführt werden, das zum Zentrum der paulinischen Theologie und insbeson­dere seiner Rechtfertigungslehre gehört, die Wendung – in traditioneller Übertragung – „Werke des Gesetzes“ (erga nomou, 2,16). Wie ein Magnet hat sie durch die Jahrhun­derte hin alle möglichen Deutungen an sich gezogen, insbesondere in lutherscher Tradi­tion, in der ihr Sinngehalt in erster Linie durch die Forderungen der katholischen Buß­praxis bestimmt wurde, die Luther in seiner Mönchszelle zur Verzweiflung getrie­ben haben. Aber erga nomou sind von Hause aus – dem jüdi­schen Hause – keine „Werke“ im lutherschen Sinn, durch die man sich vor Gott behaupten zu können meint, sondern die rituellen oder kultischen Handlungen, die nach jüdischer Auffas­sung durch die schriftliche Tora, die Bibel, oder durch die mündliche Tora, die die Weisungen der Bibel ergänzt und inter­pretiert, definiert werden. Die Entdeckung des hebräischen Äqui­valents (maʽaßē ha-tora) in den Texten von Qum­ran hat dies zweifelsfrei ge­macht.160 Eine andere Frage ist es, ob Paulus über dieses Verständnis hinaus weitere Aspekte mit dem Begriff verbindet. Doch wird hierüber ebenso wie über den im Galaterbrief begegnenden Parallelbegriff erga sarkos (5,19) später an Ort und Stelle ausführlicher zu handeln sein.

(b/9) Resümiert man die angeführten Beispiele, so drängt sich der Eindruck auf, dass die neutestamentliche Exegese in ihrem Begriffsgebrauch gegenwärtig in einer Zeit des Übergangs lebt. Ob sich einzelne Begriffe durchsetzen oder verwandte Termini weiter nebeneinander verwendet werden, wird die Zukunft zeigen. Wie zäh sich der Übergang teilweise gestaltet, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das teil­weise über den exegetischen Bereich hinausgeht. So besteht heute Einmütigkeit in der Auffassung, dass die Kirche das Evangelium nicht mehr, wie subtil auch immer, aufzwingen, vielmehr nur dafür werben, bitten und dazu einladen kann, es zu hören und zu beherzigen. In eklatantem Widerspruch dazu steht es, wenn weiterhin unge­bro­chen von dessen Absolutheits-, Wahrheits- oder Geltungsanspruch gesprochen wird. Denn hat man einen Anspruch, macht man ihn geltend und lädt nicht zu ihm ein, und wenn man jemanden bittet und einlädt, konfrontiert man ihn in der Regel nicht mit Ansprüchen. Beide unausgeglichen nebeneinander verwendeten Begriffs­grup­pen kommen aus verschiedenen sprachlichen Zeitzonen und bedürfen offen­kundig einer Abklärung in ihrem Gebrauch.161 Vielleicht wäre man schon einen Schritt weiter, wenn man zum Evangelium oder, in Aufnahme des Wahrheits­begriffs und in Anlehnung an den Galaterbrief (2,5.14), zur Wahrheit des Evangeliums einladen und sie bezeugen würde.162

6.2  Die Differenz der Zeiten


Albert Schweitzer hat in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ das bekann­te Resümee gezogen, die Forschung sei ausgezogen, „um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen“. Doch nachdem sie ihn vom Dogma befreit und histo­risch zum Leben erweckt habe, „blieb er nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück“.163 Solches, von Schweitzer in einprägsamem Bilde dargestelltes Entschwinden in die vergangene Zeit geschieht überall da, wo historisch, soweit wie möglich unter Absehen von gegenwär­tigen Wünschen und Zielsetzungen, gearbeitet wird. Auf ihre Weise gehörten die im voran­gegan­genen Kapitel beigebrachten Beispiele bereits in diese Bewegung zurück in die fremde Zeit und Geschichte. Damit ist jedoch nur ein Teil dieses vielschichtigen Ganzen erfasst. Relativ unvoreingenommene historische Forschung mag sich gege­be­nenfalls damit begnügen, historische Zusammenhänge oder literari­sche Hinter­lassenschaften aus ihrer Zeit heraus zu erklären. Interpretations­wis­sen­schaften im Bereich von Theo­logie und Kirche können sich nicht darauf beschrän­ken, ihre Ergebnisse exegeti­schen Archivalien gleich zur Besichtigung oder zum Gebrauch durch wen auch immer ins Regal zu stellen. Die von ihnen traktierten biblischen Schrif­ten sind einerseits historische Urkunden, andererseits kanonische, für gegen­wärtiges Leben und Lehren relevante und auch daraufhin zu interpretierende Zeug­nisse. Während sich die historische Deutung von den Verständnisschichten freizu­machen hat, die sich im Laufe der Zeit über sie gelegt haben, muss ihre Interpretation als kanonische Schriften mit in Rechnung stellen, wie sie rezipiert worden sind, was gegebenenfalls durch sie bewirkt worden ist und welche Be­deutung dem Tatbestand der Differenz zwischen den Zeiten einst und jetzt zu­kommt. Während es mithin, faust­regelhaft gesagt, im Rahmen historischer Inter­pretation heißt: Von der Gegenwart durch die Geschichte zurück zum Text, gilt im Rahmen der Deutung auf der kanonischen Textebene: Vom Text zurück durch die Geschichte in die Gegenwart.

Um dies an einem Beispiel von vielen denkbaren zu verdeutlichen: In einem schma­len, trotz manchen Widerspruchs, zu dem er provoziert, bedeutsamen Kom­mentar zum Galaterbrief vertritt der Autor die Auffassung: „Wenn es stimmt, daß wir heute als Leser in keiner grundsätzlich anderen Position sind als die Empfänger, muß sich der Kommentar auf die Seite der Galater stellen, also der Frage folgen, wie sie verstanden haben mögen, was Paulus wollte, und nicht abgesehen davon Paulus zu verstehen suchen.“164 Die hier formulierte Prämisse stößt im Hinblick auf ihre beiden Implikationen auf enge Grenzen. Das, was die Heutigen von den Galatern einst, vor allem im 1. Jahrhundert, wissen, ist so rudimentär, dass sich auf ein schwan­kendes Brett begibt, wer allein von diesem äußerst fragmentarischen Wissen her den Brief interpretiert. Es ist unsicher, wo genau die Gemeinden gelebt haben, an die Paulus schreibt, wie groß sie waren und wie sie sich zusammensetzten, wie oft Paulus sie vor seinem Brief besucht, auf welche Weise er sie für das Evangelium gewonnen, in welchem Maße er sie in die Bibel Israels eingeführt und wie er mit ihr argumentiert hat. Gab es jüdische Gemeinden vor Ort, und wie war das Verhältnis der Gemeinden des Messias Jesus zu ihnen? Wie waren die Gemeinden strukturiert und organisiert? Welche religiösen Voraussetzungen brach­ten sie mit sich? Gab es der Herkunft nach jüdische Mitglieder?

Ebenso fraglich scheint, dass wir heute als Leser/innen in keiner grundsätzlich anderen Position sind als die Empfänger des Briefes. Paulus und die Gemeinden in Galatien haben es mit Leuten zu tun, die die Galater argumentativ zur Beschneidung als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams drän­gen. Sie propagieren anscheinend weiter und aus ähnlichen Gründen das Ein­halten jüdischer kalendarischer Zeiten. Wo wären christliche Gemeinden heute mit solchen Forderungen konfrontiert? Paulus lässt erkennen, dass Missionare wie er selber je und dann Verfolgungen von jüdischer Seite ausgesetzt waren. Wo ließe sich, von diesem oder jenem einzelnen feindlichen Akt von Ultraorthodoxen in Israel abgesehen, heute davon reden? Wohl aber hat es in der Geschichte der Kirche Zwangstaufen und Verbrennungen traditionstreuer Juden gegeben, Verfolgungen von christlicher Seite aus nicht nur in Mittelalter und Reformationszeit, sondern in Gestalt von Schweigen und Mittun bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie sollte sich der Galaterbrief interpretieren lassen, ohne dessen ansichtig zu werden, dass „das Gesetz“ in jüdischem Verständnis aufs Ganze gesehen etwas anderes ist als seine Erscheinungsformen im Spiegel der paulinischen Aussagen? Wie lässt sich noch von einer grundsätzlich gleichen Situation reden, wenn einerseits im Galater­brief nur mit Mühe ein Wort für Israel zu erkennen ist, der Brief vielmehr ver­meintlich Anlass zu der Folgerung gibt, es sei mit dem Volk Gottes passé, und wenn andererseits in den letzten Jahrzehnten anhand des Römerbriefes (9–11) die Erkenntnis (wieder)gewonnen ist, dass Gott seinem Volk die Treue hält ungeachtet seines Neins zum Evangelium als Botschaft für es selber; ja, wenn man im Grunde sagen müsste: Die Hauptsache, er hält nach allem verübten Unrecht noch den Kirchen die Treue! Neben die tröstliche Gewissheit: Interpreten kommen und gehen, was bleibt, ist der Text, tritt damit die andere: Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Texte. Welche Differenz zwischen den Zeiten bedeutet es allein, dass Paulus mit der Ankunft Jesu noch zu Lebzeiten seiner Generation gerechnet hat,165 während sich die Erwartung der Ankunft heute weithin in der rückwärtsgewandten Weihnachtsfeier und in der Gewissheit der Gegenwart des Messias und Gottessohnes in Wort und Sakrament erschöpft.

Gewiss gibt es je und dann Punkte, an denen sich die Wege aus der Gegenwart zurück zum Text und der Weg vom Text in die Gegenwart berühren oder kreuzen. Aber im Prinzip sind sie zu unterscheiden. In diesem Sinn durchziehen den Kommentar sogenannte Vertiefungen. In ihnen geschieht in der Regel eine Auseinandersetzung mit dem Text, der eine rein nachvollziehende Auslegung überschreitet. Sie schließen kritische Reflexionen ein, die sich entweder auf die paulinischen Darlegungen oder auf bestimmte Auslegungstraditionen beziehen. Oder aber sie suchen die Welt des antiken Judentums, aus der Paulus kommt und auf die er sich bezieht,...

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