Alleinsein ohne Angst
und Ablenkung
Siddhartha war ein Prinz, der vor rund 2.500 Jahren umgeben von Reichtum und Wohlstand lebte. Aber im Alter von 29 Jahren ließ er seinen Palast und seine Familie hinter sich und kehrte nie wieder zurück. Er spürte eine anhaltende Unzufriedenheit in seinem Leben und begab sich schließlich auf eine spirituelle Reise, um sich von Dukkha zu befreien. Hätte er nicht auf seine Gefühle gehört, wäre er wahrscheinlich im Palast geblieben und wäre uns heute nicht durch seine spirituellen Einsichten und Lehren als »Buddha« bekannt.
Unzufriedenheit ist ein Teil des Lebens, und für Siddhartha war es der Hauptgrund, sich auf die Suche nach Glück und Befreiung zu begeben. Ohne Unzufriedenheit gibt es keine Veränderung und auch keinen Fortschritt. Im Gegenteil, je größer die Unzufriedenheit ist, desto größer ist der eigene Wille, die Dinge zu verändern. Als Siddhartha erkannte, dass materieller Reichtum und luxuriöse Vergnügungen ihm keine dauerhafte Zufriedenheit bringen konnten, schwor er seinem königlichen Leben ab und begab sich auf die Suche nach spirituellen Lehrern.
Im nördlichen Teil des indischen Subkontinents traf Siddhartha auf indische Yogis und bat einige, ihn zu unterrichten. Den Überlieferungen zufolge war Alara Kalama sein erster Lehrer, ein Einsiedler, Weiser und Gelehrter der indischen Philosophie. Er lehrte ihn Meditation und altertümliche Weisheiten, und schon bald war Siddhartha seinem Meister ebenbürtig. Es war Alara Kalamas Wunsch, dass Siddhartha gemeinsam mit ihm seine Lehren weitergab, aber Siddhartha war noch immer unzufrieden, lehnte dieses Angebot ab und verließ seinen Meister. Er wollte noch weitere spirituelle Weisheiten erkunden, denn er war noch nicht am Ziel, sich von jeglichem Leiden zu befreien.
Buddha
Auf seinem spirituellen Weg tauchte Siddhartha Gautama in viele Traditionen ein. Er lernte von den Yogis, studierte Meditation und praktizierte Askese. Um das Jahr 534 v. Chr., nach vielen Jahren der Suche und enttäuscht, weil ihm keine Tradition zufriedenstellende Antworten geben konnte, ließ sich Siddhartha unter einer Pappel-Feige nieder. Er nahm eine Meditationshaltung ein und schwor, nicht eher wieder aufzustehen, bis er den Weg zur Wahrheit gefunden hatte. Am 49. Tag seiner Meditation erlangte er die Erleuchtung. Auf die Frage eines Fremden, wer er sei, antwortete er »Ich bin Buddha«, was so viel bedeutet wie der Erleuchtete oder der Erwachte. Ein Abkömmling der originalen Pappel-Feige, des sogenannten Bodhi-Baums, steht noch heute im indischen Bodhgaya, dem heiligsten Pilgerort für Buddhisten aus aller Welt.
AUF EINE REISE GEHEN
Buddhas Weg war eine Reise, die von Isolation geprägt war. Er hatte seinen Palast und seine Familie verlassen, und während er von Lehrmeister zu Lehrmeister zog, gab es niemanden, der sein Streben verstand und der ihm wirklich helfen konnte. Buddha nahm viele Entbehrungen auf sich; er bettelte um Essen und war auf die Großzügigkeit anderer angewiesen, um zu überleben. Er zog sich immer wieder für eine lange Zeit in Meditation und Retreat zurück und versuchte so, Einsicht darin zu erhalten, was in seinem Geist vor sich ging.
Buddhas Reise lehrt uns vieles, auch zum Thema Einsamkeit. Sie zeigt uns, dass es selbst in den bedrückenden Gefühlen von Leere etwas Wertvolles zu entdecken gibt. Aber eine solche Entdeckung hat den Preis, nicht umzukehren, sondern immer weiterzugehen, selbst dann, wenn alles sinnlos und unsicher erscheint.
»So wie der Fisch auf dem trockenen Land zugrunde geht, so gehst auch du zugrunde, wenn du dich in weltlichen Dingen verlierst«, sagte der Meister. »Der Fisch muss ins Wasser. Du musst in die Abgeschiedenheit.«
Der Schüler war erschrocken: »Ich muss mein Leben zurücklassen und ins Kloster gehen?«
»Nein, nein«, erwiderte der Meister. »Lebe weiter dein Leben, aber gehe in dein Herz.«
Wenn Sie Momente des Alleinseins erleben, dann können wir Sie nur dazu ermutigen, diese Momente wie Siddhartha als Chance zu sehen und zu nutzen. Sie bieten die Möglichkeit, auf eine spirituelle Reise zu gehen. Viele von uns sind im Alltag so sehr mit ihrem Job und der Familie beschäftigt, dass sie kaum Zeit finden, zur Ruhe zu kommen und über ihr Leben nachzudenken. Wie in einem Hürdenlauf überwinden sie ein Hindernis nach dem anderen, mit dem schlichten Ziel, weiterhin gut zu funktionieren.
Wenn Sie sich aber die Zeit nehmen, Ihrem Alleinsein gegenüberzutreten und sich mit ihm auseinanderzusetzen, werden Sie ungeahnte innere Stärke und emotionale Fähigkeiten entwickeln, die Ihnen für den Rest Ihres Lebens von großem Nutzen sein werden. In Momenten der Stille und Versenkung werden Sie Erfahrungen und Eindrücke gewinnen, die die Art und Weise Ihrer Selbstwahrnehmung und Beziehungsfähigkeit signifikant verändern.
Wie ein stiller See
Eine Reise in das eigene Innere zu beginnen setzt voraus, dass Sie lernen, Ihren Geist zur Ruhe zu bringen. Nur wenn der Geist ruhig ist, können wir tief blicken. Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht gestört werden, nehmen Sie eine aufrechte, aber bequeme Sitzhaltung ein, und schließen Sie Ihre Augen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären in einem kleinen Boot auf einem großen See. Ihr Geist ist wie das Wasser dieses Sees. Es ist aufgewühlt von Gedanken, Bildern und Gefühlen. Das Wasser ist mit Sand, Pflanzen und allen möglichen Partikeln gemischt, und von Ihrem Boot aus können Sie den Grund des Sees nicht sehen. Das Wasser ist zu trüb.
Sie sitzen daher einfach still da in Ihrem Boot und üben sich in Geduld. Atmen Sie durch den Bauch ein und aus, und werden Sie langsam ruhiger.
Geben Sie dem See Zeit, sich zu beruhigen, so dass Sie den Grund sehen können.
Jedes Mal, wenn ein Gedanke das Wasser in Aufruhr bringt, nehmen Sie den Gedanken gleichmütig wahr und lassen ihn danach entspannt wieder weiterziehen.
Konzentrieren Sie sich darauf, wie sich Ihre Bauchdecke beim Atmen hebt und senkt.
Nehmen Sie sich ruhig ein paar Minuten Zeit, den Atem entspannt fließen zu lassen und sich zur völligen Ruhe zu bringen.
Wann immer ein Gedanken auftaucht, nehmen Sie ihn wahr und bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zurück zu Ihrem Atem.
Während Sie dies tun, sinken die das Wasser trübenden Dinge ganz langsam auf den Grund des Sees.
Mit der Zeit beruhigt sich das Wasser so weit, dass sich eine dünne Schicht Geröll und kleine Steinchen auf seinem Grund abgelagert haben. Aber das Wasser ist noch immer nicht klar.
Es gibt immer noch viele Partikelchen, die es unmöglich machen, den Grund klar zu sehen.
Geben Sie dem See Zeit, immer klarer zu werden, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit immer wieder zurück zu Ihrem Atem bringen.
Das Wasser wird langsam immer klarer, bis es schließlich ganz transparent ist. Sie schauen über den Rand Ihres Bootes und können den Grund des Sees klar und deutlich erkennen. Er ist tief unten, still und friedlich.
Atmen Sie ruhig ein und würdigen Sie diesen Augenblick der Stille und des Alleinseins. Atmen Sie ruhig aus und lächeln Sie sich selbst zu.
Atmen Sie ruhig ein und sagen Sie sich »Ich bin glücklich«. Atmen Sie aus und denken Sie »Hier beginnt die Reise zu meinem Herzen.«
Führen Sie Ihre Hände vor dem Herzen zusammen, und bedanken Sie sich für die heutige Übung und dafür, dass Sie sich die Zeit für sich selbst genommen haben.
Beim ersten Mal ist diese Übung nicht einfach, weil Ihr Geist ständig mit den unterschiedlichsten Ablenkungen beschäftigt ist. Je angestrengter wir versuchen, ihn zur Ruhe zu zwingen, desto mehr wehrt er sich. Aus diesem Grund ist es ungemein wichtig, den auftauchenden Gedanken mit Gleichmut zu begegnen. Es geht nicht darum, den Kopf frei von Gedanken zu bekommen, sondern den rasanten Wechsel von einem zum nächsten Gedanken ruhiger werden zu lassen.
Wenn Sie diese Übung regelmäßig durchführen, werden sich Ihre Gefühle verändern. Sie werden beginnen, die Momente des Alleinseins mit Frieden, Entspannung und Entdeckungen zu assoziieren, statt sie als quälend zu empfinden.
ABLENKUNGEN VERMEIDEN
Wir Menschen sind soziale Wesen, und das Bedürfnis nach Beziehungen ist tief in uns verankert. Gerade das macht es für uns so schwer, wenn wir über längere Zeit mit innerer Leere konfrontiert werden. Wir sind leicht ruhelos und gelangweilt und suchen uns mit Freude Ablenkungen. Am schnellsten verfügbar ist heutzutage für viele leider das Smartphone.
Es ist oft unser engster Verbündeter, um selbst kurze Momente der Langeweile und Einsamkeit zu überbrücken. Sobald wir allein sind, und es nichts zu tun gibt, greifen wir direkt zu unserem Smartphone, damit es uns vor dem Gefühl der Leere rettet. Es scheint der perfekte Weg zu sein, um vor unseren eigenen Gedanken und Gefühlen zu flüchten und uns abzulenken. Wenn der Batteriestand sinkt, fühlen viele sogar ein Gefühl der Panik, denn eine Welt, in der es keine Ablenkungs-Möglichkeit mehr zu geben scheint, bereitet ihnen Furcht.
Ich erinnere mich daran, dass einer meiner buddhistischen Lehrer mir in Indien sagte, dass Langeweile eigentlich ein Zeichen dafür sei, dass eine Erkenntnis bevorsteht. Der Ehrwürdige Lobsang Namgyel verbrachte einige Monate in einem Schweige-Retreat im Kopan Kloster in Nepal. Er verbrachte seine Tage mit Meditieren, Essen und Gehen. Wieder und wieder glich jeder Tag dem vorherigen. Meditieren, essen, gehen, schlafen … Die Zeit wurde sehr lang und zäh, und er begann, sich einsam und gelangweilt zu fühlen. Er dachte sogar...