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E-Book

Was Märchen über dich erzählen

AutorJorge Bucay
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783104909721
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der große Geschichtenerzähler Jorge Bucay schenkt uns die Märchen unserer Kindheit zurück und eröffnet uns den Zugang zu einem magischen Universum: dem Universum unserer Emotionen. 'Emotionen sind das wertvollste und nützlichste Rüstzeug auf unserem Weg zu einem besseren, innerlich reicheren Menschen.' Bucay schenkt uns mit seinem neuen Buch die magische Erfahrung, für einen einzigartigen, geschützten Moment wieder das Kind zu sein, das wir einmal waren. Das Kind von damals, das es genoss, wenn sich jemand zu ihm setzte und ihm eine Geschichte erzählte. Von Rotkäppchen über Dornröschen bis zum tapferen Schneiderlein erzählt uns Jorge Bucay die Märchen unserer Kindheit und wagt es, in ihrer Deutung einen Schritt über die althergebrachte 'Moral von der Geschicht' hinauszugehen. Er zeigt uns, wie viel uns Märchen über uns selbst erzählen und schenkt uns wunderbare Lesestunden voller Entschleunigung und Magie.

Jorge Bucay, 1949 in Buenos Aires geboren, ist einer der einflussreichsten Gestalttherapeuten Argentiniens. Mit »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte« gelang ihm der internationale Durchbruch als Autor. Bucays Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft.

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Leseprobe

Die Geschichte


Wie schön war doch der Sommer! Wie wunderbar war es, durch die Felder zu streifen und das goldgelbe Korn, den grünen Hafer und die Heustadel in der weiten Landschaft zu betrachten!

Flamingos staksten auf ihren langen Beinen umher und machten die Landschaft perfekt. Ach, es war herrlich, auf dem Land zu sein.

Im Sonnenlicht stand ein altes Gutshaus. Es war von einem tiefen Wassergraben umgeben, an dessen Ufer Pflanzen mit riesigen Blättern wuchsen, so groß, dass ein Kind sich darunter verstecken konnte.

Im Schutz dieser wilden, überwucherten Böschung hatte eine Hausente ihr Gelege, weit genug vom Hühnerhof entfernt, um nicht beim Brüten gestört zu werden, und nah genug, um dorthin zurückkehren zu können, sobald die Jungen geschlüpft waren.

Nach einem Monat wurde die Ente unruhig, denn sie spürte, dass es Zeit für ihre Küken war, auf die Welt zu kommen. Ungeduldig betrachtete die Entenmutter das Gelege und wartete auf Neuigkeiten.

Schließlich zersprangen die Eier eins nach dem anderen. »Piep, piep!«, schnatterten die kleinen gelben Daunenbällchen, als sie die Köpfchen aus den Eierschalen streckten.

»Quack, quack«, antwortete die Entenmutter, um die Kleinen zu ermuntern, so schnell wie möglich aus ihren Schalen zu schlüpfen und ihre ersten Schrittchen zu machen, sich an das Tageslicht zu gewöhnen, das sie ein wenig blendete, und das satte Grün zu genießen, das sie umgab.

»Oh, wie groß doch die Welt ist!«, staunten die Entlein, die auf einmal so viel mehr Platz hatten als eben noch in ihrem Ei.

»Quack, quack«, lachte die Entenmutter. »Ihr glaubt, das sei schon die ganze Welt? O nein! Die Welt reicht bis zu der Wiese auf der anderen Seite des Wassergrabens, aber so weit bin ich noch nie gewesen … Nun, ich hoffe, ihr seid vollzählig. Wir müssen ins Wasser, bevor es dunkel wird«, drängte sie und erhob sich vom Nest.

In diesem Moment kam eine betagte Entendame vorbei.

»Was stehst du da herum?«, sagte sie, und es klang ein wenig vorwurfsvoll. »Da liegt noch ein Ei im Nest.«

Die Entenmutter sah sich um und stellte fest, dass das größte Ei tatsächlich noch intakt war. »Wie lange dauert das denn noch?«, fragte sie sich. »Ich kann doch nicht ewig hier hocken bleiben.« Dennoch setzte sie sich wieder auf ihr Gelege, wie es ihr der Instinkt befahl.

»Das Kleine macht keine Anstalten, zu schlüpfen«, jammerte sie. »Aber sieh dir die anderen an: Sind es nicht die hübschesten Entlein der Welt? Sehen aus wie ihr Vater in jungen Jahren. Warum lässt sich dieser Nichtsnutz nicht mal blicken?«

»Du weißt doch, wie die Männer sind«, sagte die alte Entendame, um etwas zu sagen. »Lassen einen mit der Arbeit allein.«

»Ich denke, ich bleibe noch ein Weilchen sitzen«, sagte die Entenmutter. »Aber wenn sich nicht bald etwas tut, gehe ich. Ich hocke schon so lange hier, mir tut alles weh.«

»Na dann, alles Gute«, sagte die alte Entendame und watschelte davon.

Schließlich zerbrach das Ei.

»Piep! Piep!«, rief das Kleine und purzelte aus dem Ei. Seine Stimme klang merkwürdig für ein frisch geschlüpftes Entenküken. Der Entenmutter gefiel das ganz und gar nicht. Sie betrachtete das Küken eingehend und stellte fest, wie groß und hässlich es war.

»Meine Güte, was für ein riesiges Küken!«, entfuhr es ihr. »Es sieht überhaupt nicht aus wie die anderen.«

Und das stimmte: Sein graues, struppiges Gefieder war ganz anders als der weiche gelbe Flaum seiner Geschwister.

Das letzte Tageslicht fiel durch die grünen Blätter, und der Himmel färbte sich orangerot.

Die Entenmutter watschelte mit der gesamten Familie zum Wassergraben und sprang, platsch!, hinein.

»Quack, quack«, lockte sie. »Kommt, kommt, habt keine Angst!«

Eins nach dem anderen sprangen die Kleinen hinterher. Das Wasser schlug über ihren Köpfchen zusammen, doch als sie wieder auftauchten, schwammen sie völlig mühelos. Im Handumdrehen waren alle im Wasser, und auch das hässliche graue Entlein folgte den anderen guten Mutes. Die kleine Schar paddelte mit den Füßchen und schwamm der Entenmutter hinterher.

»Quack, quack!«, rief die Mutter nach einer Weile. »Kommt, folgt mir, ich will euch den anderen im Hühnerhof vorstellen. Aber bleibt ganz dicht bei mir, nicht, dass ihr zertrampelt werdet. Und gebt auf die Katze acht!«

Sie hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass alle ihr folgten.

»Los, los, sputet euch! Und macht einen artigen Knicks vor der alten Entendame dort drüben. Sie ist die vornehmste von uns, angeblich fließt spanisches Blut in ihren Adern. Seht nur, sie trägt einen roten Ring um ihr Bein; das ist die höchste Auszeichnung, die man erringen kann.«

Stolz und zufrieden gab sie ihrer Schar weitere Anweisungen:

»Kommt, Kinderchen«, lockte sie. »Seid artig und grüßt höflich. Senkt den Schnabel, schaut zu Boden und sagt ›Quack‹! Und dreht nicht die Füße nach innen, das gehört sich nicht.«

Alle gehorchten, doch als die Küken heranwatschelten, um die anderen Enten zu grüßen, musterten diese angewidert das ungewöhnliche Entlein und riefen schließlich:

»Uh, was für ein garstiges Ding! Nehmt es, und verschwindet von hier, wir können seinen Anblick nicht ertragen.«

Ein junger Enterich kam näher und drohte, es in den Hals zu hacken.

»Lasst es in Ruhe! Es hat niemandem etwas zuleide getan«, schritt die Entenmutter ein. »Es war zu lange in seinem Ei, deshalb ist es nicht so hübsch wie die anderen.«

»Mag sein«, sagte die alte Ente mit dem roten Ring. »Ich hoffe, das Hässliche wächst sich aus, wenn es älter wird, und es bleibt nicht so riesig, sonst reicht das Futter nicht. Aber du solltest dir gut überlegen, was du mit ihm machst. Wenn du es draußen auf dem Teich zurückließest, wärst du deine Sorgen los. Es wirkt stark und wird seinen Weg machen. Was deine übrigen Jungen betrifft, so sind sie wirklich reizend«, setzte die alte Ente hinzu. »Sie sind im Hühnerhof herzlich willkommen. Es würde mich freuen, wenn sie sich hier wie zu Hause fühlten.«

Sie nahmen die Einladung an und blieben im Hühnerhof. Die Küken fühlten sich sehr wohl dort – alle, bis auf das arme Entlein, das zuletzt geschlüpft war. Die anderen Enten und Hühner und sogar der Truthahn, der sich immer schon für etwas Besonderes gehalten hatte, hackten nach ihm, knufften es und lachten es aus.

Eines schönen Tages plusterte der Truthahn sein Gefieder auf wie ein Schiff unter vollen Segeln und stürzte sich ohne jeden Grund, nur weil ihm der Sinn danach stand, mit lautem Gegacker auf das arme hässliche Entlein, bis sein Kopf tiefrot anlief. Das arme Entlein lief erschreckt und aufgescheucht durch den Hühnerhof. Es hatte inzwischen gemerkt, dass es anders war als die anderen, doch es verstand nicht, warum man es deswegen abwies und angriff.

Die Tage vergingen, und es wurde immer schlimmer. Das arme Entlein wurde von allen drangsaliert. Selbst seine Geschwister triezten es zuweilen und sagten:

»Hoffentlich holt dich die Katze, du garstiges Ding!«

Eines Tages scheuchte die Magd, die immer das Futter brachte, das kleine Entlein vor sich her und wäre dabei beinahe über es gestolpert. In seiner Wut verpasste das Mädchen dem armen Entlein einen Tritt, dass es bis in den Schweinetrog flog.

»Geh mir aus den Augen, du hässlicher Vogel!«, schrie sie.

Nachdem das Entlein den ganzen restlichen Tag geweint hatte, traf es eine Entscheidung. Es war nicht wie die anderen und würde niemals sein wie sie … Auch wenn es nicht zu verstehen war, machte dieses Anderssein es ihm unmöglich, noch länger mit den anderen im Hühnerhof zusammenzuleben.

Falls es noch irgendeinen Zweifel gehabt hatte, so schwand dieser, als es seiner Mutter von seinen Plänen erzählte und diese nach langem Schweigen mit gesenktem Kopf murmelte, vielleicht sei es besser so.

Noch am selben Abend verließ das arme, verachtete Entlein den Hühnerhof.

Mit einem Satz hüpfte es über den Zaun und scheuchte mehrere Spatzen auf, die erschreckt aus den Büschen aufflatterten.

Das kleine Entlein lief immer weiter, bis es erschöpft den großen See erreichte, wo, so hatte es die Mutter erzählt, die Wildenten lebten. Es kauerte sich ins Schilf und schlief entkräftet und traurig ein.

Als die Wildenten am nächsten Morgen losfliegen wollten, entdeckten sie den sonderbaren Gast.

»Was bist du für ein seltsames Ding?«, fragten sie.

Das Entlein wusste nicht, was es antworten sollte. Stattdessen verbeugte es sich ein ums andere Mal, um artig und wohlerzogen zu erscheinen.

»Du bist hässlicher als eine Vogelscheuche!«, sagten die Wildenten.

»Ich glaube, gerade deshalb gefällst du mir«, sagte eine von ihnen, die die Anführerin zu sein schien. »Du kannst mit uns kommen, wenn du willst.«

»Solange du nicht eine von unseren Schwestern heiraten willst …«, setzte eine weitere hinzu.

»Genau, genau«, pflichteten die anderen bei.

Das arme Entlein dachte nicht im Traum ans Heiraten oder gar ans Fliegen. Es wollte nur in Ruhe im Schilf hocken und ein bisschen Wasser aus dem See trinken.

»Paff! Peng!«, knallte es plötzlich, und die Wildenten flogen aufgescheucht davon. Zwei von ihnen jedoch waren von den Kugeln der Jäger getroffen und fielen tot ins Schilf. Ihr Blut färbte das Wasser rot.

Als weitere Schüsse ertönten, flogen immer mehr Wildenten und Gänse vom See auf, um den Kugeln zu entkommen. Halbtot vor Angst, steckte das Entlein den Kopf unter den Flügel und duckte sich in eine Mulde hinter zwei Steinen, die es im Uferschilf entdeckt hatte.

Blaue...

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