Die meisten Dorfbewohner waren ehrlich aufgebracht und entrüsteten sich über die ›Rotzbuben‹ – viele beteiligten sich, unter Führung des tapferen Junggendarmen Lackner Hans, an der Suche nach den Verbrechern. Denn unter den eingesessenen Bauern hatte die Haßpropaganda noch wenig Boden gefunden, eher unter jenem ländlichen Mittelstand, der mehr sein wollte, als er war, den Krämern, Handlungsvertretern, kleinen Beamten. Die Leute in dieser Gegend waren nicht sehr reich und nicht sehr arm, es gab keinen Großgrundbesitz, sondern durchweg recht gut situierte Landwirte, sie saßen auf eigenen Höfen, hielten ein paar, patriarchalisch behandelte und familiär gesinnte, Knechte oder Mägde, und die zerrüttende Arbeitslosigkeit, die dem Extremismus in Deutschland den Boden bereitet hatte, war so gut wie unbekannt. Ganz anders lag das schon in bestimmten Gebieten des österreichischen Alpenhochlands, in denen die Not herrschte, oder in den größeren Städten und Industriezentren. Aber davon wußten die Bauern des gemäßigten ›Flachgaus‹ nicht viel. Sie schielten unter sich oder grinsten verlegen, wenn am Biertisch jemand anfing, sie ›politisch aufzuklären‹. Im Februar des gleichen Jahres hatte man in Wien den aus Verzweiflung geborenen Aufstand der Sozialisten blutig unterdrückt. Zwar hatte das Ende des linken Bauernführers Koloman Wallisch, den die Sieger nach einer Hetzjagd gefangen und aufgehängt hatten, da und dort einen gewissen Unwillen erregt, doch im großen und ganzen hatte man wenig Sympathie für die ›Roten‹, von denen es hieß, sie wollten die Kirchen verbrennen und den Bauern ihr Land wegnehmen. Da waren ihnen die ›Hahnenschwänz‹, wie man die Heimwehr des Fürsten Rüdiger von Starhemberg nannte, schon lieber, die machten Musik oder Fackelzüge und ließen alles beim alten. Die staatsmännische Klugheit, mit welcher der an Gestalt kleine Kanzler Dollfuß, nach ›Wiederherstellung der Ordnung‹, ausländische Beziehungen pflegte und im Inland eine Befriedungspolitik versuchte, ließ das ›neue Regime‹ in einem freundlichen Licht erscheinen – wenn es auch eine, österreichisch gemilderte und keineswegs terroristische, Spielart des Faschismus bedeutete: sein Aushängeschild war das Wort ›Ständestaat‹, das man in jedem Leitartikel lesen konnte und unter dem sich keiner, die Verfasser eingeschlossen, etwas vorstellte. Aber auch für Intellektuelle und nicht zuletzt für die Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland schien dieses ›unabhängige Österreich‹ das kleinere Übel zu sein – und später, unter dem klugen und liberalen Kurt von Schuschnigg, der eine ›Öffnung nach links‹ anbahnte, sogar eine Möglichkeit, wieder zu demokratischen Verwaltungsformen überzugehen, die keineswegs völlig ausgeschaltet waren. Gewiß wurde schon seit Hitlers ›Machtergreifung‹ viel geflüstert und geredet, daß ›im Reich draußen‹ jetzt alles viel besser ginge und daß es nur Schädlinge und Volksverderber seien, die er vertrieben oder eingesperrt hatte. Der ›großdeutsche Gedanke‹, der Wunsch nach Zusammenschluß mit dem stärkeren Bruder, war altes österreichisches Phrasengut: mit ihm war der erfolglose Postkartenmaler und Anstreichergehilfe Adolf Hitler einst nach Deutschland gezogen, um es, und später auch sein liebes Österreich, bis zum Weißbluten zu beglücken. Zugleich aber hatte man vor dem ungeheuren Lärm und dem Waffengerassel, das ›die da draußen‹ vollführten, im ausgeglichneren, durch jahrhundertealte Völkergemeinschaft politisch abgeklärteren Österreich eine gewisse Scheu, die gefühlsmäßige Abneigung gegen alles allzu Stramme und Organisierte. Man wartete ab und hatte lieber Butter und Rahm statt Ehre und Ruhm – so sah das wenigstens vorläufig aus; denn die eigentlichen Scharfmacher und Ambitionisten, die sich vom Nationalsozialismus Karriere und Macht versprachen, mußten, ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo sie unter dem Schutz der freiesten Demokratie jahrelang gegen diese toben und hetzen konnten, hier noch ein geheimes Verschwörer- und Konspiranten-Dasein führen. Oder sie waren über die Grenze gegangen und standen dort, ohne daß man viel davon erfuhr, als ›österreichische Legion‹ zum Überfall bereit. In Henndorf selber und den ländlichen Nachbargemeinden gab es wenig Verräter, Unzufriedene, Neidische – und genau unter diesen, nirgends anders, hatte man die Träger der ›nationalen Freiheitsbewegung‹ zu suchen. Natürlich kannte man fast jeden, der dazugehörte: in der engen Gemeinschaft eines Dorfs und des bäuerlichen Lebens spiegelte sich deutlich die Entwicklung und die Struktur der ›völkischen Erhebung‹. Da war der Käserei-Besitzer, ein ehrgeiziger, engstirniger Bursche, aus dem Allgäu stammend, der sich ärgerte, daß man ihn nicht als richtigen Fabrikanten oder Wirtschaftsführer betrachtete, wie ihm das im Zug des ›deutschen Aufschwungs‹ vielleicht zugefallen wäre. Er gab sich im Dorf jovial und haßte alles, was ihm an Bildung, Niveau, Erziehung überlegen war. Da war ein mittelstarker Bauer, der auf seinen Schwager, den Bürgermeister, eifersüchtig war, davon träumte, ihn abzusetzen und selbst als Erbhofbauer, wie man das ›draußen‹ nannte, die führende Rolle zu spielen. Da war der Aufseher der Schwimmanstalt am See, zweiter Sohn eines Großbauern, verärgert, weil er nicht Haupterbe war, arbeitsscheu, versoffen, streitsüchtig – ein rechter Fallott, wie es dort heißt – und noch dazu durch einen kleinen Beinschaden in seiner Selbstachtung gekränkt. Seinen Posten als Bademeister hatte er wegen Unzuverlässigkeit bald verloren, dann wurde er eingesperrt, weil er seine Invalidenrente doppelt erhoben hatte, und von da an lebte er ganz der ›Bewegung‹. Denn sie verhieß ihm Rache und unbeschränkte, aber gesetzlich untermauerte Gewalt: genau der Typus, aus dem sich die berüchtigten KZ-Schinder rekrutierten, und den man, wenn man ihn sucht und sammelt, in jedem Land finden kann.
Der Antisemitismus war natürlich der raffinierteste, weil wirksamste psychologische Schachzug der Nationalsozialisten, an den ihre Führer und Wegbereiter aber auch wirklich glaubten: denn man bilde sich nicht ein, daß je eine Propaganda Erfolg habe, von der ihre Initiatoren nicht selbst überzeugt sind. Alle politischen Extremisten meinen das, was sie sagen und herausschreien – ob rechts oder links –, sie werden auch immer das ausführen, was sie in ihren wildesten Proklamationen verkündet haben; denn wenn sie das nur zum Zweck des Stimmenfangs oder aus purer politischer Berechnung täten, würden sie niemals die Massen fanatisieren und mitreißen: das ist eine Lehre, die wir in peinlichen Lektionen gelernt haben.
Auch die ›Rassentheorie‹, völlig verblödet in einem Reich, dessen élan vital ebenso wie seine Nobilität der fortgesetzten Durchdringung des deutschen Elements mit slawischen, magyarischen, romanischen, sogar asiatischen Völkerschaften entsprang (um nur die Hauptgruppen zu nennen), auch die Rassenlehre und damit der Antisemitismus, obwohl es beiderlei Unfug auch in anderen Völkern gibt, hatten ihren Motor im alten Österreich, wo der unverzeihliche Herr Schönerer, ein Scharlatan auf jedem Gebiet, ihm eine vulgärpolitische Basis geschaffen hatte, etwa zur selben Zeit, in der – gleichfalls in Österreich – Theodor Herzl den Zionismus geistig fundierte. Im Bauernland des westlichen Österreich aber, ganz im Gegensatz zu Wien und den östlichen Grenzländern, kannte man keine oder fast keine Juden. Sie waren dort nicht, wie in Deutschland, zu einem Ferment des wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Lebens geworden, und soweit sie es vielleicht doch waren, nahm man keine Notiz davon, und es spielte in der Öffentlichkeit keine Rolle. ›Der Jud‹ war etwas, wovon man in Märchenbüchern gelesen hatte, wie vom Zauberer und von der Hexe. »Is der Schuschnigg a Jud?« fragte mich einmal einer der ›Waldbauern‹, die einige Kilometer oberhalb Henndorfs am Fuß oder in den Tälern der bewaldeten Bergzüge ihre abgelegenen Höfe hatten und die ich auf meinen Wanderungen gern besuchte. »Warum glaubst du das?« fragte ich zurück. »Weil die Hütler« – so nannte man dort, vereinfachend, die Nazis –, »weil die Hütler so auf ihm herumschimpfen.« Ich erklärte ihm, daß der Schuschnigg kein Jud sei, sondern ein Katholik wie er selber. Er schien beruhigt. Aber dann grübelte er weiter: »San die Juden wirklich so schlimm?« Ich beruhigte ihn auch darüber. »Aa’mol«, sagte er nachdenklich, »aa’mol möcht i an sehn.«
Daß die Leute, die im Salzburger Festspielsommer so schön Theater spielten und Musik machten, zum Teil Juden waren und die zahlungskräftigen Fremden, die sie damit ins Land lockten, teilweise auch, interessierte keinen Menschen dort auf dem Land. Aber der propagierte Antisemitismus tat seine Wirkung, indem er jedem Trottel den Genuß verschaffte, jemanden ›unter ihm‹ zu verachten. Da gab es den schiefen Anderl, einen etwas verwachsenen, halbidiotischen Metzgerburschen, mit Sabbermaul, Rinnaugen und einer impotenten Lüsternheit: er kletterte an Häuserwänden hoch, um Liebesleute bei ihrer nächtlichen Zärtlichkeit zu belauschen oder durchs Fenster den Blick auf eine halbnackte Magd zu erhaschen. Der durfte sich jetzt als eine bessere Sorte Mensch, eine ›edlere Rasse‹ empfinden als Max Reinhardt, Bruno Walter oder Stefan Zweig. So fraß das langsam um sich und verbreitete sich wie eine heimliche Seuche, ohne daß wir selbst viel davon bemerkten. Im Gegenteil: als nach dem Begräbnis des von einer Nazibande roh ermordeten Kanzlers Dollfuß in allen Städten Österreichs und auch auf dem Land draußen am Abend die elektrischen Lichter erloschen und in jedem Fenster brennende Kerzen...