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Als die deutschen Truppen am 14. Juni 1940 in Paris einmarschieren, verläßt Rachel Cheigham auf einem Lastwagen des »Petit Parisien« die Stadt. Die 23jährige Sportreporterin und ihre Kollegen von der Zeitung reihen sich ein in den unübersehbaren Strom von Flüchtlingen, die in Zügen, Autos, auf Fahrrädern und zu Fuß vor den eindringenden Deutschen Richtung Westen und Süden flüchten.[1] Die siegreiche Wehrmacht triumphiert über eine quasi leere Hauptstadt: Nur noch ein Drittel der Bevölkerung ist in Paris geblieben. Die Familie Bendavid wohnt in einem Außenbezirk und sieht erst einmal zu, wie die Kolonnen unter ihren Fenstern vorbeiziehen. »Da begriffen wir endlich«, erzählt Lucienne Pawlocki, geborene Bendavid, »und machten uns auch auf den Weg, zu Fuß, mit einem Kinderwagen und wenig Gepäck.«[2] Hélène Taich ist zwar erst 20 Jahre alt, aber bereits ein erfahrener Flüchtling. Sie schließt sich erst dem Exodus an, kehrt dann aber nach Paris zurück.[3] Als Aktivistin der sozialistischen Schülerbewegung hatte sie bereits mit 16 Jahren in Rumänien im Gefängnis gesessen, ein Leben als Illegale unter der deutschen Besatzung ist ihr nicht so unvorstellbar wie der fast gleichaltrigen Vivette Hermann (später verheiratete Samuel), die aus »gutem« Hause stammt und sich im Sommer 1940 auf ihren Studienabschluß an der Sorbonne vorbereitet. Um sich ein wenig eigenes Geld zu verdienen, arbeitet sie als Aushilfserzieherin in einem Internat in Vannel, nicht weit von Paris. Als sich die deutschen Truppen der Hauptstadt nähern, hilft Vivette, die Schülerinnen und Schüler in den Süden zu evakuieren.[4]
Diese vier denkbar unterschiedlichen Frauen, Rachel, Lucienne, Hélène und Vivette, haben dreierlei gemeinsam. Sie alle sind Jüdinnen, sie sind die Töchter von Immigranten oder selbst nach Frankreich immigriert, und sie nehmen künftig alle am Widerstand teil.
Die jüdische Bevölkerung im Frankreich der späten 30er Jahre besteht aus vielen verschiedenen Gruppen und Gemeinden. Die französischen Juden stellen circa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung, die ausländischen und frisch naturalisierten Jüdinnen und Juden je ein weiteres Drittel. Das Gros der Immigrantinnen und Immigranten kommt aus den Ländern Osteuropas, und hier wieder vor allem aus Polen. Zwischen den beiden Gruppen besteht eine scharfe Kluft, sowohl in bezug auf ihre soziale Herkunft und Zusammensetzung als auch auf ihr Selbstverständnis.[5] Die jüdischen Immigranten machten zwischen sieben Prozent[6] und fünf Prozent[7] der etwa drei Millionen Ausländer aus, die in den 30er Jahren in Frankreich lebten. Im Frankreich des Jahres 1940 machen die etwa 330000 ausländischen Juden unter den 43 Millionen Einwohnern noch nicht einmal ganze 0,4 Prozent aus. Dennoch stellen sie das bevorzugte Objekt der ausländerfeindlichen Propaganda dar.[8] Während die Immigranten in der jüdischen Gemeinschaft der Vorkriegszeit weder in politischer noch gesellschaftlicher Hinsicht eine Rolle spielten, bilden sie die große Mehrheit der Organisatorinnen und Organisatoren und aktiven Mitglieder des späteren Widerstands. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.
»Der französische Jude des 20. Jahrhunderts betrachtet das jüdische Problem als gelöst und beschränkt seine jüdische Identität auf zwei Aspekte: den konfessionellen und den philanthropischen. Eine schwache Minderheit schließt sich zionistischen oder prozionistischen Bewegungen an, indem sie die Notwendigkeit der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina für die ausländischen Juden anerkennt.«[9] So beschreibt der spätere Mitbegründer der zionistischen Armée juive das Selbstverständnis der alteingesessenen französischen Juden. Der – typisierte – französische Jude war seit 1791 emanzipiert, er begriff sich als gleichwertigen Staatsbürger, die Religion war seine Privatsache. Er lebte in einer Großstadt oder der Hauptstadt und gehörte dem Bürgertum an, manchmal dem Großbürgertum. Er war als Kaufmann tätig und in den freien Berufen. Viele jüdische Familien waren während der deutschen Besatzung im Krieg von 1870 aus dem Elsaß und aus Lothringen nach Zentralfrankreich, vorzugsweise nach Paris, geflüchtet – und hatten somit ihren Patriotismus demonstriert. Das Consistoire central (die Generalvertretung der französischen Israeliten) vertrat die französischen Juden, die sich selbst nicht als Juden, sondern als Israeliten bezeichneten, gegenüber den staatlichen Autoritäten. Viele französische Jüdinnen und Juden engagierten sich in Wohltätigkeitsvereinen, vor allem die Frauen, für die diese Beschäftigung eine Möglichkeit war, sich gesellschaftlich zu betätigen.[10] Die Beziehung der französischen Juden zu den jüdischen Immigranten bestand vor allem in Wohltätigkeit und der Angst, sie könnten zu viele werden und damit ihren eigenen Status gefährden.[11] Yvette Bernard Farnoux, die aus einer alteingesessenen teils Elsässer, teils Pariser Familie stammt, beschreibt auf dem Pariser Symposion über »Die Juden in Widerstand und in der Befreiung« selbstironisch die patriotische Atmosphäre, in der sie aufwuchs: »Der familiäre Nationalismus war so stark, daß es mir als Kind fast als ein Makel erschien, nicht französisch zu sein. Mir schien, ein schweizerisches oder englisches Kind zum Beispiel könne nicht wirklich glücklich sein.«[12] An den Nationalfeiertagen schmückte Yvettes Familie ihre Wohnung, einschließlich der Fenster, mit den Nationalfarben, und Yvette mußte mit blau-weiß-roten Schleifen im Haar zur Schule gehen.[13]
Die jüdischen Immigranten aus Osteuropa oder zumindest ein großer Teil von ihnen bildeten das heute legendäre »Yiddischland«, eine Enklave jiddisch sprechender, meist ärmerer und proletarischer, oft politisch linksstehender Frauen und Männer, deren Aufenthaltsstatus seit den restriktiven Ausländergesetzen, die in den 30er Jahren erlassen wurden, zusehends prekär wurde. Viele von ihnen sprachen mehr schlecht als recht Französisch, und das mit einem starken Akzent. Sie mußten ständig um ihre Aufenthaltserlaubnis zittern, und ihre Arbeitsplätze waren nicht immer korrekt angemeldet. Sie lebten mehrheitlich in Paris, und hier vor allem im 10., 11., 18., 19. und 20. Arrondissement. Sie waren kleine Händler und Arbeiterinnen und Arbeiter in den »klassischen« Branchen Textil und Konfektion, Kürschnerei, Lederverarbeitung. Sie standen in enger Beziehung zu den Teilen der Familie, die in Polen geblieben waren, ein Foto der polnischen Großeltern hing in fast jedem Wohnzimmer (sofern ein Wohnzimmer vorhanden war). Sie lasen die jiddische Presse und engagierten sich in Kulturvereinen und Landsmannschaften. Sie begingen die jüdischen Feiertage, ein Teil von ihnen blieb fromm oder zumindest traditionell, einige lockerten ihre religiösen Bindungen im laizistischen und auf Assimilation bedachten Frankreich.[14] Ihre Verbindung zur französischen »Außenwelt« waren die Kinder. Die besuchten die öffentlichen Schulen (nur zwei Prozent der in Frankreich eingeschulten jüdischen Kinder gingen auf eine jiddische oder traditionell religiöse Schule[15]), sprachen Französisch und verkehrten auch mit nichtjüdischen Freundinnen und Schulkameraden. Diese Jungen und Mädchen schlossen sich, wenn sie aus den ärmeren Familien stammten und/oder aus Familien, die politisch auf Seiten der Linken aktiv waren, häufig den Jugendorganisationen der MOI (der Immigrantenorganisation der Kommunistischen Partei Frankreichs), dem Arbeitersportklub, YASK, und den Kulturvereinen des Bund (der sozialistischen jüdischen Arbeiterpartei) an.[16] Gehörten ihre Familien zum Bürgertum, war ihre Assimilation meist ausgeprägter als bei den Gleichaltrigen aus den Arbeitervierteln. Die Mädchen und Jungen aus, wenn auch ausländischem, so doch »gutem« Hause fühlten sich häufig als echte Französinnen und Franzosen und lehnten alles ab, was diese Identifikation in Frage stellte.[17]
Vivette Samuel, deren Eltern während des Ersten Weltkriegs aus Rußland eingewandert waren, litt als Mädchen unter dem »unfranzösischen« Verhalten ihrer Mutter. Rachel Spirt, Vivettes Mutter, hatte in Odessa Pädagogik studiert und war wohl eine typische Angehörige der Intelligenz. In Frankreich war sie, mit zwei Kindern, zu einem Hausfrauendasein gezwungen, das sie sich zu erleichtern suchte, indem sie sich für Literatur und Theater und vor allem für den modernen Tanz und die Schule von Isadora Duncan interessierte. Die kleine Vivette, die solche Extratouren nicht zu schätzen weiß, geht in Opposition zur Mutter: »Ich finde sie seltsam, so verschieden von den Müttern meiner Freundinnen, sie ist mir sicher zu wenig französisch.«[18] Sie ist der Tochter nicht nur zu wenig französisch, sondern auch entschieden zu jüdisch: »Sie erzählt uns Geschichten aus der Bibel, wo ich doch die Bücher der Comtesse de Ségur bevorzuge. (…) Ihre Originalität stört...