Prolog
Können wir die Welt verstehen?
Wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, die bereits Milliarden von Jahren existiert. Vom ersten Atemzug an versuchen wir, sie mit all unseren Sinnen zu erforschen und zu begreifen. Für viele endet dieses Bemühen bereits im Zuge des Erwachsenwerdens. Manche bleiben jedoch in den zahllosen Rätseln ein Leben lang gefangen – angetrieben von einer unstillbaren Neugierde, lassen sie nicht locker im Bestreben, die Welt zu verstehen, und haben es sogar zu ihrem Beruf gemacht. Für diese Spezies aus der Unterordnung der Trockennasenaffen, die dieses pathologische Verhalten an den Tag legt, hat man einen Fachbegriff eingeführt: Man nennt sie »Naturwissenschaftler«. Wie ausweglos sich ihr Unterfangen darstellt, wird offenbar, sobald man sich die Größenordnungen unserer Welt in Raum und Zeit vergegenwärtigt.
Das Universum entstand vor 13,82 Milliarden Jahren. Unser Planet hat stolze viereinhalb Milliarden davon miterlebt und zieht mit 30 Kilometern pro Sekunde seine Bahn um einen durchschnittlichen Stern, der wiederum mit 220 Kilometern pro Sekunde in einer Spiralgalaxie mit über hunderttausend Lichtjahren Ausdehnung unterwegs ist. Vermutlich sind Ihnen diese Zahlen bereits in einschlägigen Büchern oder Dokumentationen begegnet, und Sie waren davon wenig beeindruckt. Das ist nicht weiter verwunderlich, sind doch angesichts von Staatsverschuldungen in Billionenhöhe vormals »astronomisch große Zahlen« auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Deshalb möchte ich Sie bitten, mir bei einem Gedankenexperiment zu folgen. Stellen wir uns vor, wir würden einen Fußmarsch quer durch ganz Europa unternehmen, und für diese Wanderung hätten wir viereinhalb Milliarden Jahre Zeit. Wir beginnen am Cabo de São Vicente im Süden Portugals und laufen los in Richtung Hammerfest in Norwegen. Wie weit wären wir dann, zum Beispiel, nach tausend Jahren gekommen? Die verblüffende Antwort lautet: gerade mal einen Schritt weit. Mit anderen Worten: Wenn Sie alle tausend Jahre nur einen Schritt machen, sind Sie in viereinhalb Milliarden Jahren quer durch ganz Europa gelaufen. Für ein Lebewesen, das sich auf einer Zeitskala von etwa hundert Jahren bewegt, sind solche Dimensionen unvorstellbar.
Noch phantastischer wird es, wenn wir uns an den Raum heranwagen. Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Orange in Ihrer Hand halten, welche die Sonne symbolisiert, d.h., die Sonne mit ihren 1,4 Millionen Kilometern Durchmesser wäre so weit verkleinert, dass sie in Ihrer Hand Platz hätte. In diesem Maßstab wäre unser Heimatplanet vergleichbar mit einem Reiskorn, und die Entfernung zur Sonne betrüge zehn Meter. Näher an der Orange wären mit 3,8 Meter Abstand der Merkur und mit sieben Meter Distanz die Venus. Fünf Meter hinter dem Reiskorn würde die Marsbahn verlaufen, und unser gesamtes Planetensystem hätte etwa einen Kilometer Ausdehnung. Wo wäre in diesem Maßstab – gewissermaßen der Blick über den Gartenzaun zu unserem nächsten kosmischen Nachbarstern Proxima Centauri – die nächstgelegene Orange zu platzieren? Nun, sie würde maßstabsgetreu nicht mehr innerhalb Ihres Wohnorts, nicht innerhalb Ihres Bundeslands oder innerhalb Deutschlands, sondern weit hinter Moskau liegen. Einem Lichtjahr entspräche in dieser Analogie die Entfernung von München nach Berlin, und Proxima Centauri ist 4,25 Lichtjahre von uns entfernt. Wohlgemerkt, das ist unser allernächster Nachbar in den Weiten des Alls.
Wer sich das noch vorzustellen vermag, insbesondere die endlose Leere zwischen den Sternen, der kann sich an unserer Heimatgalaxie versuchen, der Milchstraße mit ihren mehreren hundert Milliarden Sternen. Diese Insel des Lichts in der endlosen Finsternis des Weltraums erstreckt sich bereits über hunderttausend Lichtjahre. Dabei versagt auch unser anschaulicher Orangen-Maßstab – spätestens bei den zweieinhalb Millionen Lichtjahren Entfernung zur nächsten Sterneninsel, der Andromeda-Galaxie. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es im Universum, nach aktueller kosmischer Volkszählung, einige hundert Milliarden Galaxien gibt.
Und diese Welt, mit unvorstellbaren Abgründen aus Raum und Zeit, wollen wir Trockennasenaffen verstehen, obwohl wir auf Skalen von Metern und Jahren auf einem Planeten leben, der mit vielfacher Geschwindigkeit einer Gewehrkugel durchs All rast? Ist das überhaupt möglich? Können wir diese Welt verstehen – zumindest ansatzweise? Fragen dieser Art fallen üblicherweise in den Aufgabenbereich der Philosophie. Einer ihrer bekanntesten Vertreter, Immanuel Kant, begann seine Kritik der reinen Vernunft mit der Feststellung: »Die menschliche Vernunft […] wird durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« Würde diese Aussage auch auf unsere Frage zutreffen, müssten wir konsequenterweise, kaum dass wir begonnen haben, auch schon wieder resigniert die Flinte ins Korn werfen. Viele Generationen von Wissenschaftlern haben sich jedoch anders entschieden, haben all ihr individuelles Können und ihre Begabung in die Waagschale geworfen, um sich einen Weg durch den scheinbar undurchdringlichen Erkenntnis-Dschungel zu bahnen. Man könnte ihr Tun auch mit einem Staffellauf vergleichen, wobei der Stab der Erkenntnis innerhalb einer Generation oft nur ein winzig kleines Stück weitergetragen werden konnte. In der Summe ist allerdings eine beträchtliche Strecke zurückgelegt worden, die wir in diesem Buch nachvollziehen wollen. Da uns dabei auch steilere Passagen erwarten, würde ich es eher eine Bergwanderung nennen, bei der wir beizeiten grandiose Ausblicke genießen werden – Blicke auf unsere Welt durch die Augen vieler außergewöhnlicher Menschen, allesamt Erstbesteiger auf ihrem jeweiligen Wegstück. Für diese Expedition zu den grundlegenden Theorien und Gesetzmäßigkeiten unseres Kosmos bedarf es natürlich eines erfahrenen Bergführers, und ich kenne niemanden, den ich dabei lieber an meiner Seite gehabt hätte, als meinen guten Freund Jörn Müller mit seiner fachlichen Kompetenz, seiner akribischen Arbeit am kleinsten Detail und seinem feinen didaktischen Gespür.
Gemeinsam werden wir Sie nach Kräften unterstützen auf diesem Weg zu den Stationen der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes, insbesondere an steilen oder ausgesetzten Passagen. Beginnend im Basislager der klassischen Mechanik und der Himmelsmechanik führt der Pfad über moderate Steigungen hinauf zu den ersten Anhöhen von Elektrodynamik, Atom-, Kern- und Teilchenphysik und von dort immer höher zu den Steilhängen von Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie, von Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie. Über den grandiosen Aussichtspunkt der Quantenelektrodynamik geht es weiter hinauf zu den Höhen der Quantenchromodynamik, Quantenflavourdynamik und zum Standardmodell, bis wir schließlich die Gipfelgruppe mit Eichsymmetrien, Vereinheitlichten Theorien, Supersymmetrie, Schleifenquantengravitation und Stringtheorien erreichen.
Leider ist der Weg, je höher wir kommen, nur noch mit festem Schuhwerk in Form von soliden mathematischen Grundlagen begehbar. Damit verlassen wir mit unserer Streckenführung die ausgetretenen Pfade der populärwissenschaftlichen Literatur, die üblicherweise diese Bereiche großräumig umgeht. Schlimmer noch: Einzelne Gipfel tauchen nicht einmal mehr im Tourenverzeichnis eines Physikstudiums auf.
Hoffentlich wird Stephen Hawking nicht recht behalten mit seiner Warnung, wonach jede Formel in einem Buch die Anzahl der Leserinnen und Leser halbiere. Diesbezüglich möchte ich mich bei den Studierenden der unterschiedlichsten Fachbereiche der Hochschule Landshut bedanken, die mit ihrem großen Interesse zum Erfolg der interdisziplinären Vorlesung »Können wir die Welt verstehen?« beigetragen haben. Ihre Begeisterung hat mich über mehrere Semester hinweg dazu ermutigt, die großen Theorien und Modelle der Naturwissenschaften in ihrer Klarheit und Schönheit für ein breiteres Publikum von Nichtphysikern so anschaulich wie möglich und mit dem nötigen Minimum an Mathematik zu formulieren – doch nie weiter vereinfacht, als es die korrekte wissenschaftliche Darstellung erlaubt.
Oft habe ich den Satz gelesen, die Mathematik sei die Sprache der Naturwissenschaften. Tatsächlich wird man damit ihrem Beitrag zum Verständnis bei weitem nicht gerecht. Denn sie liefert darüber hinaus noch einen entscheidenden Baustein, eine Methode von unschätzbarem Wert: den Beweis. Damit ist es möglich, Argumente und Aussagen nach wahr und falsch zu klassifizieren. Das mag auf den ersten Blick sehr formal und theoretisch klingen, doch genau diese Unterscheidung macht die Mathematik so wertvoll. Über all unserem Bemühen in den empirischen Wissenschaften schwebt stets das Damoklesschwert des sogenannten Rabenparadoxons. Es besagt, dass eine Hypothese durch Beobachtung stets nur auf Falschheit geprüft werden kann. Man kann bestenfalls zeigen, dass etwas nicht falsch ist – der Weg zur Wahrheit bleibt damit versperrt. Betrachten wir das Beispiel, dem das Paradoxon seinen Namen verdankt: Bei der Überprüfung der Hypothese »Alle Raben sind schwarz« können wir durch jede neue Beobachtung eines schwarzen Raben lediglich zeigen, dass sie bisher nicht falsch ist. Das macht sie aber nicht zu einer wahren Aussage, denn wir können nicht ausschließen, dass es irgendwo einen farbigen Raben gibt, den wir nur noch nicht gefunden haben. Umgekehrt genügt die Sichtung eines einzigen bunten Raben, um die Hypothese zu kippen, egal wie viele...