Einführung
Nehmen Sie doch einmal eine Karte zur Hand, die das Römische Reich zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung zeigt. Sind Sie nicht auch erstaunt, wie unglaublich groß es ist? Es reicht von Schottland bis nach Kuwait, von Portugal bis nach Armenien. Doch wie lebten die Leute damals? Welche Menschen begegneten einem in den Städten? Wie ist es den Römern nur gelungen, ein so gewaltiges Imperium zu schaffen und zahllose Völker und Siedlungen unter einer Herrschaft zu vereinen?
Genau das zu beantworten, ist das Ziel dieses Buches: Es will Sie mitnehmen auf eine lange Reise durch das Römische Reich, um Antworten auf ebendiese Fragen zu finden.
In dieser Hinsicht ist dieses Buch die Fortsetzung von Ein Tag im Alten Rom, in dem ich versucht habe, dem Leser den Alltag in der Hauptstadt des Römischen Reiches nahezubringen. Zu diesem Zweck sind wir dem Stundenzeiger gefolgt – an einem beliebigen Dienstag zur Zeit Kaiser Trajans.
Stellen Sie sich nun vor, wie Sie einen Tag später erwachen. Es ist Mittwoch und der Tag, an dem wir zu einer Reise durch das gesamte Weltreich aufbrechen. Wir werden die Atmosphäre verschiedener Orte atmen – den Duft in den Gassen des ägyptischen Alexandria, das Parfüm der Damen in Mailand. Wir werden die Schläge der Steinmetze in Athen hören, die bunten Schilde der römischen Soldaten blitzen sehen, die durch Germanien marschieren. Und wir werden staunen ob der Tätowierungen auf den Körpern der Barbaren im hohen Norden, in Schottland.
Doch was ist der rote Faden, der die Etappen unserer Reise verbindet? Als ich mir diese Frage stellte, kam mir die Idee mit der Münze. Einem Sesterz, genauer gesagt. Eine Münze wandert von Hand zu Hand und kann uns so – theoretisch wenigstens – im Verlaufe weniger Jahre (in diesem Fall drei) durch das ganze Imperium führen. Und: Unser Sesterz kennt keine Standesunterschiede. Wir werden die Menschen kennenlernen, die ihn entgegennehmen, ihr Gesicht, ihre Gefühle, ihre Welt, ihre Häuser, ihre Lebensart, ihre Eigenarten und Gewohnheiten. So folgen wir einem Legionär, einem Grundbesitzer, einem Sklaven, einem Arzt, der versucht, mit einer schwierigen Operation ein Kind zu retten. Wir werden einem Garum-Händler begegnen, der die von den Römern so heiß geliebte Würzsoße verkauft, einer Prostituierten, einer Sängerin, die bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer beinahe ertrinkt, einem Seemann und sogar einem Kaiser sowie vielen, vielen anderen.
Diese Reise hat sich so nie zugetragen, möglich wäre sie allerdings durchaus gewesen. Die Menschen, denen Sie begegnen werden, haben – mit wenigen Ausnahmen – in jener Zeit an jenen Orten gelebt. Sie trugen die Namen, die Sie hier lesen, und sie haben ihr Gewerbe tatsächlich ausgeübt. Diese Geschichte fußt auf langen Jahren der Forschung, in denen ich Inschriften auf Gräbern und Monumenten sowie alte Handschriften entzifferte. Von einigen dieser Menschen kennen wir sogar das Konterfei. Auf dem Umschlag finden Sie einige Porträts, die fast wie Fotos wirken. Sie wurden im ägyptischen Al-Fayyum von Archäologen entdeckt und stammen aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, ebender Zeit, in der unsere Reise stattfindet. Es handelt sich dabei um Porträts, die in Häusern hingen, bevor man sie auf Mumiensärgen befestigte. Diese Porträts inspirierten mich zu einigen der Charaktere unserer Geschichte.
Wie durch Zauberhand tauchen ihre antiken und doch vertrauten Gesichter in den Straßen einer Stadt auf, in den Winkeln eines Hafens, auf der Brücke eines Schiffs. Wir tauchen ein in ihre Welt und erhalten Einblick in ihre Kultur, in das Alltagsleben ihrer Epoche. Die Sprüche, die wir von ihnen hören, stammen von antiken Autoren: Martial, Juvenal, Ovid ...
Mein Ziel war es, ein möglichst lebensnahes Bild der Zeit, der Menschen und Orte zu zeichnen. Wenn es zum Beispiel in Leptis Magna, einem Ort in Nordafrika, zu Zeiten Trajans noch keine großen Thermen gab (weil sie erst unter Hadrian errichtet wurden), dann werden Sie sie im Stadtbild auch noch nicht sehen, wenn Sie unserem Sesterz auf seinem Weg folgen.
Mag die Handlung des Buches auch fiktiv sein, das Rohmaterial für die Beschreibung von Orten, des Klimas, von Gebäuden und Landschaften, die so dargestellt werden, wie die Römer sie zu ihrer Zeit sahen und erlebten, verdanke ich dem intensiven Studium antiker archäologischer wie schriftlicher Quellen. Für eventuelle Fehler möchte ich mich jetzt schon bei meinen Lesern entschuldigen.
Dieses Buch will seine Leser hineinversetzen in das Alltagsleben jener Zeit. Es will den Geschichts- und Archäologiebegeisterten jene Atmosphäre, jene Details bieten, die in Geschichtsbüchern gewöhnlich fehlen. Es hat den Anspruch, seine Leser den Geruch der Menge spüren zu lassen, den die Fans der Wagenrennen im Circus Maximus verströmten. Und Ihnen das Funkeln des Lichts auf den Sprossen römischer Fenster zu zeigen.
Da wir natürlich nicht alle Ereignisse jener Jahre kennen können (unsere Reise endet 117 n. Chr.), war es in manchen Fällen nötig, gewisse Anpassungen vorzunehmen. Mitunter geschah ein Ereignis nicht exakt zu dem Zeitpunkt, an dem ich es ansiedle. Doch solche Anpassungen gehorchen immer dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit: Besagtes Ereignis hätte auch zu diesem anderen Zeitpunkt stattfinden können.
Für dieses Buch habe ich mich auf die verschiedensten Quellen gestützt: zuallererst natürlich auf die Autoren der Antike. Dann auf die Erkenntnisse von Archäologen, die mir ihre Funde häufig auch in persönlichen Gesprächen erläuterten. Ergänzt wurde dieses Material durch zahlreiche Bücher und Aufsätze von Fachleuten über das Leben in jener Zeit. Da es mir de facto nicht möglich ist, alle Autoren aufzuzählen, möchte ich einen exemplarisch für alle nennen: Professor Lionel Casson, den großen Altphilologen, der die Reisewege der Antike erforschte.
Was also erwartet Sie in diesem Buch? Ein Blick hinter die Kulissen des Römischen Reiches.
Sie werden feststellen, dass die Welt der Römer in gewisser Weise unserer sehr ähnlich war. Rom hat die erste große Globalisierungswelle eingeleitet. Im ganzen Imperium zahlte man mit einer Währung. Es gab nur eine einzige Verkehrssprache (zusammen mit dem Griechischen, das im Orient gesprochen wurde). Fast alle Menschen konnten damals lesen, schreiben und rechnen. Das römische Recht galt im ganzen Imperium. Güter wurden von einem Ende des Reiches ans andere transportiert. Ob man nun in Alexandria, in London oder in Rom in der Taverne saß, man trank überall den gleichen gallischen Wein und verfeinerte das Mittagsmahl mit Olivenöl aus Spanien. Im Laden nebenan konnte man Tuniken kaufen, die aus ägyptischem Flachs genäht waren, den man in Rom zu Stoff gewebt hatte. (Geschieht heute nicht das Gleiche mit unseren T-Shirts?) Unterwegs konnte man sich in der Raststätte versorgen oder in einem Motel übernachten, genau wie heute. Man konnte sogar Fahrzeuge mieten, die in der nächsten Stadt wieder abgegeben wurden.
So erscheint vieles vertraut, wenn man sich auf eine Rundreise durchs Römische Reich begibt.
Sogar die Probleme ähneln den unseren: Die Scheidungsquote stieg, die Geburtenrate hingegen sank. Das Justizsystem brach unter der Last der anstehenden Prozesse zusammen. Es gab Korruptionsskandale und Herren, die sich aus der Staatskasse bedienten, indem sie Rechnungen für Arbeiten stellten, die nie ausgeführt wurden. Wenn eine bestimmte Holzart in Mode kam, führte dies in der Herkunftsregion zu rücksichtslosem Kahlschlag. Und man klagte über das »Zubetonieren« bestimmter Küstenabschnitte durch den Bau riesiger Villen mit ägyptisierendem Dekor. Die damalige Zeit hatte sogar ihren eigenen »Irakkrieg«! Der Einfall Trajans in Mesopotamien wurde sehr kontrovers diskutiert. Mesopotamien war ebenjene Region, in die Bushs »Koalition der Willigen« einmarschierte. Das hatte auch in der Antike militärische und geopolitische Probleme zur Folge, die unseren heutigen nicht unähnlich sind.
Beim Blick auf vergangene Jahrhunderte stellen wir immer wieder erstaunt fest, wie »modern« das Römische Reich mitunter wirkt. Woher das kommt? Nun, es ist nicht nur militärisch überlegen, sondern verfügt auch über herausragende Ingenieure, die Aquädukte, Thermen, Straßen und Städte mit einer perfekten Infrastruktur bauen.
Auch die Einzigartigkeit des alten Rom lässt uns aufhorchen: Tatsächlich hat keine andere Kultur, keine andere Zivilisation je wieder ein derartiges Reich geschaffen. Möglicherweise waren die alten Römer ja einfach ihrer Zeit voraus. Oder wir hinken hinterher ...
Die Reise, die Sie nun gleich antreten werden, spiegelt eine ungewöhnliche Epoche der römischen Geschichte wider. Zum ersten und gleichzeitig letzten Mal sind der Mittelmeerraum und die Länder nördlich der Alpen beziehungsweise Pyrenäen in einem Reich vereint. Dieser Zustand währte die ersten vier nachchristlichen Jahrhunderte: Es gab keine Grenzen, man konnte frei von einem Ende zum anderen reisen (und musste keine Piraten oder Wegelagerer fürchten). Bald darauf schließt sich die Klammer um diese außergewöhnliche Periode und sollte sich nie wieder öffnen.
Eine der Personen unserer Geschichte nämlich hat entscheidenden Einfluss auf ihren Verlauf: Trajan. Aus den Geschichtsbüchern erfährt man wenig über Kaiser Trajan. In Italien nennt niemand seinen Sohn nach ihm, obwohl es nicht wenige Cesares, Augustos, Constantinos und Alessandros gibt, ja sogar sein Nachfolger Hadrian (Adriano) ist als Namenspatron beliebt. Und doch war er es, unter dem das Römische Reich seine maximale Ausdehnung erreichte. Er schenkte ihm einen Wohlstand, einen...