Wir müssen reden
Seit fast zehn Jahren kümmert sich meine Mutter um meine Großeltern. Niemand hat sie gefragt, ob sie das will. Wie fast alle Familien haben wir zu lange geschwiegen.
Von Carolin Katschak
Es war nur eine Frage, die Mama dazu brachte, endlich zu reden. Über das, was sie seit Jahren im Stillen dachte. Eigentlich wollte ich nur wissen, wie es ist, die eigenen Eltern zu pflegen. Wie es sich anfühlt, mit 49 Jahren die Elternrolle zu übernehmen. Fast zwei Stunden lang redet Mama ununterbrochen. Und immer wieder fällt ein Satz: »Ich kann nicht mehr.« Doch diese vier Worte werden meine Großeltern nie hören. Die Einzige, die sie hört, bin ich, ihre Tochter. Und ich frage mich: Warum tut sie sich das an? Warum sagt sie nicht, dass sie nicht mehr kann? Und: Würde ich das Gleiche für sie tun?
Seit fast zehn Jahren pflegt meine Mutter Andrea meine Großeltern. Seitdem ist sie nicht mehr nur Tochter, sondern Putzfrau, Einkäuferin, Taxifahrerin, Sekretärin, Duschassistentin, Bankerin, Gärtnerin – und an manchen Tagen die einzige Person, mit der meine Großeltern Irmgard und Fritz sprechen.
Wir sitzen in Mamas Garten nahe Potsdam. Es ist Freitag, 19.30 Uhr, ich öffne eine Flasche Rosé. Mama, schlank, dunkelbraune Augen, ist müde. Vor gut einer halben Stunde ist sie nach Hause gekommen, vor 13 Stunden hat sie das Haus verlassen. Wie jeden Freitag war sie nach acht Stunden Arbeit noch bei meinen Großeltern, hat Getränke und Obst aus dem Keller geholt und auf die Küchenzeile gelegt, den Müll nach draußen gebracht, Oma geduscht.
Rund 75 Prozent der Menschen, die in Deutschland auf Pflege angewiesen sind, werden zu Hause versorgt. Zu 90 Prozent von Frauen: Ehefrauen, Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkelinnen. Die meisten von ihnen ertragen es stillschweigend. Mama ist eine von ihnen. »Ich fühle mich in der Pflicht«, sagt sie.
Statt offen und ehrlich über die Bedürfnisse, Probleme und Sorgen meiner Großeltern zu sprechen, schwieg die Familie. »Wir haben uns nie alle an einen Tisch gesetzt. Wir haben uns nie gefragt: Wer wohnt wie weit weg, und wer kann wie helfen?«, sagt Mama.
Meine Großeltern haben drei Kinder. Die jüngste Tochter lebt in Bayern. Sie hilft, wenn Mama Urlaub hat oder eine Pause braucht. Der Sohn meiner Großeltern wohnt ein paar Kilometer von ihnen entfernt. Doch wenn meine Großeltern oder Mama ihn nicht um Hilfe bitten, kommt er selten von allein.
Und dann ist da Mama. Sie ist einer dieser Menschen, die handeln, ohne dass man sie fragen muss. Wenn ihre Freundinnen sagen, sie wollen Heidelbeeren pflücken gehen, gründet meine Mutter eine WhatsApp-Gruppe namens Heidelbeeren, schreibt Datum, Abfahrtszeit und Treffpunkt in die Nachricht. Sie wartet nicht, bis man sie bittet, sie bietet an und kümmert sich. Stillschweigend.
Mama ist 49 Jahre alt, als sie das erste Mal zur Pflegekraft wird. Das war 2009. Mein älterer Bruder war längst ausgezogen und lebte in München, ich wohnte seit gut einem Jahr in einer WG in Berlin. »Gerade wenn du denkst, jetzt kannst du tief durchatmen und endlich mal an dich selbst denken, kommen die eigenen Eltern«, sagt Mama.
Mein Opa Fritz erlitt während einer Operation am Herzen mehrere Schlaganfälle. Der Sehnerv wurde beschädigt. All die Dinge, die er liebte, waren mit einem Mal Vergangenheit: lesen, Auto fahren, in der Garage basteln, am Computer arbeiten. Der Mann mit einem Doktortitel in Chemie, der stets der Herr des Hauses war und seine Kinder autoritär erzog, zog sich zurück. Er war 78. Bis heute spricht er nicht gern über diesen Wendepunkt in seinem Leben. Sein Zufluchtsort ist der Fernseher. Stundenlang sitzt er auf einem ockerfarbenen Ledersessel, gut einen Meter vom Fernsehtisch entfernt. Was und wie viel er tatsächlich erkennt, weiß niemand. Er sagt: »Umrisse«.
Meine Oma Irmgard war 81 Jahre alt, als ihr Mann zum Pflegefall wurde. Es war das erste Mal, dass sich Mama fragte, wie die beiden das allein schaffen wollten. Die Antwort meiner Großeltern: »Wir haben alles geregelt.« Doch außer dem Erbe war nichts geregelt.
Meine Großeltern gehören zu jener Generation der Kriegskinder, die zwischen 1927 und 1945 geboren wurden. Deren frühes Leben von Bomben, Tod, Flucht und Vertreibung bestimmt war. Sie gelten als eine Generation, die sich Gebrechlichkeit nicht eingestehen will und sich wehrt, wenn sie plötzlich abhängig wird.
Gut ein Jahr lang glaubten wir damals, dass sie es schaffen könnten, dass es Opa irgendwann wieder besser gehen würde, der Sehnerv sich erholt, Fritz vielleicht sogar wieder Auto fahren würde. Doch Opa blieb ein Pflegefall, bis heute.
Oma hielt an ihrem alten Leben fest. Sie war noch nicht bereit zuzugeben, dass ihr Ehemann eine Last war, dass der eigene Körper nicht mehr so konnte, wie sie es gern wollte. Sie gab weiter die perfekte Hausfrau. Sie putzte, wusch, kochte und ging einkaufen. Mähte nun auch noch den Rasen, schleppte Wasserflaschen, sprach mit Ärzten und Krankenkassen, füllte Formulare aus, zog meinem Großvater morgens die Thrombosestrümpfe an und nachmittags wieder aus. Bis er schließlich Pflegegrad 2 bekam.
Hilfe, die die Familie anbot, nahm sie nur widerwillig an. Ein Jahr lang hielt sie durch, dann kam sie an ihre Grenzen. Doch nicht sie sprach das laut aus, sondern Mama. Sie erinnert sich noch heute: »Ihr Körper baute ab, sie wurde immer dünner, sie vergaß Sachen. Das ging so nicht weiter.«
Meine Großeltern flohen immer noch vor der Realität. Nicht einmal ein Duschhocker sollte in ihrem Badezimmer stehen. Ihre Devise: »Es geht schon irgendwie.«
Wie groß die Belastung für Mama über die Jahre wurde, können meine Großeltern nur erahnen. »Mir tut Andrea schon leid. Jedes Mal opfert sie ja mindestens zwei Stunden ihrer Zeit«, sagt Oma. Opa sieht das anders. Er findet, es sei zu einem gewissen Grad die Aufgabe der Kinder, sich um die Eltern zu kümmern. Doch wo hört Fürsorge auf und fängt Aufopferung an?
Seine Worte an mich klingen wie eine Drohung: »Da kannst du dich schon mal auf was gefasst machen.«
Auf was, sehe ich bei meiner Mutter. Früher hätte ich gesagt, ich würde das Gleiche für sie tun. Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Mama will das auch nicht: »Ich würde nie von euch erwarten, dass ihr mich aufnehmt und pflegt.« Aber tut sie es wirklich nicht? Vielleicht hofft sie es, schweigend. Es wäre ihr nicht zu verdenken.
Wer offenbart schon gern seine Schwächen, gibt zu, wenn er Hilfe braucht, es allein nicht mehr schafft. Mama gehört zu einer Generation, die vor allem eines nicht will: ihren Kindern zur Last fallen. Und auch, wenn ich nicht weiß, ob ich eine solche Belastung über Jahre aushalten könnte, ob am Ende nicht sogar die Beziehung zu meiner Mutter darunter leiden würde, kann ich mir ebenso wenig wie sie vorstellen, die eigene Mutter mit allem allein zu lassen, sie in ein Pflegeheim zu bringen. Mit tattrigen Nachbarn, die jeden Morgen aufs Neue nach ihrem Namen fragen, und überarbeitetem Pflegepersonal. Vermutlich würde auch ich bis an meine Grenzen gehen, zurückstecken, so wie es Mama macht, seit ich klein bin.
Ich war schon immer ein Mamakind. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, fährt sie mit dem Auto zum Potsdamer Hauptbahnhof, wartet auf dem kleinen Parkplatz bei den Straßenbahnen, nur damit ich nicht mit dem Bus fahren muss. Wenn sie Erdbeermarmelade kocht, kocht sie immer auch ein paar Portionen ohne Fruchtstücke, nur für mich. Und jedes Jahr zum Nikolaus schickt sie mir und meinem Bruder ein Paket voller Schokolade, egal wie alt wir sind.
Mama und ich sehen uns mindestens einmal im Monat, fahren einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Mindestens zweimal die Woche telefonieren wir, erzählen einander, wie es uns geht, was wir fühlen. Mindestens eine Stunde lang. Immer sprechen wir dabei auch über Oma und Opa. Mal lässt Mama Dampf ab, mal nicht.
Das Verhältnis zu ihren Eltern war nicht so innig. »Nie habe ich mit Oma so zusammengesessen wie mit dir. Und mit ihr bei einem Glas Wein über Jungsfreundschaften oder so etwas gesprochen. Mit Opa schon gar nicht«, sagt sie. Früher hat Mama – die zwei Kinder allein großgezogen hat, in einem Vollzeitjob arbeitet, Haus und Garten pflegt – nach der Arbeit Freunde getroffen, ist ins Kino oder zum Frauensport gegangen. Doch dafür ist kaum noch Zeit.
Dreimal die Woche fährt sie nach der Arbeit zu ihren Eltern. Was wenig klingt, wird im Alltag und über die Jahre viel. »Am Freitag krauche ich nach Hause«, sagt sie. Aus gelegentlicher Unterstützung wurde Routine, eine Art unbezahlter Nebenjob. Statt Tochter zu sein, zuzuhören, sich Zeit zu nehmen und unterstützend zu wirken, wird Mama Teil einer »Maschinerie«, wie sie es nennt, »irgendwann funktioniert man nur noch«, sagt sie.
Dienstag, 16 Uhr, meine Großeltern sitzen in der Küche und warten auf ihre Tochter. Drei Tage sind vergangen, seitdem Mama bei ihnen war. Nur der Pflegedienst und der Essenslieferant waren am Wochenende da. Im Hintergrund blubbert die Kaffeemaschine. Als Mama die Tür aufschließt, bleiben meine Großeltern sitzen.
Routiniert gießt Oma erst Kaffeesahne, dann Kaffee in die Tasse meines Opas. Eine Frau, die mit den Jahren kleiner und zerbrechlicher wurde. Die weite, kurzärmlige, weiße Bluse verhüllt ihre schmale Taille. Die dünnen, sehnigen Unterarme verraten, dass ihr Körper 91 Jahre alt ist. Mama gießt sich Kaffee ein. Dann schreibt sie wie jeden Dienstag den Einkaufszettel, Oma diktiert, Mama fragt nach. Fast eine Stunde dauert es. Dann holt Mama Wasserflaschen aus dem Keller, fegt die Küche und verabschiedet sich.
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