1.
Wenn die Dunkelheit hereinbricht
Eine neue Wirklichkeit
Wie lange ist es her, dass der Mensch, mit dem Sie eine Herzensverbindung haben, die Ihr Leben wesentlich geprägt hat, Ihnen entrissen wurde? Vielleicht sind es erst wenige Tage, aber wohl eher einige Wochen oder Monate, denn vorher mag man gar nicht lesen. Alles ist noch sehr nahe, fühlt sich an, als wäre es gestern geschehen.
Einen geliebten Menschen zu verlieren, mit dem man tief zusammengehört, bedeutet einen unermesslichen Schmerz. Manchmal glaubt man, diesen nicht länger oder gar nicht aushalten zu können. Er ist so reißend, so brutal, so unerträglich, so gnadenlos und völlig unentrinnbar. Wir stürzen in eine unmessbare Tiefe. Wir trauern um den Verlorenen, aber wir trauern auch um uns selbst.
Es ist, wie wenn eine Lawine über unser Leben niedergegangen wäre, und wir sind versehrt, nackt und schutzlos zurückgeblieben, können nicht fassen, was passiert ist. Als seien wir in einem Albtraum gefangen, aus dem wir dringend aufwachen möchten, so fühlen wir uns. Manchmal sind wir innerlich ganz starr und leer. Dann wieder überflutet uns die Trauer mit großer Heftigkeit, ohne Ankündigung und ohne dass wir sie aufhalten könnten.
Die Tränen kommen, wann sie wollen, auch an Orten und in Momenten, in denen wir sie lieber zurückdrängen möchten: in einem Gespräch, am Bahnschalter, mitten in der Fußgängerzone oder in einem Geschäft. Wir erfahren, wie verletzlich wir sind.
Wir werden mit nie gekannten Ängsten konfrontiert.
Menschen, deren Trauer noch sehr »frisch« ist, klagen darüber, dass sie nicht mehr richtig denken, sich nicht mehr konzentrieren können. Es kann aber durchaus sein, dass Betroffene über längere Zeit »funktionieren« unter dem harten Zugriff des Gesollten, dass sie ihre Aufgaben – und was will nicht alles getan und geregelt sein, wenn ein Mensch gegangen ist – pflichtbewusst mechanisch erfüllen, ohne mit ihrem Inneren wirklich in Berührung zu sein, so als seien sie von einem verborgenen Uhrwerk gesteuert. Der Kontakt zu uns selbst geht verloren.
Die Sehnsucht nach Trost und Halt kann sich tief innen verbergen, aber sie kann auch spürbar nach außen treten und überwältigend groß sein.
Das kann sich bei Frauen und Männern zeigen, auch wenn Männer in der Regel anders trauern als Frauen. Männer flüchten zumeist in Aktivität und Sachlichkeit. Sie lassen ihre emotionale Befindlichkeit weniger nach außen dringen. Ich habe es aber durchaus auch erlebt, dass der eine oder andere von ihnen mir in großer Erschütterung, geschüttelt von heftigem Weinen, gegenübersaß. Öfter habe ich jedoch erlebt, dass Männer kühl und sachlich, fast emotionslos über ihren Verlust reden konnten und Trauer nicht zugelassen wurde. Bei Frauen ist dies eher selten der Fall.
Wir machen als Trauernde die Erfahrung, dass wir auf Menschen warten, auf Berührungen, auf einfühlsame Worte. Sie tun uns gut und doch müssen wir erfahren, dass nichts bis in die letzte Tiefe unserer Trauer hinab reicht. Trauer bedeutet immer auch ein letztes Stück Einsamkeit. Wir sind im Exil. Alles Heimatliche ist verloren, weil der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Nie mehr wird es werden, wie es vordem war.
Erfahren wir als Trauernde nicht alle dieses Getrenntsein von der »normalen« Welt? Jedes Mal wenn ein geliebter Mensch starb, war ich innerlich ganz fassungslos darüber, dass das Leben um mich herum seinen Gang ging, als wenn nichts geschehen wäre. Ich fühlte einen unheilbaren Riss zwischen der Welt um mich her und der meinen, die in Schmerz und Dunkel getaucht war. Diese ganz normale Welt, zu der ich doch auch gehört hatte, rückte in eine unerreichbare Ferne, mit der mich nichts mehr verband. Ihr Planet und der meine, der so kalt, fremd und unwirtlich war, hatten nichts miteinander zu tun. Das Leben hatte mich ausgestoßen.
Ich konnte es nicht fassen, wenn die Sonne draußen schien. Dieser unerträgliche Frühling, all das aufbrechende Leben! Welche ein Widerspruch! Die Harmlosigkeit und Freundlichkeit eines lichten Tages passten so gar nicht zu dem, was geschehen war. Wie konnte es sein, dass der Tag draußen so strahlend war und der liebste Mensch war nicht mehr am Leben, war nicht mehr Teil dieser Welt! Dunklen Tagen mit heftigen Regenschauern und Sturm fühlte ich mich näher, denn sie drückten aus, was in meinem Inneren vor sich ging.
Unfassbar
Dass ein Mensch, mit dem wir innerlich und äußerlich zusammengehören, mit dem wir tief verbunden sind, nicht mehr auf dieser Welt ist, ist immer, aber besonders dann so völlig unfassbar, wenn sein Tod unerwartet und sehr plötzlich über uns hereingebrochen ist. Wir waren unvorbereitet und ahnungslos und jetzt ist es, als sei von einem Augenblick zum anderen ein schweres Unwetter über uns niedergegangen, das keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen und eine tiefe Spur der Verwüstung in unserem Leben hinterlassen hat.
»Es ist nicht wahr, es darf nicht wahr sein!«, schreit die Verzweiflung in uns. Es ist unfassbar, dass wir bis ans Ende der Erde reisen könnten und dieser vertraute Mensch wäre nirgendwo mehr zu finden. Was würden wir nicht alles auf uns nehmen, wenn wir ihn nur irgendwo aufspüren könnten. Keine Reise wäre zu weit, keine Mühe zu viel, wenn wir nur zu ihm könnten. Und jetzt liegt sein Körper, der uns so lieb, so vertraut war, den wir so gerne berührt haben, in der Erde und zerfällt oder es ist nur noch Asche von ihm zurückgeblieben.
Es ist und bleibt ganz und gar unfassbar, dass wir die geliebte Stimme nie mehr hören sollen, dass das vertraute Lachen für immer verstummt ist, dass es nie mehr die Wärme einer gegenseitigen Umarmung geben wird, keine Begegnung unserer Augen und Hände, dass das Telefon schweigt und nie mehr sein Anruf kommen wird, dass die vertrauten Schritte im Gang nie mehr zu hören sein werden. Nie mehr werden wir auf dem Bahnsteig stehen in der freudigen Erwartung, dass der geliebte Mensch gleich aus dem Zug steigt und wir uns beglückt in die Arme fallen werden. Kein Brief wird mehr kommen, der die vertraute, unverwechselbare Handschrift trägt, das Klavier, das unser so geliebter Mensch so wunderbar zum Leben erwecken und beseelen konnte, wird stumm bleiben. Nie mehr werden wir dem anderen sein Lieblingsessen kochen, nie mehr eine Überraschung für ihn erdenken können, nie mehr uns gemeinsamen Erlebens erfreuen. Nie mehr werden wir seinen Kummer und seine Freuden teilen. Wie völlig unbegreiflich ist das! Unser Herzensmensch war doch gerade noch da. Es kann doch nicht sein, dass all die vertrauten Gegenstände, die zu ihm gehört haben und die doch letztlich total entbehrlich und ersetzbar sind, unangetastet sind und sie, die einzig Wichtige, er, der so Geliebte, ist für immer fort. Unbegreiflich ist es, ganz und gar unfassbar.
Unbegreiflich wird es bleiben, auch wenn unser Verstand die brutale Tatsache irgendwann zur Kenntnis genommen haben wird. Vielen von uns Betroffenen wird es so ergehen, dass wir lange unruhig auf der Suche bleiben. Wir erleben, dass uns von Ferne jemand entgegenkommt mit einer ähnlichen Statur, mit ähnlichem Aussehen, einer ähnlichen Frisur. Für den Bruchteil einer Sekunde schrecken wir zusammen: Ist sie das? Ist er das? Unmittelbar darauf holt uns die harte Realität erbarmungslos ein. Wir haben unsere Sehnsucht nach dem geliebten Menschen auf eine Fremde, einen Unbekannten übertragen. Unsere Seele sucht, ist voller Sehnsucht und Heimweh. Wie sollte sie dieses erbarmungslos brutale Niemehr, das unerträgliche Niewieder, das verzweifelte Ohnedich begreifen können. Sie kann es nicht, wird noch lange verzweifelt auf der Suche bleiben.
Kein Wort begleitet uns in der Erschütterung so intensiv, so nachhaltig wie das Wort Nein. Monatelang womöglich schütteln wir immer wieder ungläubig und fassungslos den Kopf, schreien und weinen wir es heraus: Nein! Nein! Nein! Es kann, es darf nicht sein! Die neue Wirklichkeit überfordert uns nicht nur, sie vernichtet, sie zerstört, was lebenswichtig und völlig unverzichtbar ist: die tiefe Verbundenheit mit dem Menschen unseres Herzens, das über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Wir und damit einen wesentlichen Teil von uns selbst, von unserem Lebenskern. Mit Entsetzen fragen wir uns, wie wir weiterleben sollen mit einer unzumutbaren, unfassbaren Tatsache, gegen die sich alles in uns sperrt.
Wir sind so trauermüde, dass wir am liebsten auch von dieser Welt gehen wollen.
Wohin?
Im Dunkel
der Trauernacht
suche ich dich,
das Herz voller Asche.
Ins Leere greift
meine tastende Hand.
Sie findet dich nicht.
Meine Stimme,
die dich rufen will,
ist erfroren.
Wohin bist du gegangen?
Antje Sabine Naegeli
Umziehen in ein anderes Leben
Wir sind aus der Bahn geworfen, fühlen uns innerlich und äußerlich verloren. Unser Dasein, wie es sich vor dem Verlust des geliebten Menschen gestaltete, wird nicht mehr zurückkehren.
Unser Leben ist auseinandergebrochen in ein Davor und ein Danach. Der Tod ist die große Zäsur. Eiskalt ist es geworden in unserem Lebenshaus, kahl und karg.
Wie tief reicht unsere Sehnsucht, der harten Gegenwart zu entfliehen und ins Gestern zurückzukehren, als der vertraute Mensch noch da war. Gerade weil wir innig miteinander verbunden waren, gerät unsere Identität ins Wanken. Eine der wesentlichen Gegebenheiten war doch, dass wir die Partnerin dieses Menschen waren, dass wir die Mutter dieser Tochter oder dieses Sohnes waren, dass wir selber Tochter der Mutter waren, die uns jetzt verlassen hat. Und wo...