Einleitung zum Lotos-Sūtra
Es besteht heute bei uns ein lebhaftes Interesse an den großen Religionen der Erde. Besonders der Dialog mit dem Buddhismus1ist in den letzten Jahren vorangeschritten, und der Zen-Buddhismus2 hat das Interesse weiter Kreise erweckt. Voraussetzung für eine Vertiefung des Dialogs mit dem Buddhismus in seiner breiten Fächerung ist eine zunehmende Kenntnis der buddhistischen Literatur.
So soll hier mit dem Lotos-Sūtra, wörtlich dem »Sūtra von der Lotosblume des wunderbaren Gesetzes« (skt. Saddharmapuṇḍarīka-Sūtra, chin. Miao fa lien hua ching, jap. Myo ōhō-renge-kyō), ein wichtiges Sūtra des Mahāyāna-Buddhismus (Buddhismus des Großen Fahrzeugs) vorgestellt werden. Das Lotos-Sūtra wird auch die »Bibel Ostasiens« genannt. »Niemand kann den Fernen Osten verstehen ohne einige Kenntnis der Lehren des Lotos-Sūtra, denn es ist die bedeutendste Schrift des Mahāyāna-Buddhismus, der sich über den ganzen Fernen Osten zieht«, schreibt Wing-tsit Chan.3
Das Lotos-Sūtra ist in Indien niedergeschrieben. Den Verfasser kennen wir nicht. Als Zeit der Abfassung werden die Jahrhunderte 200 vor bis 200 nach Christus angenommen.4 Der japanische Gelehrte Hajime Nakamura meint, dass der »Prototyp« des Sūtra im 1. Jh. n. Chr. abgefasst wurde und dass das Werk am Ende des 2. Jh. n. Chr. in der uns heute bekannten Form vorlag.5 Im Jahre 406 n. Chr. übersetzte der bekannte und bedeutende Mönch Kumārajīva (343– 413 n. Chr.) im Zuge eines großen Übersetzungswerkes des buddhistischen Kanons das Lotos-Sūtra aus dem Sanskrit ins Chinesische. Diese chinesische Übersetzung des Mönches Kumārajīva ist der Text, der in China und Japan benutzt wurde und der auch im heutigen Japan hochgeschätzt und gebraucht wird. Dieser chinesische Text ist in Japan der religiöse Grundtext für die Tendai-Schule, die Nichiren-Schule, 6 ferner die modernen buddhistischen Laienbewegungen Risshō-kōsei-kai (Gesellschaft zur Errichtung des wahren Glaubens und für Mitmenschlichkeit) und Sōkagakkai (Wertschaffende Gesellschaft). 7 Dieser chinesische Text Miao fa lien hua ching von Kumārajīva ist auch der Text, den ich hier zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übersetze.
Kumārajīva 8 wurde im Jahre 343 n. Chr. im zentralasiatischen Königreich Kucha geboren. Sein Vater war Inder, seine Mutter eine Prinzessin von Kucha. Nach Studien des Hīnayāna (Kleines Fahrzeug) wandte er sich ganz dem Mahāyāna (Großes Fahrzeug)-Buddhismus der Schule des Nagarjuna zu. Im Jahre 383 wurde Kucha von China unterworfen, wobei Kumārajīva als Kriegsgefangener genommen und achtzehn Jahre in der heutigen Provinz Kansu festgehalten wurde. Zu dieser Zeit hatte Kumārajīva Gelehrte, die Meister der chinesischen Sprache waren, um sich versammelt. Im Jahre 401 wurde Kumārajīva als Staatslehrer in der Hauptstadt Ch’ang-an empfangen. Der König versammelte für ihn all die buddhistischen Gelehrten seines Königreiches und richtete unter ihrer Mitarbeit ein großes Übersetzungsprojekt auf Regierungskosten ein. Diese Gelehrtengruppe unter der Leitung von Kumārajīva übersetzte u. a. das Prajñāpāramitā-Sūtra, das Vimalakīrtinirdeśa-Sūtra und eben das Saddharmapuṇḍarīka-Sūtra, d. h. das Lotos-Sūtra, ins Chinesische. Es gibt noch zwei Übersetzungen des Lotos-Sūtra ins Chinesische von Dharmarakṣa mit dem Titel Cheng fa hua ching aus dem Jahre 286 n. Chr. und von Jñānagupta und Dharmagupta mit dem Titel T’ien p’in miao fa lien hua ching aus dem Jahre 601 n. Chr. Aber die Übersetzung von Kumārajīva ist über alle Jahrhunderte hinweg in China und Japan als die autoritative 9 angesehen worden.
Zum besseren Verständnis des Lotos-Sūtra mit seinen achtundzwanzig Kapiteln in sieben Büchern (in der japanischen Ausgabe acht Bücher) hat schon früh T’ien-t’ai Ta Shih, einer der bedeutendsten buddhistischen Mönche in China (6. Jh. n. Chr.), das Werk in zwei große Teile eingeteilt: Chi men (jap. shakumon) und pen men (jap. hommon), d. h. die Lehre von der irdischen Erscheinung Buddhas (Kap. I–XIV) und die Lehre vom ursprünglichen Wesen Buddhas (Kap. XV–XXVIII). Der erste Teil bezieht sich auf den historischen Buddha Śākyamuni, der von circa 560–480 v. Chr. gelebt haben soll. Er war Prinz des Śākya-Clans. Von seiner Gemahlin Yaśodharā hatte er den Sohn Rāhula. An das üppige Leben im Palast, an Wohlergehen und an Saitenspiel, gewohnt, schlugen ihm die vier Begegnungen mit einem Bettelmönch, einem Kranken, einem Beerdigungszug und einem Alten eine tiefe innere Wunde und konfrontierten ihn mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Er verließ den Palast und rang in der Einsamkeit um die Erleuchtung des Lebensgrundes, bis ihm diese schließlich unter dem Feigenbaum nahe bei Gayā zuteilwurde. Danach lehrte er in einer Jüngerschar unter den Menschen über vierzig Jahre bis zu seinem Eingang ins Nirwana im Alter von etwa 80 Jahren. 10Das Lotos-Sūtra beginnt mit einer großartigen Szene: Buddha Śākyamuni predigt vor einer unübersehbaren Schar von Lebewesen, Bodhisattvas (die die Buddhaschaft erstreben, Heilige des Großen Fahrzeugs) aus allen Himmelsrichtungen, Arhats (Heilige des Kleinen Fahrzeugs), der vierfachen Gemeinde (Mönche, Nonnen, Laienanhänger und Laienanhängerinnen), Göttern, Menschen, Drachen und Tieren auf dem Geierspitzberg (Gṛdhrakūṭa). Buddha eröffnet mit einem Strahl aus der Locke weißen Haares zwischen den Augenbrauen alle Welten von der Hölle bis zum Himmel. Und die gesamte Gemeinde wartet voller Spannung auf etwas Unerhörtes, bis-her nie Geoffenbartes.
Der wichtigste Teil der Predigt ist das Kapitel II »Geschicklichkeit« (chin. Fang pien p’in, jap. Hōbenbon), in dem Buddha verkündet, dass alle Menschen ohne Ausnahme die Erlösung erlangen und Buddha werden können. Im Kapitel II zeigt Buddha Śākyamuni dies bei den Śrā akas (Zuhörer, Schüler Buddhas) und den Pratyeka-Buddhas (sie suchen die Erlösung nur für sich und teilen sie anderen nicht mit), im Kapitel XII, »Devadatta« (chin. T’i p’o ta to p’in, jap. Daibadattahon), an der Gestalt des Devadatta, des Vetters und Gegenspielers Buddhas, 11 der drei schwere Vergehen begangen hatte (Spaltung der Buddhagemeinde, Anschlag auf Buddhas Leben und Totschlag einer Nonne) und ein böser Mensch par excellence war. Buddha Śākyamuni nennt Devadatta im Kapitel XII seinen Meister in vergangener Zeit und prophezeit ihm, Tathāgata Devarā a (Himmelskönig) zu werden. Nach dem Beispiel Devadattas können also auch die Bösen, die gefehlt haben, auf Grund von Buddhas Erbarmen die Erlösung erlangen. Das ist das wunderbare Gesetz des Lotos-Sūtra. Im Kapitel XII wird an der Verwandlung der Tochter des Drachenkönigs gezeigt, dass auch die Frauen die Buddhaschaft erreichen können.
Im zweiten Teil des Lotos-Sūtra, der Lehre des ursprünglichen Wesens Buddhas (pen men, hommon), offenbart der Buddha Śākyamuni im Kapitel XVI, »Des Tathāgata Lebensdauer« (chin. Ju lai shou liang p’in, jap. Nyoraijuryōhon), den Urgrund seines Wesens, der irdisch-historische Dimensionen übersteigt: »Ihr alle hört die Wahrheit! (Hört) von der geheimen, geheimnisvollen, magisch durchdringenden Kraft des Tathāgata! Alle die Welten von Göttern (Devas), Menschen und Asuras, sie alle sagen, dass Buddha Śākya-muni jetzt den Palast der Familie der Śākya verlassen habe, nicht fern der Stadt Gayā auf dem Platz der Erleuchtung gesessen sei und die höchste vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Aber, ihr guten Söhne, seitdem ich in Wahrheit Buddha geworden bin, sind unermessliche, unbegrenzte Hunderte von Tausenden von Zehntausenden von Koṭis von Nayutas von Kalpas (Weltzeitalter) vergangen.« In Kapitel XVI wird geoffenbart, dass Buddhas Leben unermesslich, unbegrenzt ist. Es ist eine »Überhöhung des geschichtlichen Śākyamunis ins Übermenschliche«. 12 Buddha wird zum kosmischen Prinzip aller Wirklichkeit. »Der Buddha ist die Wahrheit des Universums, d. h. das fundamentale Prinzip oder die fundamentale Macht, die Ursache des Lebens und aller Bewegung der Erscheinungen des Universums, einschließlich der Sonne und anderer Sterne, der Menschen, Tiere und Pflanzen usw. Deshalb hat der Buddha überall im Universum seit seinem Anfang existiert. Dieser Buddha wird der ›Ursprüngliche Buddha‹ (jap. hombutsu) genannt«, schreibt Nikkyō Niwano, 13 der Präsident der Rissh ō kōsei-kai.
Der überzeitliche, transzendente Buddha ist die große Erlösergestalt für die Menschen. Buddha selbst zeigt sich im Lotos-Sūtra als Vater, der sich um die Menschen wie um seine Kinder sorgt und sie retten will. Wie Jesus gebraucht auch Buddha Gleichnisse, um den Menschen seine Lehre nahezubringen.
»Wisse, Kāś apa!
Mit verschiedenen Karma-Erzählungen
Und vielerlei Gleichnissen
Eröffne und zeige ich den Buddha-Weg«,
sagt Buddha Śākyamuni gegen Ende des Kapitels V »Das Gleichnis von den Kräutern« (chin. Yo ts’ao yü p’in, jap. Yakusōyuhon). Da ist das »Gleichnis vom brennenden Haus« (Kap. III »Ein Gleichnis«, chin. P’i yü p’in, jap. Hiyuhon), das darstellt, dass die Menschen, die in Leidenschaft (Brand) verstrickt sind, durch Buddhas Kraft in ein neues Leben geholt werden können. Buddha ist der Vater, der die im brennenden Haus spielenden Kinder durch verlockendes Versprechen herausholt und rettet. Kapitel IV, »Erkenntnis durch den Glauben« (chin. Shin chiai p’in, jap. Shingehon), enthält das »Gleichnis vom verlorenen Sohn«. Man kann...