[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
II. IN DER MITTE DER JUGEND
Im August 1945 zog meine Familie wieder nach Ulm zurück. Ich schrieb schon, dass sich mein Vater – für mich bis heute unerklärlich – vom Westen bis zu uns nach Berghülen durchgeschlagen hatte. Er war am Oberrhein hinter der Front als Kraftfahrer eingesetzt gewesen. Nun fanden wir vier zwei Zimmer in der Ulmer Friedenstraße in der Wohnung eines alten Notars. Wieder gab es keine eigene Küche, kein eigenes Bad, kein eigenes Klo, keinen eigenen Keller. Das Notars-Ehepaar war nobel, wir kamen mit einigen Schrammen zurecht. Damals ging ich jeden freien Nachmittag zum Justizgebäude, wo meine Großeltern hatten wohnen bleiben können. Auch mein Pate (Döte) Friedrich Witzemann war früh aus der Gefangenschaft im Allgäu entlassen worden und wohnte jetzt mit den Großeltern zusammen.
Bald gruben wir Ziegelsteine aus den Ruinen. Ich musste zu einem Friseur, der wirklich nett war, aber längst vor meinen Haaren kapituliert hatte – ich musste deshalb hin, weil er uns Bauholz vermittelte. Stück für Stück wurde unser verbranntes Haus geräumt und wieder aufgebaut. 1947 konnten wir dorthin zurückkehren. Nach der vierten Klasse der Grundschule kam nun die Frage auf meine Eltern zu: Wie sollte es schulisch weitergehen? Meine Mutter sprach sich nachdrücklich fürs Gymnasium aus, und zwar fürs humanistische, und mein Vater stimmte zu.
Damals war unser altbekanntes Ulmer humanistisches Gymnasium noch im Standortlazarett auf dem Michelsberg untergebracht. Fast alle Lehrer waren im Krieg gewesen. Im Rückblick fällt mir auf, dass sie doch verhältnismäßig wenig vom Krieg erzählten. Wiederaufbau hieß das Ziel aller, und Deutschland strebte mit einer unbändigen Lebenskraft danach, das Chaos hinter sich zu lassen. Die traumatischen Spuren des Krieges an der »Heimatfront« verloren sich nach und nach. Sie wurden auch bewusst verdrängt. Einzelnes ging mir bis in die Gymnasialzeit nach. Ich sehe noch den Lehrer, der uns in Berghülen im zweiten Schuljahr unterrichtete, Herrn Ohngemach, auf einen Lastwagen klettern. Amerikanische Soldaten hielten ihre Gewehre im Anschlag. Als Bessarabien-Deutscher wurde Herr Ohngemach an die Russen ausgeliefert. Überlebt hat er diese Auslieferung wohl kaum.
Die andere Seite Amerikas enthüllte sich bei den täglichen Schülerspeisungen. Wir brachten unsere Geschirre mit, die auf dem ganzen Weg klapperten, und in jeder großen Pause erhielten wir Milchbrei oder Ähnliches. Gestiftet wurde dies von den Quäkern und andern religiösen Gruppen Amerikas. Wer in jener eklatanten Hungerzeit an solchen Schülerspeisungen teilnahm, konnte den antiamerikanischen Hass, der später Teile der deutschen Gesellschaft erfasste, nicht mehr unterstützen. Im Rückblick erstaunt mich die völlige Gegensätzlichkeit der amerikanischen Gesellschaft: hier das christliche Mitleid in den Schülerspeisungen und dort der Morgenthau-Plan, der auf die Versklavung der Deutschen zielte. Vielleicht müssen wir auch in Zukunft viel nüchterner mit der Gegensätzlichkeit Amerikas rechnen.
In der zweiten Klasse des Gymnasiums bekam ich die einzige Tatze meiner Schulzeit. Mein Nachbar in der Klasse hatte mich provoziert, sodass ich nicht mehr aufpasste. Meine Eltern waren befriedigt, dass der Klassenlehrer seine Sanktion verhängt hatte. Es war damals ein festes Gesetz, dass die Eltern die Lehrer stützten. Das hat mir eine weitere Begebenheit klargemacht. In derselben Klasse begann die Fußballbegeisterung. Während der großen Pause spielten wir einmal so leidenschaftlich, dass wir gemeinsam das Pausenzeichen überhörten. Das heißt, wir hörten es, gingen aber nicht nach oben. Unser Fräulein Weintraut – so sagte man damals noch – rief uns aus dem Fenster zu, wir sollten heraufkommen. Sie war schmächtig, klein und wirkte bei aller spürbaren Liebe zu ihrem Beruf schüchtern. Wir reagierten nicht auf ihr Rufen. Zu Hause erzählte ich meiner Mutter den Vorfall. Am Nachmittag nahm sie mich bei der Hand, ging mit mir den langen Weg zur Wohnung der Lehrerin. Glücklicherweise war diese zu Hause. Ich musste mich bei ihr entschuldigen, und sie akzeptierte sehr freundlich meine Entschuldigung. Ich war überaus erleichtert. Der Vorfall war eine Art Urtypus von Buße und Vergebung.
Am Ende des Schuljahres erhielt ich zu meiner eigenen Überraschung den ersten Preis. Ich durfte mir ein Buch wählen und wünschte mir einen Karl May. Meine Familie war davon nicht begeistert, auch mein Klassenlehrer, Herr Pfund, richtete einige merkwürdige Sätze an mich. Ich ließ mich aber nicht beirren. Bis heute bin ich überzeugt, dass Karl Mays Bücher zum Frömmsten der deutschen Literatur gehören. Für mich wirkt er geradezu missionarisch. Solche Gesichtspunkte hatte ich damals allerdings noch nicht.
Was weiß ich noch von meiner Konfirmation? Der Unterricht in der Ulmer Pauluskirche enthielt auf jeden Fall zwei spannende Elemente. Das war der Weg zur Pauluskirche und dann der Weg von dort wieder zurück ins Lehrertal. Beide Wege, je circa 2 Kilometer, legten wir im Dauerlauf zurück. Damals entwickelte ich mein Faible für die Langstrecken. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich in Sport nur mittelmäßig war. Höhepunkte waren meine Hörsaal-Meisterschaft über 5 000 Meter an der Heeres-Offiziersschule in Husum und die Teilnahme an den Kreismeisterschaften über 10 000 Meter in Tübingen. Im Konfirmandenunterricht fand ich es »unter aller Kanone«, wie eine große Gruppe der Konfirmanden mit unserem gutmütigen Pfarrer umging. Von dem, was er sagte, weiß ich nichts mehr. Ich war nur froh, dass ich bei der Konfirmationsfeier ganze sieben Worte aufsagen musste: »Seht zu, tut rechtschaffene Früchte der Buße« (Matthäus 3,8; Luther 1912). Heute heißt der Spruch anders, was mich aber wenig anficht. Damals veränderte man auch das Vaterunser: Aus »erlöse uns von dem Übel« wurde »erlöse uns von dem Bösen«. Im Laufe der Zeit würde das Apostolische Glaubensbekenntnis folgen. Wie viele Bibelübersetzungen, wie viele Evangelische Gesangbücher ich im Laufe meines Lebens in den Händen gehalten habe, müsste ich erst recherchieren.
Der Grund solcher Änderungen interessierte uns Konfirmanden nicht, wir taxierten sie wie Änderungen der Schulordnung. Doch tief in der Seele lernten wir, dass das Christentum keine feststehenden Texte, keine feststehenden Glaubensbekenntnisse und kaum einen eisernen Liedschatz hat. Zum Positiven der Konfirmandenzeit gehört, dass sich manche lang dauernden Freundschaften bildeten, sogar solche, die über Jahrzehnte hielten. Ein Freund aus jener Zeit ist für mich Jörg Dauner gewesen. Jörg und sein Bruder lebten bei ihren Großeltern im Lehrertal.
Eltern hatten sie keine mehr. Jörgs Vater war Architekt gewesen. Er arbeitete bei einer Firma, die am KZ-Bau in Dachau beteiligt war. Voll Entsetzen erzählte er unter Bekannten vom entstehenden KZ. Das erfuhren die Nazis. Sie brachten ihn selbst ins KZ, wo er starb. Bald darauf starb auch die Mutter. Uns alle in der Siedlung packte die Angst, etwas zu sagen, was dann auch uns ins KZ brächte. Wenn heute so lauthals geschrien wird, dass die deutsche Bevölkerung sich gegen die Nazis deutlicher hätte erheben müssen, denke ich an Jörgs Familie. Und ich denke bei mir selbst: Wer heute so laut schreit, hätte am sichersten zu denen gehört, die damals kein Wort gesagt hätten.
In der Bibel liest man, dass Gott einzelnen Menschen nachgeht. Sein Wort in Hesekiel 34,11 ist geradezu Jesu Programm geworden: »Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.« Spuren dieses Suchens entdeckte ich später in jenen Jahren rund um die Konfirmation. So ging ich einige Jahre – oder nur Monate? – in die Kinderkirche. Ich habe keine Ahnung mehr, was dort besprochen wurde. Eins aber sehe ich vor mir, als wäre es heute Morgen gewesen: Ein kleiner dicker Mann stand vor der Tür, durch die wir strömen wollten. Die tobenden Eindringlinge konnten diesen Mann nicht wegschieben. Da stand er mit einem kreisrunden, dicken Gesicht, und dieses Gesicht war ein einziges strahlendes Lächeln. Herrn Thomanns Gesicht mit dem Lächeln, das sich über die Kinder freute, die zur Kinderkirche wollten, blieb mir ein Leben lang ein Symbol für eine Kirche, deren Wesen darin besteht, dass sie einlädt. Eine andere Spur führt mich zu den wenigen Abenden, die ich im CVJM der Ulmer Innenstadt verbrachte. Mein Klassenkamerad Eckhart Steger hatte mich während der vierten Grundschulklasse dazu überredet. Eine Hausaufgabe in jenem CVJM lautete, Psalm 23 auswendig zu lernen. Das fiel mir leicht, und ich bekam dafür ein Kärtchen. Seitdem habe ich Psalm 23 parat.
Innere Schwierigkeiten bereitete mir der Schülergottesdienst. Im Gymnasium hatte ich längere Zeit Gerhard Tempel zum Banknachbarn. Gerhard Tempel war später Oberkirchenrat in Hessen-Nassau. Sein Vater amtierte als Pfarrer in Wippingen. Der Geschwisterkreis war geradezu riesig: insgesamt zwölf. Die Familie stammte aus dem Baltikum. Der Krieg verschlug sie auf die Schwäbische Alb. Mehrere der Geschwister wurden Pfarrer, mit mehreren verblieb ich in Kontakt. Einer von ihnen machte sogar eine Lehre bei meinem Vater. Gerhard also lag mir ständig in den Ohren, ich müsste mit ihm in den Schülergottesdienst gehen. Ich sah das nicht ein und argumentierte, der sei freiwillig. Das ließ er nicht gelten. Ein Christ müsse zu seinem Gottesdienst. Gelegentlich ging ich dann um unsrer Freundschaft willen hin und ließ mich reichlich dafür loben. In einer tieferen Schicht blieb mir haften, wie treu Gerhard seiner Religion ergeben war. Später musste ich manchmal reflektieren, welche...