Ab durch die Häuser
Ich stehe am frühen Vormittag am Michaelerplatz und komme ins Schwitzen. Hier herrscht Hochbetrieb, wohin man auch schaut. Reisegruppen strömen in Richtung Hofburg mit ihren Museen, den kaiserlichen Wohn- und Prunkräumen, Schatzkammern und Sisi-Pilgerstätten. Vor mir liegt der elegante, stets überlaufene Kohlmarkt. Ein Fremdenführer steuert mit seiner Gruppe die Konditorei Demel an und macht seinen Gästen angesichts des sich dort auftuenden Mehlspeishimmels den Mund wässrig, mir auch. Links von mir das ehemalige Café Griensteidl, das zwischendurch Café Klimt hieß und demnächst zur Supermarktfiliale umgebaut werden soll – sehr zum Missfallen aller, die dort bis vor Kurzem noch die Aura von Karl Kraus oder Arthur Schnitzler zu erschnuppern versuchten. Ein vergebliches Unterfangen, da das Gebäude mit dem originalen Literatencafé schon vor über hundert Jahren abgerissen wurde. Ein paar Schritte sind es nur bis zum Café Central, ungefähr gleich viele zu den Lipizzanern, zum Heldenplatz, zum Graben – „abseits der Pfade“ ist hier auf den ersten Blick wenig, doch folgen Menschenströme weltweit verlässlich einem gewissen Herdentrieb. Ein paar Schritte von den Trampelpfaden entfernt hat man im Regelfall seine Ruhe, und die zu finden, ist das Ziel meines sommerlichen Vormittagsspaziergangs in der Innenstadt. Es ist tatsächlich nicht so schwer: Schon in der oft übersehenen Michaelerkirche am Rande des Gedränges herrscht fast meditative Stille. Dabei ist der Besuch überaus lohnend. Romanische Fresken, ein gotisches Kirchenschiff mit einigen erhaltenen Statuen, mittelalterliche und barocke Grabsteine – ein „Geheimer Kammerzahlmeister“ zeugt von der uralten Tradition skurriler Amtstitel –, schließlich noch der mit steinernem Barock-Schlagobers zugekleisterte Altarraum. Diese Kirche, die zu den ältesten der Stadt zählt, ist geradezu idealtypisch österreichisch: vielschichtig, leicht chaotisch und überhaupt nicht konsequent, aber gerade deshalb charmant.
Erzengel Michael mit der Seelenwaage – ein Fresko aus dem Jahr 1350
Die Konditorei Demel kommt mir wieder in den Sinn, die ihre Torten einst durch einen unterirdischen Gang an der Kirche vorbei direkt in die Hofburg lieferte. Die Wiener Keller, die bis zu vier Geschoße unter Straßenniveau reichen, und die dazwischen angelegten Verbindungsgänge sind Schauplätze vieler hiesiger urban legends und dienten natürlich nicht nur der Lagerung von Wein, der Lieferung von Torten oder – wie hier unter der Kirche – der Bestattung von Toten. Zu so mancher Liebschaft und auch zu so manchem Mordanschlag wäre es ohne sie wohl nicht gekommen. Viele dieser Gänge existieren noch heute, doch auch überirdisch kann man in der Inneren Stadt plötzlich mitten in einer Straße verschwinden, um in einer anderen wieder aufzutauchen: Die Wiener Durchhäuser mit ihren nach zwei Seiten hin offenen Höfen machen es möglich. Diese Passagen wurden hauptsächlich zum Abkürzen umständlicher Wege angelegt, sie bieten aber noch weitere Vorteile: Die oft liebevoll gestalteten Innenhöfe, die man auf diese Weise erkunden kann, lassen einen die Stadt und ihre Bewohner auf eine neue, persönlichere Weise kennenlernen. Immerhin betritt man ja Wohnhäuser, was jedoch nur funktionieren kann, solange sich die – im wahrsten Sinne des Wortes – Passanten entsprechend zu benehmen wissen. Und: Durch die Häuser zu gehen und dem Stadtplan ein Schnippchen zu schlagen, ist ein ganz legales, aber doch diebisches Vergnügen. Für meinen Spaziergang habe ich mir eine Liste der Durchhäuser der Inneren Stadt mitgenommen – den Link dazu finden Sie im Anschluss an das Kapitel. Manche davon kenne ich gut, andere möchte ich heute zum ersten Mal erkunden. Ein paar liegen zu weit weg von der Route, die mir vorschwebt – die bleiben Ihnen zur Entdeckung überlassen.
Unsere Tour durch die Häuser beginnt gleich rechts neben der Michaelerkirche, vor der sich die Fiaker inzwischen zu einer Art Korso formiert haben. Wer Trachtenmode nicht mag, muss jetzt kurz die Zähne zusammenbeißen – es hilft auch ein kurzer Gedanke an den brillanten Polemiker Anton Kuh und seinen Spott über die „Vermünchnerung des Wiener Bürgers“ zu der Zeit, als aus der unendlich weiten Donaumonarchie eine ziemlich enge Alpenrepublik wurde. Hinter einer Auslage voller Lederhosen beginnt am Michaelerplatz 6 jedenfalls eine romantische, kleine Passage, in der es außer älplerischem Allerlei auch schöne Antiquitätenläden gibt – nicht gerade ein Geheimtipp, aber dennoch reizvoll.
Vorbei am Café Bräunerhof, in dem Thomas Bernhard Stammgast war, gehe ich in die Dorotheergasse. Dort wartet das nächste Durchhaus – und was für eines: das Dorotheum, Wiens Pfandhaus, sozusagen das Epizentrum dieses an Antiquitätenläden reichen Viertels. In den Vitrinen des Palais werden demnächst zur Versteigerung kommende Diamantohrringe, Perlenketten und Armbanduhren präsentiert, dazwischen stehen nussfurnierte Biedermeierkästchen. Treppauf, treppab huschen Herren in dunklen Anzügen an mir vorbei.
Auf der anderen Seite des Antiquitätendurchhauses empfängt mich der Duft von frischem Brot: Vor ein paar Jahren hat in der Spiegelgasse die Bäckerei Gragger & Cie eröffnet, eine der wenigen „richtigen“ Wiener Bäckereien, in der nicht in einer Backstube weit draußen am Stadtrand, sondern an Ort und Stelle Brot gebacken wird – und das in einem mit Fichtenscheiten beheizten Holzofen. Heute gehe ich ausnahmsweise vorbei, in Richtung meines nächsten Ziels: ein Durchhaus zwischen Spiegel- und Seilergasse, das ich noch nicht kannte. Auf dem Weg dorthin bewundere ich gediegene Silberbestecke und Servierschüsseln. Preise stehen selten dabei, wahrscheinlich, um die Vorübergehenden nicht zu erschrecken. „Zum silbernen Brunnen“ heißt passenderweise ein spektakulär schönes Kaufhaus an der Ecke zur Plankengasse, das sich nicht so recht zwischen Jugendstil und Art déco entscheiden will. In der Spiegelgasse 5 befindet sich zwischen den Auslagen eine etwas nach hinten versetzte Tür. Hinein komme ich nicht: Ein dunkel gekleideter Security-Mitarbeiter des Juweliergeschäfts nebenan macht mir höflich, aber unmissverständlich klar, dass das hier kein Durchhaus ist. Jedenfalls keines, wo jeder durch kann. Die Liste ist offenbar nicht auf dem neuesten Stand, schade – die Graben-Fußgängerzone wollte ich eigentlich meiden, stürze mich aber nolens volens in den sommerlichen Trubel. Immerhin geht es an einer ungewöhnlichen H&M-Filiale vorbei, untergebracht im denkmalgeschützten Gebäude von Braun & Co, einst eines der elegantesten Modehäuser Österreich-Ungarns. Die Inneneinrichtung blieb erhalten, Sortiment und Publikum hätten sich nicht stärker verändern können.
Ich lasse mich im Schwarm mittreiben und lande auf dem Stephansplatz. Besonders vor dem Riesentor ist das ein unangenehmer Ort: Es herrscht Gedränge, als Mozart verkleidete Konzertkartenverkäufer nerven. Die in den neuen Bodenbelag eingelassenen stilisierten Kreuze vor dem Dom finde ich zwänglerisch, ein bisschen wie Pizzateller, auf denen „Pizza“ steht. Die Schlange vor dem Eingang bringt mich von der Idee ab, einen Blick in das 1906 von Adolf Loos zum „weihevollsten kirchenraum der welt“ erklärte Innere des Doms zu werfen. „Dieser raum erzählt uns unsere geschichte“, so Loos. „Alle generationen haben daran mitgearbeitet, alle in ihrer sprache.“ Schöner kann man es nicht sagen, doch Loos sollte auch auf traurige Weise Recht behalten: Nach der „Mitarbeit“ der übernächsten Generation war der Dom 1945 nur noch eine ausgebrannte Ruine mit zerstörter Inneneinrichtung, sein Wiederaufbau eine nationale Kraftanstrengung der noch jungen Zweiten Republik.
Ich bleibe also draußen und betrachte die Grabplatten mit ihren Ritterhelmen, Totenköpfen und schwer zu entziffernden Inschriften und das O5-Zeichen des Widerstands gegen die Nazis, heute hinter Glas. Ganz rechts ist eine kyrillische Inschrift der Roten Armee zu sehen, die die damalige Ruine für minenfrei erklärte. Schön sind die Farben des Sandsteins aus dem nahen Leithagebirge mit ihren unterschiedlichen Grau- und Ockertönen. Ein paar rötliche Steine erinnern mich an Straßburg, wenn auch die trutzige romanische Wehrhaftigkeit der Wiener Domfassade so gar nichts von der hochgotischen Leichtigkeit des Straßburger Münsters hat.
Vor dem Weitergehen werfe ich noch einen Blick nach oben, wo an den Spitzen der Doppelsäulen links und rechts vom Tor Skulpturen menschlicher Geschlechtsorgane die Fassade zieren. Gern wird darüber gerätselt, was sie auf einer christlichen Kirche zu suchen haben, doch so ungewöhnlich sind diese Skulpturen gar nicht: An romanischen Kirchen in Westeuropa sieht man des Öfteren wesentlich derbere Darstellungen menschlicher Genitalien, mitunter auch exhibitionistische, kopulierende oder masturbierende Figuren. Im Vergleich dazu wirken die Exemplare am Stephansdom recht mitteleuropäisch-brav. Ich gehe an...